Der Makel der Freiheit. Axel-Johannes Korb

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Название Der Makel der Freiheit
Автор произведения Axel-Johannes Korb
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347062962



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In diesen Augenblicken wurde sich Kilian des Unterschieds zur Universitätsstadt mit ihrem freien Geist und ihren Freigeistern bewusst. In der Heimat war alles so eng wie die Gassen.

      So musste es schon sehr viel Bier sein, bis er seine politischen Reden vergaß und sich dem Geschwätz über das Weibsvolk anschloss, das ihn nicht wirklich interessierte. Wenn ihm in den Wirtsstuben die Luft zum Atmen fehlte, oder wenn er des gemeinen Volkes überdrüssig war, so ging er zu Maria, die des Tags den Bauern bei verschiedener Feldarbeit zur Hand ging und bei Dunkelheit in ihrer Kammer nahe der Stadtmauer ebenso verschiedenen Herrenbesuch empfing.

      Wenn er aber nicht mit Jeremias die Sterbenden in den Tod begleitete, nicht in den Wirtshäusern der Stadt saß und auch nicht der vielfältigen Maria einen Besuch abstattete, rekelte er sich abends bequem auf der häuslichen Ofenbank und sah den Damen des Hauses bei ihren Beschäftigungen zu. Man stickte und strickte, man flickte und nähte. Man tat es nicht aus Notwendigkeit. Die Damen des Hauses widmeten sich diesen Arbeiten vielmehr zum Zeitvertreib und werkelten zumeist an Erzeugnissen, die kirchlicher Verwendung zugeführt werden sollten. Denn an geistlichem Schmuck und kunstvoll verzierten Kaseln und Alben war in einer Stadt voller Pfaffen und Altäre großer Bedarf. Kilian blickte in dem Raum umher und kam sich vor wie in einem gemalten Idyll. Er selbst hockte betrachtend und ins Denken versunken auf der warmen Bank vor den Ofenkacheln, die blau und weiß strahlten, während im Schein der Kerzen die Schatten der Deckenbalken tanzten.

      Bonifaz war nur selten zugegen. Es schien, als ernähre er sich zumeist vom Staub der Akten. Er traf sich zu politischen Beratungen, mittels derer die militärische Bedrohung, ihr etwaiger Erfolg und dessen Konsequenzen erhitzt erörtert wurden.

      In der Wohnstube prangte auch ein Madonnenbild des Meisters Matthias, der ein Spross der Stadt gewesen war, der in den fernen Generalstaaten sein malerisches Glück gemacht und darüber seine Heimat nicht vergessen hatte. Er hatte Kaufleute an den Ort seiner Geburt geschickt, damit sie zu günstigen Preisen klein geratene Kopien großformatiger Ölbilder verkauften, die von seinen Werkstattgesellen hergestellt worden waren. Eines davon hatte die Familie des Goldschmieds erwerben können.

      Dieses Geschäft war nun gut dreihundert Jahre her, der Meister Matthias schon lange tot. Jedes überkommene Bild galt seinem Besitzer bald als Heiligtum und der Meister Matthias als größter Sohn der Stadt, der ihren Ruhm in die Welt hinausgetragen hatte, auch wenn man sich dort nicht daran erinnern konnte, von wo er eigentlich ausgegangen war. Kilian betrachtete das alte Madonnenwerk, bewunderte sowohl das rote Ornat als auch den goldenen Reif am Arm der braun gelockten Jungfrau, kam aber nach der Untersuchung ihres wächsernen Gesichtes mit dem entrückten und unnahbaren Ausdruck zu dem Schluss, dass ihm die Maria, die in ihrer Kammer an der Stadtmauer verschiedenen Herrenbesuch empfing, immer noch besser gefalle.

      Wenn sich die matronenhafte Schwester und die zierliche Mutter abends nicht der Handarbeit widmeten, so lasen sie in dicken Büchern schaurige Geschichten von Geistersehern und geheimnisvollen Vorkommnissen. Auch Kilian versuchte sich von Zeit zu Zeit in dieser Beschäftigung, kam allerdings nie weit. Lesen war seine Sache nicht. Anstatt zu lesen, lag ihm am Gespräch. Nur zeigten sich die beiden Damen nicht allzu gesprächig, zumal wenn er die Rede von den alten Zöpfen schwang. Schon in Leipzig waren seine Besuche in der Universitätsbibliothek selten, was jedoch nicht dahin gehend missverstanden werden darf, dass er kein Interesse an der Staatswissenschaft gehabt hätte. Viel lieber als etwas zu lesen, ließ er es sich vorlesen, zumal wenn theoretisiert oder philosophiert wurde. Er hörte so von Thomasius und Wolff, von Montesquieu, Rousseau und Voltaire. Er sog alles auf wie ein Schwamm und verarbeitete es in seinem Herzen. Im Anschluss an die vormittäglichen Vorlesungen verzog er sich sogleich ins Kaffeehaus, um dort die Rede zu üben, die in seiner Heimatstadt nicht auf fruchtbaren Boden fallen wollte. Die vielen Gleichgesinnten taten hier ihr Übriges. Sie förderten den Drang des Kommilitonen zum Politisieren und spendeten regelmäßig großzügig Beifall.

      Seine Geige rührte Kilian nur noch selten an. Vor seinem Aufbruch zum Studium hatte er es auf ihr zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Nun lag sie ungestimmt in ihrem eingestaubten Kasten. Was hatte der Vater gesagt? Hatte er nicht gesagt, Kilian solle nicht wie ein Taugenichts über die Berge ziehen? Vorerst hielt sich der Sohn daran. Eines Tages aber wagte er es, nahm den Kasten vom Schrank, öffnete ihn, nahm das Instrument vorsichtig in seine Hände, zog die Saiten fest und stimmte es. Wie er übte, seine Finger zu setzten und den Bogen zu führen, kam die Musik wieder. Sie formte sich unter seinen Händen aufs Neue. Dem italienischen Instrument entstieg ein schöner Klang. Die Töne durchströmten das alte Apothekerhaus und setzten einen Zauber frei, der in Kilian verschüttete Erinnerungen hervorrief. Ihm kam in den Sinn, wen er bislang zu besuchen unterlassen hatte. So packte er die Geige sogleich wieder in den Kasten, nahm ihn unter den Arm, stürmte die Treppen hinunter und hinaus ins Freie. Durch die bevölkerte Stadt bahnte er sich seinen Weg, vorbei am Klosterhof, in dem er die schwarz lackierte Kutsche mit dem kurfürstlichen Wappen am Schlag stehen sah, vorbei an den vielen Kirchtürmen und ihrem Geläut, hinaus zum Obertor. Er würde ihn wiederfinden, er würde mit ihm musizieren, mit ihm, den er über das revolutionäre Geschwätz beinahe vergessen hatte. Es trieb Kilian Kramer hin zum Feld, hin zum Bach, hin zur Mühle und hin zu Hyazinth.

      V

      Sie saßen an den Enden einer langen Tafel, aßen von silbernen Tellern und tranken aus geschliffenen Gläsern. Der eine trug sein geistliches Gewand, der andere Kniebundhose und Weste, den Kragen lässig geöffnet. Letzterer hatte er etwas abseits auf dem Tisch abgelegt.

      Beide waren nach der Jagd in die Prälatur zurückgekehrt, hatten sich von den Küchenbrüdern die Erträge ihrer Unternehmung zubereiten lassen und verspeisten das üppige Mahl schweigend. Die Lautlosigkeit der abendlichen Geselligkeit war die Folge von Müdigkeit und Hunger. Der in Weiß und Gold gehaltene Raum war vom Licht des gewaltigen Kronleuchters durchflutet. An den Wänden prangten großformatige Ölbilder. Die Öfen setzten stoßweise immer wärmere Luft frei, sodass ein Fenster geöffnet bleiben musste, um die Temperatur erträglich zu halten.

      Mitten in diese feierliche Abendstimmung hinein wurde dem Jüngeren flüsternd Besuch gemeldet. Nur mit Widerwillen bedeutete er mittels einer unscheinbaren Handbewegung, man solle einlassen. Wenige Augenblicke später stand ein kleiner Mann in der Tür, der vorsichtig zwischen ihren beiden Flügeln haltmachte, um zuerst dem Zivilen, dann dem geistlich Gewandeten einen respektvollen Blick zu entbieten. Schließlich wagte er sich in die Mitte des Raumes und blieb an der Tafel in Höhe eines Porzellanaufsatzes stehen, auf dem in einem Idyll Hirten und Frauen tanzten, während andere Figürchen zwischen filigranen Blumen auf der Flöte bliesen. Einen unendlichen Moment rührte sich der Besucher im Bann der Schäferszene kaum, verneigte dann aber sein Haupt mehrfach tief, wandte sich abwechselnd nach links und nach rechts.

      Der Zivile schob seinen silbernen Teller beiseite und sah den Ankömmling fragend an, der sein Gesicht nun zum Boden kehrte. Er wurde ungeduldig und hieb mit der Faust auf die Tafel, dass die geschliffenen Gläser hüpften: „Nun, hätte Er die Güte, sich vorzustellen?! Oder will Er uns für den Rest des Abends demonstrieren, wie gut Er mit dem Kopf zu nicken imstande ist?“ – „Beruhigt Euch, Dalberg!“, warf hier sein Gegenüber ein, „erkennt Ihr denn einen Eurer eigenen Beamten nicht wieder? Das ist Hardy, er ist ein Neuling hier.“ Der Genannte begann seine Zunge zu bewegen, innerlich die Worte zu sortieren und zu stammeln: „Ganz recht …, ganz recht …, neu in der Stadt. Wenn ich mich untertänigst vorstellen darf: Hardy mein Name, Edmund Hardy. Meines Zeichens hiesiger kurfürstlicher Vogt. Es ist mir eine Ehre durchlauchtigster, hochfürstlichster Koadjutor, auf Eurem Territorium …“ – „Ich bin nicht ,Durchlaucht‘“, unterbrach Dalberg den kleinen Mann mit dem kahlen Kopf, „und ebenso wenig ,hochfürstlich‘. Es handelt sich auch nicht um ,mein Territorium‘, sondern um das des Kurfürsten. Allenfalls mit der Bezeichnung Koadjutor liegt Er richtig.“

      Hardy begann erneut, mit dem Kopf zu nicken, verneigte sich mehrmals und schlug dabei die Augen nieder. Wieder blieb er eine Weile stumm. Wieder hieb Dalberg mit der Faust auf den Tisch und wandte sich ungeduldig an sein Gegenüber: „Abt Marcellus, was will dieser Mensch hier, der mir den Buckel macht?“ – „Hardy“, sagte der junge Abt gütig, „setzt Euch zu uns und teilt uns mit, was Euch zu uns führt!“ Der Vogt fuhr erschrocken herum und blickte den Abt an. Zugleich wurde