Wie ich aus der Hüfte kam. Gudrun Bernhagen

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Название Wie ich aus der Hüfte kam
Автор произведения Gudrun Bernhagen
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347043312



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meinen Oberschenkel komplett verschwunden ist. Aber siehe da, es kommt auch noch ein Arzt und erneuert die Markierung, sodass auch ja nicht die falsche Hüfte operiert wird.

      Dann bin ich wieder allein und warte auf die Dinge, die da kommen. Eine angenehme Ablenkung ist das Damwild, das im Wald unter meinem Fenster vorbeizieht. Elf Tiere zähle ich. Leider ist kein Hirsch dabei.

      Gegen elf Uhr werde ich endlich abgeholt. Die obligatorische Frage nach dem Namen und dem Geburtsdatum hat die Kontrolle meiner Antwort mit den Angaben auf meinem Armband zur Folge. Hat man hier Angst, dass sich eine andere Person einschmuggelt und sich an meiner Stelle operieren lassen will. Na ja, Vorschriften aus welchen Gründen auch immer. Nichts ist nach wie vor umsonst und dem Zufall überlassen.

      Auf meinem Bett liegend werde ich nun durch endlos erscheinende Krankenhausflure geschoben, bis ich mich nach einer gefühlten Erdumrundung im Vorraum zum Operationssaal befinde. Während mit mir noch diverse Kontrollen wiederholt und Flexülen, sogenannte Venenverweilkanülen, am Arm und am Handgelenk gelegt werden, bekomme ich mit, dass im OP-Saal gerade noch operiert wird. Muss ich hier etwa noch irgendwo eine Wartemarke ziehen …?! Irgendwann, wahrscheinlich ist die vorangegangene Operation gerade beendet, stellt sich mir auch schon der operierende Arzt vor. Er beruhigt mich und kündigt mir den Beginn des Eingriffs in wenigen Minuten an. Zeitgleich beginnen die Aufräumungs- und Vorbereitungsarbeiten für die nächste Operation, also für meine.

      Und plötzlich geht alles ganz schnell. Ich werde in den OP-Saal geschoben. Vor Aufregung oder vor Kälte zittere ich am ganzen Körper. „Haben Sie Angst?“, werde ich gefragt. „Nein, ich bin nur aufgeregt“, entgegne ich. „Das dürfen Sie auch. Das sind alle“, werde ich wiederum beruhigt. Das medizinische Personal ist sehr nett. Langsam werde ich ruhiger. Wir unterhalten uns noch kurz über meinen Beruf und plötzlich wird mir eine Atemmaske übers Gesicht gehalten. Ich sehe die Uhr an der Wand. Es ist Punkt zwölf Uhr. Ich höre noch: „Jetzt atmen Sie frische Havelländer Luft ein und werden gleich ins Kissen fallen …“

      . ? . ? . ? .

      Irgendwie bin ich wach. Oder nicht? Ich merke, dass ich auf eine andere Unterlage gehoben werde. Ich höre eine Stimme sagen: „Heben Sie bitte den Kopf!“ Irgendwie fühle ich mich angesprochen und hebe automatisch meinen Kopf. Muss wohl richtig gewesen sein, denn ich werde gelobt: „Ja, gut gemacht!“ Ich? Oder doch irgendjemand anderer?

      . ? . ? . ? .

      Als ich erneut, diesmal richtig, wach werde, befinde ich mich in einem anderen Raum, dem Aufwachraum, wie ich später mitbekomme. Ich öffne die Augen und sehe wieder eine Uhr an der Wand. Vierzehn Uhr.

      Mein erster Gedanke: Ich lebe!!!

      Sofort beginnt um mich herum ein emsiges Treiben. Die Schwestern sind sehr besorgt um mich. Mir werden die üblichen Kontrollfragen gestellt. Ich kann auf alle für sie zufriedenstellend antworten. Mehrere Gerätschaften werden an mir angeschlossen. EKG, Tropf, Pulsmesser am Zeigefinger, Sauerstoffzufuhr in der Nase und was weiß ich noch. Ich sehe bestimmt aus wie in den besten Krankenhausfilmen. Jedenfalls bekomme ich alles, nur nicht mein versprochenes Eis. Aus dem Informationsfilm der Klinik ging hervor, dass die Patienten nach der Operation ein Eis bekommen. Ich warte auf die alles entscheidende Frage nach der Sorte. Natürlich Vanille! Aber die Frage wird mir einfach nicht gestellt und ich fühle mich ein wenig betrogen. Vielleicht später …?

      Zwischen den ständigen Blutdruckmessungen, die Manschette wird ungefähr alle zwanzig Minuten aufgepumpt, werde ich umsorgt und dämmere währenddessen immer wieder vor mich hin. Zum Wasserlassen bekomme ich einen Schieber. Die Urinmenge und die Uhrzeit werden abgelesen und wie die anderen ständigen Messungen in die Patientenakte am Fußende meines Bettes eingetragen.

      Pünktlich vier Stunden nach dem Erwachen erfolgt die von mir gefürchtete erste Aufsteh- und Laufprobe. Vor Kälte, Aufregung oder Schwäche bebt mein ganzer Körper und ich darf letztendlich nur auf der Stelle laufen. Mit meinem schwachen Kreislauf werde ich an diesem Abend nicht „entlassen“, sondern muss noch die ganze Nacht im Überwachungsraum bleiben. Zwei Frauen teilen sich dieses Los mit mir. Über die Männer im anderen Raum habe ich keinen Überblick.

      Die eine Patientin ist wesentlich älter als ich. Zwischen uns liegt eine jüngere Frau, die ich bewundern muss. Sie hat jetzt die dritte Operation in diesem Jahr hinter sich. Sie hatte vor zwei Jahren Leukämie, die sie erfolgreich überstand. Allerdings hatten die Medikamente ihre Gelenke angegriffen. Beide Schulter- und beide Hüftgelenke. Das eine Schultergelenk und eine Hüfte waren schon erneuert. Nun wurde das andere Hüftgelenk ausgetauscht. Für das kommende Jahr steht noch das andere Schultergelenk auf dem Plan. Alle Achtung! Da fühle ich mich völlig bedeutungslos mit meiner einen Hüfte.

      Nach der Laufprobe wird mir nun auch … nein, leider nicht das Eis … dafür aber das Abendbrot gebracht. „Stulle mit Brot“ sagt der Berliner dazu. Das Essen liegt auf einem Krankentisch, der mir übers Bett geschoben wird. Schmieren muss ich selber. Keine leichte Sache mit all den Schläuchen und der Blutdruckmanschette an den Händen und Armen. Der Hunger macht es irgendwie möglich.

      Dann wird mir auch schon das Telefon gereicht. Mein Mann ist am anderen Ende der Leitung und will natürlich wissen, ob ich alles gut überstanden habe. Ich spüre deutlich seine Erleichterung, meine Stimme zu hören und zu erfahren, dass es mir gut geht. Und ich habe wirklich ein gutes Gefühl. Ich habe im Moment keine Schmerzen und merke auch nichts von der Narbe, geschweige denn etwas von einem Ersatzteil in meinem Körper. Mit einem Lächeln erwähne ich allerdings, dass mir noch kein Eis angeboten wurde. Wir reden noch ein wenig über die Schläuche, Messgeräte, Laufversuche, Schieber und … darüber, wie nett das Personal ist. Und dann heißt es auch schon: „Gute Nacht und schlaf schön!“ Wir wollten das Telefon nicht so lange blokkieren.

      Die Nacht ist soweit ruhig, zieht sich aber endlos in die Länge. Der ständige Blick auf die Uhr kündigt von minutiösem Schlaf. Bewegen kann ich mich nicht groß und ich fühle mich wie gefesselt und eingeschnürt. Eine Schwester oder ein Pfleger schauen immer mal wieder nach den frisch Operierten oder bringen einen Schieber, wenn danach geklingelt wird.

       Dritter Tag:

      Pünktlich morgens um sechs Uhr beginnt der Klinikalltag. „Jetzt steppt der Bär“, wie der Berliner sagt. Kontrolle hier und Kontrolle da. Meine Werte sind in Ordnung. Ich werde gewaschen. Zur Visite um sieben Uhr werde ich „freigegeben“. Ich kann auf mein Zimmer zurück. Das hört sich gut an. Ich kann mir aber auch gut erklären, dass die Plätze für die nächsten OP-Kandidaten gebraucht werden. Das geht hier offensichtlich wie das Brezel-Backen. Zuerst werde ich fast komplett „entfesselt“. Allen Schläuchen und Geräten, mit denen ich die schlaflose Nacht verbracht habe, sage ich bye-bye. Nur die Flexülen scheinen mit mir verwachsen zu sein. Vielleicht werden sie noch gebraucht. Wofür? Ich weiß es nicht. Aber, wie bereits mehrfach festgestellt, nichts ist umsonst.

      Wieder im Bett liegend werde ich nun auf mein Zimmer gebracht. Der Weg dorthin ist jetzt erstaunlich kurz. Sofort kommt auch schon das Frühstück. Das funktioniert alles sehr gut. Jeder vom Pflegepersonal weiß, was er zu tun hat. Und so werde ich auch auf dem Zimmer rund um die Uhr kontrolliert und gut versorgt. Ich darf mich nur am Waschbecken waschen … Das Duschen ist erst nach dem Entfernen der Klammern erlaubt … Zum Glück darf ich jetzt auch richtig auf die Toilette gehen. Was für eine Wohltat nach einer Nacht auf Schiebern, auch wenn das Sitzen noch nicht so einfach ist. Ich bekomme keine Toilettenerhöhung. Meine Sitzhöhe (Unterbeinlänge) entspricht der normalen Toilettenbeckenhöhe. Schön zu wissen …! Also dafür war die Sitzhöhenmessung gedacht.

      Meine Narbe ist mit einem großen Pflaster abgedeckt. So muss ich den für mich gefürchteten Anblick vorläufig nicht ertragen, denn ich bin in dieser Hinsicht etwas empfindlich.

      Die Schwester hilft mir beim Anziehen. Die Hose und Strümpfe schaffe ich nicht alleine. Kurz danach werde ich von der Physiotherapeutin zum ersten Lauftraining animiert. Als Laufen darf man das „Schritt-für-Schritt“, den Nachstellschritt, doch tatsächlich schon bezeichnen, natürlich mit zwei Gehhilfen. Es funktioniert bereits so gut, dass ich zu den Mahlzeiten sogar schon in den Gemeinschaftsraum gehen kann.

      Tagsüber werde ich rund um die Uhr versorgt.