Wach da sein. Klaus Fahrendorf

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Название Wach da sein
Автор произведения Klaus Fahrendorf
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783748261063



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Leben sehen

      Der Frühling ist nun mit voller Kraft da. Allenthalben blüht, grünt und sprießt es.

      Auch unser Kirschbaum steht jetzt in vollster Blüte. Vor strahlend blauem Himmel konnten wir ihn gestern bei schon sommerlicher Wärme bewundern.

      Am letzten Montag fragte ich, als ich von meinem Blick auf die gerade sich erst öffnenden Kirschblüten sprach: „Was sehe ich da?

      Gestern kam die Frage, angeregt und ausgelöst durch die Lektüre einer wunderbaren Darlegung zum Herz-Sutra – einem für die zenbuddhistische Tradition zentralen Text – von dem vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh41: „Woher kommen alle diesen Kirschblüten auf einmal?“ Eine kindliche Frage, so könnte es scheinen. Es ist aber – wie so viele von sog. Erwachsenen als kindliche Fragen abgetane Fragen – eine weit reichende, besser vielleicht: eine tief gehende Frage. Waren die Kirschblüten vorher nichts? Wo waren sie? Wir können dazu biologisch richtige Antworten geben, deren Einzelheiten hier nicht wichtig sind. Wichtig ist, dass wir dabei sehen, was jegliche Existenz von belebter und sog. unbelebter Materie, von fühlenden und von nicht fühlenden Dingen ausmacht: der laufend stattfindende Wechsel, der ständige Wandel, die endlose Transformation, in der alles, was existiert, nicht in nichts verwandelt werden kann. Und genauso wenig aus nichts geboren werden kann. Es gibt nur ein Fortdauern in stetem Wandel, in der (Un-)Beständigkeit des ständigen Wechsels von Augenblick zu Augenblick.

      Dies hat – wie Thich Nhat Hanh zu Recht betont – „nichts mit dem Glauben an Reinkarnation zu tun, sondern es ist die Geschichte vom Leben auf der Erde“42, und zwar auch „unseres“ Lebens als Menschen auf dieser Erde.

       „Nichts kann geboren werden, und folglich kann auch nichts sterben.“43

      Um diese Natur der Welt, um dieses Geheimnis des Lebens nicht nur gedanklichphilosophisch, sondern im Wege einer Erfahrung zu erkennen, geht es im Zen. Zen tritt so nicht in Konkurrenz zu den verschiedenen Religionen und ihren Glaubensinhalten, sondern stellt ein Angebot dar für jeden, durch die Übungspraxis und die radikalen Impulse des Zen in seiner Tradition und/oder auch nur in seinen Lebensfragen tiefer „voran“ zu kommen. Wodurch? Durch ein Transparentwerden der Trennungen, wie sie unser „Subjekt-Objekt-Bewusstsein“ ständig wie von selbst vornimmt. So möchte ich es beschreiben.

      Um wieder mit Thich Nhat Hanh zu sprechen, „wir müssen das Leben sehen.“ Wir sollten

       „nicht vom Leben [zum Beispiel] eines Blattes [oder einer Kirschblüte] sprechen, sondern vom Leben in einem Blatt [oder in einer Kirschblüte] und Leben in einem Baum. Mein Leben ist nichts als Leben, ihr könnt es in mir und in dem Baum sehen.“ 44

      Meine Bitte an uns alle ist, dem genau und genauer nachzugehen, es im Atemgeschehen zu ergründen: Mein Leben ist nichts als Leben. Nicht das Leben eines Menschen, einer Blüte usw., sondern Leben in dieser und in jener Form!

      Und da es immer so weiter geht das Leben, selbst im Staub, selbst in der Asche, im Wasser, in der Erde, in der Luft, ist da eben immer und unendlich was? Leben! So transzendiert Leben Geburt und Tod und unsere Angst davor!

      Das, was ich hier sage als Ausdruck dessen, was buddhistisch mit dem Begriff „Leere“ oder „Leerheit“ bezeichnet wird, d.h. nicht nichtexistent zu sein, sondern „leer von einem eigenständigen Selbst zu sein und daher voll von allem, erfüllt von Leben zu sein“45, soll bitte nicht als Gegensatz oder gar als Aufhebung zum Beispiel christlicher Glaubensvorstellungen zu Leben, Tod, Auferstehung, ewigem Leben verstanden werden, sondern als ein Hinweis dahin, durch ein Durchsichtigwerdenlassen unserer dualistisch geprägten Vorstellungen eines bloßen „Subjekt-Objekt-Bewusstseins“ zu einer (Ein-)Sicht zu gelangen, die – christlich gesprochen – dem entspricht, was die Jünger Jesu an Ostern erfahren haben: Dass es eine Überwindung des Todes und seiner Furcht vor ihm gibt, indem wir das Leben in uns, das göttliche Leben in uns vollständig, ohne jeden Vorbehalt und ohne jedes Unterscheiden- und Verstehenwollen bejahen, indem wir – anders geht es wahrlich nicht – alles „sausen“ lassen, was wir mit unserem „Subjekt-Objekt-Bewusstsein“ „auf Teufel komm raus“ (!) festhalten wollen. Die Aufgabe von allem vorher Vorgestellten und mit Eifer und Inbrunst Verfolgtem – das war das, was den Jüngern geschah an Ostern, so empfinde ich das.

      Jeder von uns, egal, wo und wie er sich religiös oder nichtreligiös verortet, ist da aufgerufen, sich dieser Herausforderung, alles loszulassen, alles „etwas“ sterben zu lassen, zu stellen, weil wir doch alle teilhaben an diesem Leben in uns und allem anderen.

      Welch ein Reichtum wartet da auf Entdeckung!

      In diesem Sinne wünsche ich „Frohe Ostern“!

      41 Thich Nhat Hanh, Mit dem Herzen verstehen, 6. Auflage, 1999.

      42 A.a.O., S. 44.

      43 A.a.O., S. 45.

      44 A.a.O., S. 52.

      45 A.a.O., S. 38.

       07

       Direkt sagen

      Ich bin vor zwei bis drei Wochen auf ein Buch aufmerksam geworden, „Zen Spirit – Christian Spirit“ von Robert E. Kennedy, einem Jesuiten aus den USA und Zen-Lehrer in der Linie von Bernard Glass- man. Robert E. Kennedy war früher in Japan und hatte dort bei Yamada Kôun Roshi begonnen, Zen zu praktizieren.

      Dieses Buch ist 1995 erschienen. Eine deutsche Übersetzung aus 1997 gibt es auch, allerdings nur noch in gebrauchten Exemplaren erhältlich46. Aber all das habe ich erst jetzt, im Jahre 2017 entdeckt. Für diejenigen unter euch, die als Christen Zen praktizieren (wollen), kann ich die Lektüre empfehlen. Ich stelle an den meisten Stellen bislang fest, dass ich dem Autor zustimme und ihm dankbar dafür bin, wie klar er viele problematische Punkte im Dialog zwischen Christentum und Buddhismus in der Ausformung des Zen anspricht – und was er dazu sagt.

      Genug der Vorrede.

      Im Kapitel „Theorien“ bringt Kennedy ein Koan47 mit gewissen Abwandlungen, um damit auch für Christen zu verdeutlichen, dass der Weg, dass ein Suchen nach dem Sinn, nach dem, was das alles bedeutet, hier als ein Mensch auf diesem Planeten zu leben, nicht im „Wissen um Antworten“48, nicht im Erlangen von Lösungen mittels Antworten etc. sein Ende und seine Vollendung findet. Kennedy erzählt dazu die Geschichte aus dem Koan Nr. 73 Hekiganroku (Baso und die hundert Verneinungen) neu:

      Zen-Meister Baso wurde von einem Mönch gebeten, ihm – unter Außerachtlassen von jeglichen philosophischen und religiösen Gedanken und Konzepten – direkt zu sagen, was der Kern, das Wesen, die letzte Wahrheit des Buddhismus ist. Baso sagte: „Mir ist nicht danach, es dir heute zu erklären. Geh und frage den Hauptmönch.“ Der Mönch ging und fragte den Hauptmönch. Der Hauptmönch sagte: „Heute habe ich Kopfschmerzen. Geh und frag den Koch.“ Der Mönch fragte den Koch. Der Koch sagte: „Wenn es darum geht, habe ich es vergessen; ich weiß es nicht. Aber ich habe eine gute Suppe gekocht, willst du welche haben?“ „Nein“, antwortete der Mönch und kehrte zu Baso zurück. Er erzählte diesem, was sich zugetragen hatte. Baso sagte: „Der Kopf des Hauptmönchs ist weiß. Der Kopf des Kochs ist schwarz.“49

      Kennedy vergleicht diese Geschichte mit dem, was ihm in seinem Sabbatjahr passiert ist, in dem er in Japan (Kyoto) von Tempel zu Tempel, von Meister zu Meister gegangen ist, um eine Antwort auf die nämliche Frage zu erhalten, die der Mönch im 8. Jahrhundert nach Christus dem großen Meister Baso gestellt hatte. Und dann wandelt er die Geschichte noch einmal ab und ergänzt sie wie folgt:

       „Baso fragt den Besucher: ‚Nun, hast du den Sinn des Buddhismus herausgefunden?‘ ‚Nein‘, sagt der Gast. ‚Aber dein Hauptmönch ist ein kranker Mann, und dein Koch hat aufgehört zu denken. Was für ein Kloster!‘

       An jenem Abend schlürfen die drei alten Freunde Reiswein nach dem Abendessen. ‚Nun‘, sagte der Hauptmönch, ‚hat dein Besucher den Sinn des Buddhismus herausgefunden?‘