Wie ich aus der Hüfte kam. Gudrun Bernhagen

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Название Wie ich aus der Hüfte kam
Автор произведения Gudrun Bernhagen
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347043312



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Küchenfrauen waren mit ihren „kulturellen Kosthäppchen“ auf alle Fälle ihr Geld wert.

      Das regelmäßige und pünktliche Essen ist wichtig, da ja zwischen den Mahlzeiten die Therapiemaßnahmen erfolgen. Und zwar pünktlich! Langschläfer und Trödelheinis haben da keine guten Karten. Der Therapieformen gibt es viele mit sowohl abenteuerlichen als auch romantischen Bezeichnungen. Neben der Visite gibt es die medizinische Trainingstherapie, Funktionelles Bewegungstraining, Wassergymnastik, Gehschule, Krankengymnastik, Einzeltherapie, Verhalten im Alltag nach der OP, Hüftgymnastik, Hochvolttherapie, Bewegungsbad, Magnetfeldtherapie, Unterwassermassage, Schröpfen, Apparative Lymphdrainage, Vorlesungen zu „Fit durchs Leben“ oder „Gesund bewegen mit System“. Und dann wäre da noch das Perfetti-Training zu nennen. Ein wunderbarer Klang, italienisch … perfetti … So romantisch das auch klingt, es ist nur eine ganz einfache Bewegungsübung.

      Alle Trainingseinheiten lassen mich Fortschritte machen. Zunehmend kann ich auf der Seite liegen und habe kurze Tiefschlafphasen. Das Umdrehen geht noch nicht automatisch, dennoch verbessert sich mein allgemeines Wohlbefinden von Tag zu Tag.

      Sechs Wochen nach der OP verschwindet peu à peu die Hitze im Narbenbereich. Die Schwellung geht ebenfalls zurück. Die Gehhilfen werden zunehmend zur Attrappe.

      Durch die sehr unterschiedlichen Therapien muss ich mich täglich mehrmals umziehen. Der Handtuchtrick aus dem Internet leistet mir dabei sehr gute Hilfe, denn das Strumpfanziehen ist immer noch ein Problem. Es gibt auch spezielle Anziehhilfen, die man selber kaufen muss. Das Geld kann man dank der schwesterlichen Hilfe und dem Handtuchtrick durchaus sparen. Vielleicht ist es in der Cafeteria für Eis oder Kuchen besser angelegt.

      Drei Vorträge besuche ich während meiner Reha. Im ersten, dem Chefarzt-Vortrag, werden wir nicht vom diesem persönlich begrüßt. Sein Stellvertreter (?) berichtet über die Entstehung der Klinik als ursprüngliche Tuberkulose-Heilanstalt bis zur heutigen Klinik für Operative Orthopädie. Alles interessant, aber …

      … aber ich warte ja immer noch auf die Anleitung zum Geschlechtsverkehr.

      Vielleicht erfahre ich etwas dazu in der zweiten Vorlesung, in der es um das Verhalten nach einer Hüft-OP geht und die Patienten Empfehlungen für einen sicheren Umgang mit der Prothese bekommen. Neben den schon bekannten und auch bereits benannten Verhaltensregeln erfahre ich nichts Neues. Ich warte immer noch auf die Erläuterungen zum Sex. Aber nichts! Mit keinem Wort wird das Thema angesprochen. Es gibt also weder theoretische Hinweise, geschweige denn praktische Übungen. Und schon beendet die Rednerin ihre Ausführungen, packt ihre Unterlagen zusammen und …

      … und da meldet sie sich plötzlich doch noch einmal zu Wort. Hat da in den vorderen Reihen jemand mutig nachgefragt? Jedenfalls erklärt sie uns schon fast beim Verlassen des Raumes:

      „Ach, und dann ist ja da noch der Sex ab der sechsten Woche. Auf jeden Fall sollten Sie jede Spreizung vermeiden! Ist der Mann operiert, muss die Frau mehr tun, ist die Frau operiert muss der Mann mehr tun.“

      Das war’s!

      Na gut, in der dritten Vorlesung werden uns zu diesem Thema dann doch noch einige bildliche Darstellungen aus dem Internet dazu gezeigt: Strichmännchen oben, Strichmännchen unten. Wer soll von den beiden das Strichfrauchen sein? Na gut, der Mohr … eh, der Lektor … hat seine Schuldigkeit getan! Jedenfalls fühle ich mich für die schönste Sache der Welt nicht ausreichend aufgeklärt. Offensichtlich sind hier individuelle Lösungen gefragt. Das Schlafzimmer wird somit zum Versuchslabor.

      Abschließend stelle ich fest, dass mir persönlich die Fortschritte nicht ausreichen. Ich wäre gerne schon in allem weiter. Von zusätzlichen Übungen raten die Therapeuten jedoch dringend ab. Das würde sinnlos zu Muskelschmerzen führen. Man muss einfach Geduld haben. Geduld, Geduld und nochmals Geduld. Die Zeit arbeitet für die Mobilisierung, die bis zu einem Jahr dauern kann. Viel laufen und Treppen steigen, das soll helfen. Wie lautet ein afrikanisches Sprichwort? - „Das Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“

      Limerick

      Eine Operation, was für ein Schocker!

      Leider war ich in der Hüfte nicht mehr locker

      Auf kurzem Wege, nicht Kreuz die Quer

      Musste eine Prothese her

      Nun geht‘s wieder flotter über’n Hocker

       … und andere Erzählungen

       Amors Pfeil

      Mein Mann und ich sind seit über vierzig Jahren verheiratet. Da das doch etwas Besonderes ist, denkt so mancher, dass daran eine außergewöhnliche Form des Kennenlernens schuld ist. Wiederholt wurden wir gefragt, wo, wann und unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben. Das Wie und Wo kann ich noch erzählen, aber das Wann ist nicht mehr genau nachvollziehbar. Ich hatte auf jeden Fall schon studiert, denn wir hatten uns im Studentenklub an einem Samstagabend beim Tanzen kennengelernt. Hätten wir geahnt, dass wir uns mal dauerhaft verlieben werden, hätten wir uns den Tag bestimmt gemerkt.

      Ich saß mit meiner Freundin im großen Saal, sie hatte die Bühne und die Tanzfläche im Blick, ich saß mit dem Rücken dazu. Die Band fing pünktlich um neunzehn Uhr an zu spielen. Es dauerte gar nicht lange und meine Freundin signalisierte mir aufgeregt, dass jemand auf unseren Tisch zusteuerte, genauer gesagt auf mich. Ich war neugierig. Doch ehe ich mich umdrehen konnte, wurde ich auch schon von einem jungen Mann zum Tanz aufgefordert. So war das. So einfach haben wir uns kennengelernt. Offensichtlich war er mit seiner Wahl sehr zufrieden. Ich fand ihn auch sympathisch. Wir tanzten den ganzen Abend zusammen. Gegen Mitternacht spielte die Band ihren letzten Song, irgendetwas Langsames zum Kuscheln. Nicht unangenehm! Danach bot er sich an, mich nach Hause zu begleiten. Während wir auf dem Heimweg über dieses und jenes sprachen, war ich in Gedanken schon bei meiner Oma. Ob ich mich auf sie verlassen konnte?

      Meine Oma wohnte im gleichen Haus wie ich. Ich hatte meine eigene Wohnung in der ersten Etage, sie wohnte direkt unter mir, also Parterre. Das abendliche Fernsehprogramm war zur damaligen Zeit nach Mitternacht bereits beendet. Mit dem Erscheinen des Testbilds schaltete sie den Fernseher aus und bevorzugte es, noch einen Blick auf das nächtliche Treiben in der Straße zu werfen. So schaute sie fast jeden Abend noch lange aus ihrem Fenster. Vielleicht überwachte sie auch meine Rückkehr. Vielleicht wusste sie aber auch, dass sie mir damit eine große Hilfe erwies. Wir haben nie darüber gesprochen. Ich habe ihr leider nie gesagt, dass ich ihre … ich nenne es mal Neugier … gut fand und machte ihr daher auch keine Vorhaltungen. Offensichtlich herrschte hier zwischen uns ein stilles Übereinkommen.

      Ich weiß nicht, was sich mein Mann damals vom Nach-Hause-Bringen erhofft hatte. Ich denke, er wäre schon mit hoch gekommen und hätte die Nacht mit mir gemeinsam verbringen wollen. Welcher Mann würde solch eine Möglichkeit schon abschlagen? Aber er hatte Pech, denn meine Oma schaute, wie von mir erwartet, aus dem Fenster. Ja, und wie das so ist, haben wir uns natürlich unterhalten. Aus zögerlichen Begrüßungen und gegenseitigen Vorstellungen wurde ein sich in die Länge ziehendes Gespräch, sodass mein Mann bald erkannte, dass hier an diesem Abend nichts zu holen war. Und so verabschiedete er sich höflich.

      Das sollte es aber nicht gewesen sein, denn wir sind ja schließlich verheiratet und noch wartet, wie in der Überschrift angekündigt, Amors Pfeil auf sein Ziel.

      Wir beide blieben über mehrere Jahre in Verbindung. Er war bei der Armee und ich studierte. Wir schrieben uns gegenseitig Briefe und luden uns zu Feten ein. Unsere Beziehung spielte sich all die Jahre auf freundschaftlicher Ebene ab. Er hatte eine Freundin und ich hatte einen Freund. Als wir uns beide unabhängig voneinander eines Tages von unseren jeweiligen Partnern getrennt hatten, passierte es dann zu seiner Geburtstagsfete bei ihm zuhause. Wie so oft, endeten die Feiern als sogenannte „Küchenfete“. Alle Anwesenden waren in der Küche versammelt. Man unterhielt sich, aß die Reste und genoss den damals traditionellen Apfelwein aus eigener Produktion. Die Plätze reichten nicht aus und so stand ich neben dem Tisch. Mein Mann saß auf einem Stuhl. Einer inneren Eingebung folgend, zog er mich auf seinen Schoß. Ja, und genau das war der Moment, als ein Stich durch meinen Körper ging. Der Moment, in dem ich mich in