Es waren Habichte in der Luft. Siegfried Lenz

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Название Es waren Habichte in der Luft
Автор произведения Siegfried Lenz
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455810844



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– aber nicht in meinem Haus … Seitdem du Korporal bist, wirst du immer frecher.«

      Der Korporal umfaßte mit beiden Händen die blitzende Schnalle seines Hüftgürtels. Er sagte:

      »Ich habe Befehl, sämtliche Häuser in Pekö zu durchsuchen. Ich darf kein Haus auslassen. Wir haben Roskow die Tür eingeschlagen, weil er nicht öffnen wollte. Er stand am Fenster und rief: Es ist schon geschlossen, es gibt nichts mehr zu trinken. Er wollte nicht glauben, daß wir zu einem anderen Zweck zu ihm kamen.«

      »Also«, sagte Leo gereizt, »was gibt es? Wollt ihr mich etwa verhaften?« Er lachte dröhnend.

      Dem Korporal waren die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengewachsen, er hatte sehr lange Arme und glich in mancher Hinsicht einem Affen. Aus seinen Augen sprach eine gewisse Klugheit und Brutalität.

      »Uns ist einer entwischt«, grinste er und zeigte dabei große gelbe Zähne. »Ein Lehrer, wir hatten ihn schon eingesperrt. Weiß der Teufel, wie er das fertigbrachte. Ich glaube, er hat sich zwischen den Gittern hindurchgezwängt. Er muß schmalbrüstig sein und außerdem Kraft haben. Wenn wir ihn einfangen, hängt er.«

      Erkki, noch immer auf dem halbdunklen Gang stehend, blickte auf Stenka. Sein Gedächtnis funktionierte plötzlich. Als der Korporal das Wort »Lehrer« genannt hatte, war ihm klar geworden, daß es Stenka nur einmal gab und daß er sich richtig erinnert hatte, diesem Mann vor einigen Jahren begegnet zu sein.

      »So«, grunzte Leo den Korporal an und schlug mit seiner riesigen Hand nach einem Käfer, der klirrend zu Boden fiel, »und ihr glaubt, daß der Lehrer noch hier ist … hier in Pekö?«

      »Das ist eigentlich unwahrscheinlich, aber nicht völlig ausgeschlossen. Er wird vielleicht annehmen, daß er hier weniger gesucht wird, als an einem anderen Ort.«

      »War er aus Pekö?«

      »Nein. Sie hatten ihn in Kalaa eingesperrt. Von dort ist er auch entwichen.«

      »Wißt ihr denn, wie er aussieht?«

      »Nein, das heißt, ungefähr wissen wir es schon. Er soll klein sein, ist schmal, hat …«, sein Blick fiel auf Stenka, »da – so wie der da, so stelle ich ihn mir vor, genau so. Etwas klüger mag er allerdings aussehen.«

      Leo trat auf Stenka zu und legte ihm die schwere Hand auf die Schulter.

      »Der hier versteht etwas von Blumen … er arbeitet bei mir … früher hat er in einem Sägewerk die Löhne ausgerechnet.«

      »Na ja«, sagte der Korporal grinsend, »so war es auch nicht gemeint. Aber ich muß das Haus durchsuchen. Ihm hier …«, er deutete mit einer Kopfbewegung auf Stenka, »ist wohl etwas bange geworden?«

      Leo kniff seine zerklüfteten Brauen zusammen. Erkki wußte, daß gleich ein Wutausbruch erfolgen würde.

      »Wer wohnt noch in diesem Haus?«

      »Ich«, schrie Leo plötzlich, »ich. Und wenn ihr Angorabullen nicht sofort verschwindet, dann – werde ich mit dem Bürgermeister sprechen … So weit sind wir noch nicht … so weit nicht …« Er fuchtelte mit seinen fleischigen Händen in der Luft herum, ergriff unvermutet die Kerze und schleuderte sie gegen die Wand.

      »Verschwindet! Ich bin noch ganz bei Sinnen … Ich weiß noch ganz genau, wer und was sich in meinem Hause aufhält.«

      In der Dunkelheit tastete er sich an den Korporal heran, erfaßte diesen an seinem ledernen Hüftriemen und drängte und zog ihn zur Tür. Der Korporal wußte, daß ein großes Lamentieren bei Leo keinen Zweck hatte: Der Bürgermeister war sein Freund, und außerdem fanden die theoretischen Schulungen in des Blumenhändlers neuer Scheune statt. Er ließ sich daher ohne Widerstand hinausschleppen, und als er das metallische Klacken des braunen Schlüssels hinter sich hörte, lächelte er höhnisch und verlegen.

      Einen Augenblick blieb Leo, mit dem Rücken gegen die Haustür gelehnt, stehen. Stenka und Erkki hörten auf seinen gewaltigen Atem.

      »Lassen wir das«, röchelte der Riese etwas erschöpft und zündete eine neue Kerze an, die vor dem grünlichen, mißtrauischen Spiegel stand.

      »Ich sagte dir doch, daß du heute nacht an den Booten arbeiten sollst, Erkki … hast du das vergessen? Wie? … Hast du schon das Werkzeug zusammengeholt?«

      »Ich wollte gerade gehen«, antwortete Erkki.

      »Gut. Und du, Stenka … Du kommst mit mir. Ich werde dir zeigen, wo du schlafen wirst … Bring deinen komischen Karton mit.«

      Erkki trat hinaus auf die Straße, einen Beutel mit Werkzeug in der Hand, die beiden anderen Männer stiegen die ächzende Treppe hinauf. Als sie oben standen, rief plötzlich eine Frauenstimme:

      »Wer ist da? Warten Sie einen Augenblick. Ich komme ja schon«, und gleich darauf erschien die Witwe in ihrem ärmellosen Kattunkittel.

      Leo glotzte sie mit aufgesperrtem Mund an und sagte:

      »Na? Das bin ich. Das hattest du wohl nicht erwartet? Gibt es etwas Neues? … Es ist Frühling geworden … hast du das schon gemerkt …? Jetzt wirst du endlich warme Füße kriegen.«

      Die Frau hörte ihm mit vor der Brust verschränkten Armen zu, wandte sich unerwartet um und verschwand in ihrem Zimmer. Ein gutmütig-verschlagenes Grinsen spielte um Leos breite Lippen, dann schob er den Russen mit undurchdringlichem Gesicht in Erkkis Kammer. Stenka hörte, wie er die Treppe hinunterstampfte.

      Das Fenster stand noch offen. Es war warm draußen.

      Im Garten, der einst Matowski gehört hatte, kniete der Mond. Stenka legte sich angekleidet auf das aus Kisten gezimmerte Bett und lauschte. Überall war der Schlaf, nur aus dem Nebenzimmer drang das heisere Weinen der Witwe. Mit den Händen betastete der Mann seinen schmalen Brustkasten. Einige Stellen schmerzten noch. Schließlich überrumpelte ihn lautlos der Schlaf.

      

      Zweites Kapitel Flugversuch

      Erkki ging nicht gleich zum See hinunter, wo der Bürgermeister auf ihn wartete. Der Mond schien hell, Erkki konnte, als er den Marktplatz überquerte, den Posten vor dem Gefängnis deutlich erkennen. Der Posten rauchte, um die Insekten fernzuhalten. Die Gefängnismauer warf schräge Schatten.

      Erkki ging langsam und dachte: ›Ich wußte gleich, daß er nicht Stenka heißt … ich wußte, daß er nie in einem Sägewerk gearbeitet hat … und auch niemals in seinem Leben in Rußland war … in Kalaa war er … an der Schule … ein Lehrer … Sprachen und Pflanzenkunde hat er uns beigebracht … er kam mir doch gleich bekannt vor … es ist ja schon einige Jahre her … aber als er die Ohrläppchen zwischen die Finger nahm … – Der Korporal ist ein Idiot … Ich werde aber nichts erzählen … Gott bewahre … eigentlich geht er mich gar nichts an … schließlich will er ja leben … von mir aus soll er leben … Der Korporal ist ein absoluter Idiot …‹

      Er blieb vor einer behäbigen Hütte stehen und starrte auf ein erleuchtetes Fenster. ›Was sie jetzt wohl tun wird? Vielleicht liest sie oder arbeitet noch? Man sollte sie überraschen, man sollte in ihr Zimmer treten, wenn sie es am wenigsten erwartet. Gut!‹ Er drückte die Klinke vorsichtig hinunter und stand vor ihrer Tür. Das Schlüsselloch war zugestopft, es drang kein Lichtschein auf den dunklen Gang. »Mach doch die Zimmertür auf«, sagte er zu sich selbst, »es kann dir doch nichts dabei passieren«, und er legte seine Hand auf den Drücker. Die Tür öffnete sich geräuschlos. Vor einem eisernen Waschtisch stand ein Mädchen: halb entkleidet, lange glatte Beine, runde Schultern, kurz geschnittenes Haar, über dem rechten Ohr lief eine breite Narbe. Einen Herzschlag lang wunderte sich Erkki, daß sie ihr Haar nicht länger werden ließ, damit es die Narbe bedecke. Sie hatte die Träger des Unterkleides von der Schulter gestreift und ein Tuch um ihre Hüften geschlungen. Mit geschlossenen Augen beugte sie den Kopf über eine Emailleschüssel, tauchte einen Schwamm in das Wasser, drückte ihn aus, ließ ihn