heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler

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Название heute wirst du gehenbleiben
Автор произведения Gertraud Löffler
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749794089



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eigenen Geldvermehrungsthese im Eigenheim ihrer Eltern.

      „Im Arbeitszimmer meines Vaters, in dem er die meisten Stunden des Abends verlebt, brennen Energiesparlampen, die Centbeträge sparen, während er am Schreibtisch über Millionensummen entscheidet. Selbst das Schlafzimmer meiner Eltern unterliegt dem Gesetz der Kostenoptimierung! Hier im Brutkasten der Zukunft wurde ich gezeugt! Marie-Elise, ihr ganzer Stolz. Die wahre Schatztruhe des Hauses ist also mein Kinderzimmer. Bin ich.“

      Theatralisch legte sie ihre flache Hand auf die Brust. Aber die Pause währte nicht lange. So tief wie sie Luft holte, kündigten sich eindeutig mehr Details zu ihrem Familienleben an. Ihre Augen drückten völliges Unverständnis gegenüber der total verfahrenen häuslichen Situation aus.

      „Ständig heißt es, ´wenn du einmal die Firma übernimmst´ oder ´das brauchst du später, wenn du Verhandlungen führen musst´ oder ´den Überblick über die wirtschaftliche Lage muss man immer behalten, sonst wird man abgehängt.´ Ich kann solche Sätze schon nicht mehr hören! Immer denken sie nur daran, wie sie mich nach vorne schieben können. Ich erinnere mich noch daran, wie sie vor ein paar Jahren Plakate der Schultheateraufführung in der Stadt haben hängen sehen. Die nächsten Wochen waren ein Drama! Pausenlos löcherten sie mich, ich solle dort so schnell wie möglich auch mitmachen. Die Hauptrolle sei mir so sicher wie das Amen in der Kirche, bei meinem Talent. Und das war nicht alles. Selbst beim Tennis meldeten sie mich an, weil sie der Meinung waren, ich könnte Spitzenplätze erobern und Pokale gewinnen. Ohne mich vorher zu fragen! Fehlt nur noch die Solostimme im Chor! Ich will aber nicht dauernd nach ihrer Pfeife tanzen, ich will leben, verdammt noch mal!“

      Lizzy hielt inne. Sogar das streitende Paar am Nachbartisch war verstummt. Ihre Stimme war ohne Absicht immer lauter geworden. Ein paar Leute drehten sich erstaunt zu ihnen herum, um zu sehen, was los war. Lizzy schien davon unberührt, aber Martin fand die Situation peinlich. Wie sie beide hier saßen, mussten die Leute den Eindruck haben, die junge Frau gegenüber schimpfte über ihn. Er war es nicht gewohnt, zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden. Etwas betreten sah er auf den Tisch hinab. Der Kakao war fast leer und das zerrissene Plastikpapier der Schokobohne lag verloren neben dem Unterteller, wusste nicht, wohin es sich verkriechen sollte. Leer und übrig geblieben. Heimatlos wie dieses Mädchen, dachte Martin. Lizzy trank einen Schluck, während sein Blick noch eine Weile an dem Glanzpapier haftete. Endlich fanden die Gäste neben ihnen ihre Gesprächsfäden wieder und er sah zu Lizzy auf, nachdem sie leise den Fettanteil der Schokolade von den Stimmbändern geräuspert hatte. Sie lehnte sich etwas nach vorne, damit Martin hören konnte, was sie sagte. Verwundert vernahm er eine Gegenfrage. Leise und gedämpft äußerte sie diese. Ihr war anscheinend auch aufgefallen, dass ein Gespräch mit weniger Lautstärke genauso zielführend war. „Wie ist das denn bei dir?“

      Ihre Stimme hatte ihre warme Samtigkeit wiedergefunden.

      „Arbeitest du auch den ganzen Tag lang und manchmal nachts? Opferst Schlaf und freie Zeit für eine fette Monatsabrechnung?“

      Martin fühlte sich wieder etwas besser, nachdem er nicht mehr beobachtet wurde. Die bildhafte Erscheinung von Lizzy im Rahmen kam für einen Moment zurück, löste sich aber schnell wieder vollständig auf. Vor ihm saß ein fragendes Gesicht. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, der ernsthaft wissen wollte, wie es ihm geht, wenn auch etwas provokant verpackt. Martin stellte fest, dass ihn ihre Zuwendung ein wenig rührte. Er dachte nach. Die Balance zwischen Arbeitsaufwand und Geld war ausgeglichen. Genug Schlaf und Freizeit hatte er auch. „Wofür verdienst du dein Geld?“

      Je länger er mit der Antwort wartete, desto mehr konnte er erkennen, dass der trotzige Blick zurückkehrte. Das Grün bekam wieder diesen dunklen herausfordernden Schimmer. Unbewusst hatte sie die Hände zu kleinen Fäusten geballt, auch das war ihm nicht entgangen. Die Knöchel formten weiße Hügelchen. Jetzt erst merkte er, dass er bisher fast gar keine Aussagen geliefert hatte. Die einzige, die sprach war Lizzy.

      „Willst du mal ein Haus kaufen oder Klunker für die Frau?“

      Sie hielt jäh inne. Ihre Augen wie Pfeile auf das Ziel gerichtet. Martin war ihr seit geraumer Zeit eine Antwort schuldig. Warum konnte er nichts erwidern? Er kam sich plötzlich wie ein Idiot vor. Gerade holte er Luft für eine Erklärung, da war schon wieder Lizzy schneller.

      „Verheiratet?“

      Martin hielt ihrem bohrenden Blick nicht stand und wandte sich ab. Die Pause wurde zu lange für ein unbekümmertes Ja.

      „Wusste ich es doch“, Lizzies flache Hand knallte auf die glatte Tischplatte, „sonst würdest du nicht hier mit einer Achtzehnjährigen sitzen.“

      Die Standuhr im Eck gongte kurz, ein langgezogenes keuchendes Rasseln folgte am Ende. Mit viel Fantasie hätte man es als ein entschuldigendes Räuspern wegen der Ruhestörung deuten können. „Hobby?“

      Martin überlegte und knetete sein rechtes Ohrläppchen. Sie drängte ihn ordentlich in die Enge.

      „Au weia, ein schwerer Fall“, seufzte Lizzy und sah Martin immer noch eindringlich an. Mit weiblichem Spürsinn fügte sie offensichtlich die klobigen Puzzleteile eines Psychogramms über ihn zusammen und ihre gerunzelte Stirn druckte einen bedenklichen Erstentwurf aus.

      Martin starrte sie entgeistert an. Dieses Gespräch befand sich im freien Fall. Wenn man das überhaupt so nennen konnte, wenn einer von zweien schwieg. Um sein Unbehagen zu lindern, rutschte er ein wenig auf dem Holzstuhl hin und her. Er hatte das Gefühl, sich endlich gegen die Vorwürfe dieser jungen Dame verteidigen zu müssen. Lizzies spitze Pfeile hatten sich ungewollt in eine weichere Schicht unter einer mühsam über die letzten Jahre ausgehärteten Schale gebohrt und saßen nun im empfindlichen Fleisch. Seine darunterliegende einsame Seele jaulte geräuschlos auf und lag da, wie angeschossenes Wild.

      Martin musste dringend mit dem unruhigen Sitzen aufhören, es sah mit Sicherheit lächerlich aus. Wie ein Schuljunge, der in die Hosen gepisst hat. Die Wand hinter Lizzy begann zu schwanken. Kurz fühlte er das Holz der Erstklässlerbänke. Hart. Dann den rauen Bezug der Mehrzweckstühle in der Aula beim Abitur. Hernach die Klappsitze der Uni. Der Schulterblick in die eigene Vergangenheit ließ ihn schwindelig werden. In jungen Jahren war er selbstverständlich davon ausgegangen, irgendwann zu heiraten, Kinder zu bekommen, Grillfeste mit Freunden zu erleben und in den Urlaub zu fahren. Er war davon ausgegangen, Herr über den Zeitpunkt zu sein, wann eine passende Frau auf die Bühne treten sollte, um dem narzisstischen Kreisel, in dem sich bis dato Martins Leben drehte, den Rang abzulaufen. Die Unizeit war die beste gewesen. Die Jugend ergoss sich damals über ihm wie ein Wasserfall und er stand darunter in der frechen Erwartung, dieses Frische, Prickelnde würde nie versiegen. Wie anders war alles gekommen. In einer zufälligen schwarzen Sekunde war ein Steinchen unter die Türe, die zur großen Freiheit führte, geraten. Von nun an klemmte sie und ließ sich partout nicht mehr öffnen. Schottete ihn ab vom Rest der Welt.

      Alleine sein tut gut, aber Einsamkeit schmerzt, wenn man sich derer bewusst wird. Diesen verwundbaren Bereich hatte er jahrelang dem aktiven Zugriff entzogen und in einem weit hinten in der Erinnerung befindlichen Dachbodenspeicher verstaut. Spinnweben und Staub hatten nach und nach alles schichtweise zugedeckt. In ein paar Jahren hätte noch nicht einmal er selbst nach diesen alten Behältnissen gefragt. Das Vergessen wäre der Freund der Gleichgültigkeit geworden.

      Martin musste tief durchatmen, um wieder Farbe unter seine leeren Wangenknochen zu pumpen. Er zwang seine Gedanken zurück an den Zweiertisch.

      Lizzy schien nichts von seinem inneren Gefühlsausbruch zu bemerken. Vielleicht hatte sie es einfach aufgegeben, aus Martin brauchbare Aussagen heraus zu kitzeln. Nach ihrer gnadenlosen Ferndiagnose hatte sie vom Thema abgelassen und blickte gebannt zur Kuchenvitrine, aus dessen Glasbauch Ina ein wundervoll saftiges Stück Erdbeerrhabarber zauberte wie einen Geist aus der Flasche. Unvermittelt knurrte der kleine hungrige Wolf in Lizzys Magen und hätte wohl gerne zum Sprung angesetzt. Was Martin nicht wusste, seit dem gestrigen Tag, an dem sie abgehauen war, war das Loch in ihrem Bauch ein ständiger Begleiter. Für Martin kamen die Protestgeräusche aus Lizzies Magen wie gerufen, lenkten sie doch gekonnt von ihren unangenehmen Fragen ab. Dankbar winkte er Ina. Zwei von den Rhabarberschnitten lagen noch in der Vitrine. Er würde sie bestellen und Lizzy friedlich stimmen.