Название | heute wirst du gehenbleiben |
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Автор произведения | Gertraud Löffler |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783749794089 |
Gertraud Löffler
heute wirst du gehenbleiben
Roman
© 2020 Gertraud Löffler
Umschlag, Illustration: Titelbild pixabay
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-7497-9406-5 |
Hardcover: | 978-3-7497-9407-2 |
e-Book: | 978-3-7497-9408-9 |
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Lizzy
Wo hatte sie nur ihre Fahrkarte?
Ihre leichte Zerstreutheit hatte sie schon einige Male in den letzten Jahren an den Rand der Verzweiflung gebracht.
Tief durchatmen, Handgriffe verlangsamen auf Zeitlupe, den Atem bis in die Zehenspitzen fließen lassen, das Gedächtnis nur kurz mit dem Zeigefinger antippen und warten, bis der Dominoeffekt der Erinnerungskette einsetzt.
Passives Nachdenken nannte sie diesen Mechanismus, auf den sie regelmäßig zurückgriff, damit er ihr zum x-ten Mal aus der Patsche half. Einundzwanzig, zweiundzwanzig…
Ihre Finger ertasteten in der rechten Außentasche ihres ausladenden Reiserucksacks ein schmales Papierröllchen.
„Bis Ulm?“
Lizzy blickte in das ausdruckslose Berufsgesicht eines Zugbegleiters. Gewissenhaft, unnachgiebig, mittelklassefreundlich. Höflichkeitsfältchen für Bahnkunden an den richtigen Stellen, dazwischen tiefe tektonische Furchen jahrelanger Langeweile und Frustration. Blass und abgespannt wirkte er. Vielleicht auch wegen der ausgewaschenen dunklen Bekleidung. Mit den geübten Handgriffen täglicher Routine entwertete er die Fahrkarte und reichte sie ihr knöchern zurück. Ein tonloses „gute Fahrt“ beendete seine Kontrollpflichtübung. Sobald der Schaffner aus dem Sichtbereich war, lehnte sich Lizzy entspannt zurück. Dass sie allein in diesem Zugbereich saß, war ein Glücksfall. So konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen. Mit jedem Baum und jedem Haus, das vor dem Fenster vorbeiflog, fiel Ballast von ihr ab und sie freute sich auf das, was vor ihr lag. Unerwartet kam ihr das Bild eines Heißluftballons in den Sinn. Sandsäckchen für Sandsäckchen ausleeren und aufsteigen. Höher immer höher hinauf in das Blau des Himmels.
Sie fühlte sich angenehm aufgeräumt und spürte doch ein leises Kribbeln.
Komisch, dass ihre Mutter nicht nachgefragt hatte.
Lernurlaub bei Tante Astrid. So ein Bullshit.
Martin
Fast lautlos rollte der schwarze BMW auf den markierten Parkplatz für Angestellte. Obwohl die abgedunkelten Scheiben den Mann hinter dem Steuer perfekt verdeckten, musste es ein Mensch sein, der das Fahrzeug steuerte. Autonomes Fahren für die breite Masse war leider noch Zukunftsmusik. Wenn es irgendwann technisch möglich wäre, würde Martin darauf zurückgreifen. Dann säße hier eine verlässlichere Institution als er. Schwitzige Hände drehten das Lenkrad. Die dampfige Feuchtigkeit seiner Handflächen hinterließ neblige Ränder auf dem glatten Kunststoff. Dieses Phänomen war für ihn unweigerlich mit dem Fahren eines Autos verbunden, seit langem schon. Für die meisten anderen Menschen war es der Geruch von Benzin und von Ledersitzen und das tiefe Brummen der Pferdestärken. Vielleicht künftig das sanfte Schnurren eines Elektroantriebes? Der Blinker tickerte, einbiegen, parken, ein kurzer Blick auf den Beifahrersitz. Phantom der Oper. Zwei Karten, vorletzte Reihe. Großes Haus. Sie würden verfallen. Sie waren bisher immer nach ein paar Wochen verfallen. Trotzdem würde Martin im Internet wieder neue bestellen. Er zog den Zündschlüssel ab, öffnete die Türe und atmete tief durch. Knapp eine halbe Minute später verschwand Martin in dem modernen Glaspalast mit der roten Aufschrift des örtlichen Geldinstituts, die über der elektrischen Drehtüre leuchtete. Die Bank war für ihn der Ort, an dem er sich als Mensch Martin ungestört befinden konnte, ohne direkt zu Hause zu sein. Das war arbeitsvertraglich fest geregelt und musste nicht Tag für Tag hinterfragt werden.
Das war gut so. Diese zwei Punkte, die Bank und sein Zuhause verankerten ihn auf diesem viel zu groß geratenen Globus und gönnten ihm einen Platz der Ruhe, frei vom täglichen Druck, Entscheidungen für sich als Person fällen zu müssen. Hätte man sein Leben als Rhythmus klopfen wollen, hätte es ungefähr so geklungen: Bank, Bank, Bank, Bank, Bank, Samstag, Sonntag. Bank, Bank… Könnte auch der Herzschlag eines Berufslebenstoten sein. Was, wenn er gar kein Mensch war, sondern ein moderner Arbeitsroboter? Ein auf Produktionsabläufe programmiertes Wesen, das stur dem Algorithmus folgen müsste, den ihm ein fähiger Informatiker statt einer menschlichen Gensequenz eingehaucht hatte. Strikt müsste er dieser Taktung nachkommen. Seine Gliedmaßen hin und herschieben in einem begrenzten Bewegungsraster. In einem fremdbestimmten Dasein mit Linie, Struktur, Ordnung. So überaus schlecht wäre die Vorstellung vielleicht gar nicht, wenn auch absurd. Denn festgelegte Ordnung bedeutete Abwesenheit von Chaos. Und jegliche Form von Verwirbelung war in Martins Leben unerwünscht.
Gedankenspiele dieser Art begleiteten Martin seit längerem auf Schritt und Tritt. Schlichen sich immer wieder als virtueller Gesprächspartner an seine Seite. Oft war er darin versunken und sein Gesichtsausdruck bekam dann etwas Entrücktes. In solchen Momenten konnte es passieren, dass zufällige Passanten, ohne dass es ihnen bewusst war, an ihm vorbei- oder durch ihn hindurchblickten. Auch sonst redeten nicht viele Leute mit ihm, was ihm insgeheim entgegenkam, denn dann konnte er ungestört nachdenken. Zum Beispiel über Dinge wie diese: Die Natur war für ihn ein glasklarer Beweis dafür, dass er mit seiner Ordnungstheorie, die er sich zurechtgelegt hatte, Recht behalten würde. Die ganze Welt enthielt einen Bauplan aus Abertausenden von Molekülen, deren Atome eine feste Anordnung hatten. Jedes Wesen hatte eine Struktur und bestand aus einer Vielzahl von Genen und einer Abfolge von Aminosäuresequenzen. Allem lag ein geordneter Plan zugrunde und dieser sorgte dafür, dass ein Blatt ein Blatt war und eine Maus eine Maus. Auch nur geringe Abweichungen beispielsweise bei der Zellteilung, die jedes Lebewesen millionenfach exerzieren musste, sorgten für heilloses Chaos und führten zu Krankheit und im schlimmsten Fall zum Tod… Auf dem heiligen Sockel dieser Lehre beruhte Martins gesamte Lebensführung und sorgsam pflegte er sie als steinerne, unbewegliche Basis. Peinlichst genau betrieb er in seinem beruflichen und privaten Umfeld einen täglichen Kraftakt an Strukturierung und Planung, welche dem Zweck diente, konsequent Chaos zu vermeiden. Seit Jahren trug Martin diese Zwangsjacke aus selbst auferlegten Prinzipien, die ihn einerseits wärmte und Sicherheit gab, ihn aber als Mensch mit all seinen Empfindungen erstarren ließ. Irgendwann nach Jahren hatte er aufgehört zu hinterfragen, ob sich etwas ändern würde. Ob man in der Mitte des Lebens nicht noch etwas spüren müsste. Ob nicht das nasse Hemd eines Sommerregens auf der Haut und der Duft der Freiheit erstrebenswerter wären als Sicherheit. Stattdessen folgte er plump selbstgezimmerten Gesetzmäßigkeiten. In etwa in der gleichen Art, wie ein Zugvogel seiner Natur nachkam, indem er unbeirrt nach Süden flog, egal, welche Strapazen damit verbunden waren, Hauptsache, man konnte im Warmen überwintern, ohne Risiko, zu erfrieren. Wie lange er schon so lebte, wusste er nicht und vermied es zu hinterfragen. Er tat es nicht und andere auch nicht. Wer schon? Einzig und allein sein Vorgesetzter versuchte es hin und wieder. Halbjährlich zitierte er ihn zu einem Entwicklungsgespräch in sein Büro, faltete seine Hände auf dem Schreibtisch wie zum Gebet und sah ihn erwartungsvoll mit seinen dunklen Augen an. Die nächste Viertelstunde spulten sie dann das typische Frageantwortspiel ab. Wo er sich in fünf Jahren sehe, wie er seine Leistung einschätze, ob er Fragen oder Kritik habe, Wünsche oder Anregungen. Seinerseits holte sich Martin die Bestätigung, dass die Führungsetage zufrieden war und die Zahlen passten. Irgendwann schob sein Chef mit der flachen Hand die Brille hoch und sagte:
„Mein Gott Herr Steiner. Möchten Sie nicht doch irgendwann einmal etwas weiter nach draußen schwimmen?“