Ein Lied in der Nacht. Ingrid Zellner

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Название Ein Lied in der Nacht
Автор произведения Ingrid Zellner
Жанр Контркультура
Серия Kashmir-Saga
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347155794



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Ruhe zu kommen. Die Geschwister lebten jetzt seit gut einer Woche im Dar-as-Salam, und noch immer schaute Salma meistens verschreckt drein… als könnte sie nicht fassen, dass ihr Leben unvermittelt auf solch furchtbare Weise auf den Kopf gestellt worden war. Was Sameera nach Lage der Dinge durchaus begriff.

      »Was gibt’s denn, Kleines? Brauchst du etwas?«

      »Sinan hustet ganz schlimm«, sagte Salma. Sie schnupperte und verzog das Gesicht, als der starke Duft von heißem Honig und Kräutern ihr in die Nase stieg. »Und er sagt, sein Hals tut weh.«

       Damit hatte sich das mit der Resistenz wohl soeben erledigt.

      »Er ist nicht der Erste, und der Letzte wahrscheinlich auch nicht.« Sameera seufzte. »Ich komm gleich rüber und reib ihm die Brust ein, dann wird es hoffentlich etwas besser. Anschließend schläft er ein bisschen, und wenn der Sirup fertig ist, hilft der bestimmt noch zusätzlich.«

      »Das hat ammi auch immer gemacht«, meinte Salma, die an den Herd herangetreten war und neugierig die dampfende, dunkle Flüssigkeit betrachtete. »Ihm die Brust eingerieben, meine ich. Im Winter ist er oft krank.«

      »Gut zu wissen.« Sameera setzte sich an den Tisch. Mohan würde nach seiner Frühstücksstillrunde um sechs sicher noch ein, zwei Stunden schlafen, also konnte sie sich Zeit nehmen. »Dann müssen wir auf deinen Bruder aufpassen und darauf achten, dass er sich immer schön warm anzieht.«

      Salma kam langsam und zögernd zu ihr und blieb neben ihr stehen.

      »Ammi hatte so eine Salbe, die ganz stark roch. Und sie hat Sinan einen Schal gestrickt.«

      Sameera verspürte einen Anflug von Erleichterung. Seit dem Tag, an dem die Geschwister im Auto von Najihas Sekretär im Dar-as-Salam eingetroffen waren, hatte Salma ihre Mutter nicht mit einem Wort erwähnt. Sie hatte überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, in dem sie ein wenig aus sich herausging.

      Ein leises Quäken ertönte aus dem Babyfon, das Sameera auf dem Tisch abgelegt hatte. Salma hob den Kopf und lauschte. »Ich glaub, Mohan ist wach.«

       Pech gehabt.

      »Tatsächlich!« Sameera lächelte Salma an. »Magst du mit raufkommen und nachsehen? Vielleicht braucht er eine neue Windel.«

      »Oder ihm ist langweilig.« Salma erwiderte das Lächeln, und Sameera stellte fest, dass dabei zwei sehr hübsche Grübchen auf ihren Wangen auftauchten. »Ich komm gerne mit.«

      Sie stiegen gemeinsam die Treppe hinauf in den ersten Stock. Als sie das kleine Kinderzimmer betraten, saß Mohan in seinem Bettchen und strahlte bei ihrem Anblick so zahnlos wie begeistert.

      »Hallo, chhote«, sagte Sameera zärtlich und hob ihn hoch. Er fühlte sich warm an… fast ein bisschen allzu warm für ihren Geschmack.

      »Maaaa!«, verkündete ihr Sohn erfreut, dann nieste er herzhaft.

      Sameera verdrehte die Augen zum Himmel. »Na prima«, meinte sie resignierend. »Aller guten Dinge sind sechs.«

      ***

      Als Vikram am Nachmittag die gesunden Kinder aus der Schule nach Hause brachte, fand er in der Küche nur Zobeida vor.

      »Didi ist oben«, sagte sie. »Mohan geht es nicht so gut.«

      Er nahm immer zwei Stufen auf einmal und fand seine Frau im Kinderzimmer vor, wo sie im Schaukelstuhl saß, das Baby in eine Decke gehüllt auf ihrem Schoß.

      »Er hat Fieber«, sagte sie. »Aber das ist hier sowieso gerade eine kleine Krankenstation. Es ist ein Wunder, dass wir bisher in drei Wintern nur einen einzigen Grippefall hatten. Dieses Jahr ist die Schonzeit vorüber, fürchte ich.«

      »Wenn sich der Rest nicht auch noch ansteckt, kommen wir vielleicht halbwegs ungeschoren davon«, meinte Vikram. »Ist das Fieber sehr hoch?«

      »38,9.« Sie küsste Mohan auf den Kopf. »Aber bei Babys ist das nicht so schlimm, da ist alles bis 38,5 nur erhöhte Temperatur. Zooni ist ärger dran, die ist mit 39,2 vollkommen schlapp. Sie hat etwas von dem Hustensirup genommen, den ich heute früh gemacht hab. Hoffentlich hilft’s.«

      »Und Moussa? Der hat vorhin auch nicht so fit ausgesehen.«

      »38,7.« Sameera warf einen Blick auf die Uhr. »Er liegt seit einer Stunde im Bett und schläft. Am besten setzt Zobeida einen Topf mit kräftiger Hühnerbrühe an – davon werden wir in den nächsten Tagen bestimmt reichlich brauchen. Yussuf geht’s schon besser, aber dafür hat es den armen Sinan auch erwischt. Erst verliert er seine Mutter, und jetzt hustet er sich die Seele aus dem Leib, der arme Kerl.«

      »Wie geht es dir?« Er trat hinter den Schaukelstuhl und massierte sanft die verspannten Muskeln in ihrem Nacken. Mohan spähte aus seinem Deckenkokon hervor, entdeckte ihn und gluckste schläfrig.

      »Oh – mir geht’s gut«, sagte Sameera. »Ich hab mich unglaublicherweise noch nie in meinem ganzen Leben erkältet. Dabei bin ich auf einer Insel aufgewachsen, wo es dauernd regnet, und während meiner Jahre bei Medical Relief Worldwide hätte es auch genügend Gelegenheiten gegeben, mich irgendwo anzustecken.«

      »Was mich angeht – ich bin in den fünfundzwanzig Jahren bei der Armee zwar ein paarmal angekratzt oder durchlöchert worden, aber ich war nicht ein einziges Mal krank«, erwiderte Vikram. »Auch danach nicht. Und da ich nicht vorhabe, daran ausgerechnet jetzt was zu ändern, kriegen wir das schon hin. Ganz sicher.«

      Er beugte sich über seine Frau und küsste sie leicht auf die Schläfe. »Hast du im Moment den Kopf für ein anderes Thema, oder soll ich dich damit in Ruhe lassen?«

      »Nur raus damit.« Sameera wiegte Mohan an ihrer Brust; Vikram sah, dass seinem Sohn allmählich die Augen zufielen. »Alle haben ihre Medizin, alle, die ins Bett gehören, liegen drin, und Zobeida hat unten alles im Griff. Worum geht’s?«

      »Um Prem.« Vikram ging zum Fenster hinüber und blickte hinaus. Die vertraute Landschaft verschwand unter einem dicken, weißen Tuch aus Schnee, das sich im Licht der untergehenden Sonne golden und rosig färbte. »Dir ist bewusst, dass er in zwei Wochen entlassen wird?«

      »Was denn, es ist schon so weit?« Sameera schnalzte leise mit der Zunge. »Wir haben darüber gesprochen, als ich das letzte Mal im November bei ihm im Gefängnis war. Kaum zu glauben, dass das auch schon fast zwei Monate her ist.«

      »Und in zwei Wochen ist er frei.« Vikram zog die Vorhänge zu. »Glaubst du, er geht wieder nach Hause?«

      »Wenn du mit ›nach Hause‹ Delhi und seine Mutter meinst, dann wohl kaum.« Sameera schnaubte. »Was das angeht, war Prem sehr deutlich. Er würde gerne hierbleiben und im Tal helfen, so gut er kann. Er ist der Ansicht, er hätte einiges wiedergutzumachen.«

      »Noch so einer.« Vikrams Mundwinkel kräuselten sich. »Hier muss irgendwas in der Luft liegen, das den Leuten solche Gedanken in den Kopf setzt.«

      »Nur den richtigen Leuten, mera jaan.« Er konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. »Allerdings wird es schwer für ihn werden, eine Stelle in einem der Krankenhäuser zu finden – und das, obwohl in Kashmir solch ein katastrophaler Therapeutenmangel herrscht.«

      »Was ist mit Lakshmi? Kann sie ihn nicht einstellen?«

      »Ich hab sie schon gefragt.« Sameera richtete sich auf und streckte sich vorsichtig, um Mohan nicht zu wecken. »Sie würde liebend gern, aber ihre Klinik ist auf die Fördermittel der Regierung angewiesen. Und wenn die Herrschaften spitzkriegen, dass der neue Bewerber vier Jahre gesessen hat, dann hat er keine Chance.«

      »Schon merkwürdig, dass diese Leute jemanden ablehnen, der im Knast war – obwohl ein paar von ihnen eindeutig ebenfalls in den Knast gehören, und aus weit überzeugenderen Gründen.« Vikram schüttelte den Kopf. »Da soll man nicht zynisch werden, zum Donnerwetter noch mal.«

      »Wer zynisch wird, kann nicht mehr lieben.« Sameera stand aus dem Schaukelstuhl auf und kam zu ihm herüber. »Das können wir uns