Название | Boccaccio reloaded |
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Автор произведения | Centino Scrittori |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347083226 |
Besonders merkte ich dies in meinem eigenen Haus. Die Nächte verbrachten wir im Luftschutzkeller. Der Hausverwalter, seine Frau, die Frau mit Kind, die im Geschoss über mir wohnte, und der fahle Greis, wir alle saßen dort unten und warteten. Die Luft war dick und muffig, es rieselte Staub von der Decke, es wurde kaum ein Wort geredet. Das Kind weinte schrecklich. Es merkte die Angst seiner Mutter. Sie saß dort, ihr Kind im Arm, und sprach nie ein Wort. Ihr Mann kämpfte noch im Osten, sie wusste, wie aussichtslos die Lage war. Manchmal schimpfte der Hauverwalter über das Geschrei des Kindes. Manchmal fluchte er über die Juden und was sie Deutschland eingebrockt hätten. Seine Frau saß neben ihm. Sie war totenblass und zitterte. „Sie werden uns alle holen“, rief sie und erzählte dann von „den Russen“ und was sie mit den Deutschen machen würden. Der fahle Greis schien davon recht unbeeindruckt. Zur Stunde der Luftangriffe war er bereits wieder oder noch immer im Vollrausch. Er kam langsam die Treppe hinuntergeschritten. Wenn er den Keller betrat, erfüllte eine Fahne den Raum, die der Hausverwalter gelegentlich als „in unerhörtem Maße unpatriotisch“ bezeichnete. Mehr sagte er nicht, vielleicht weil er noch ein wenig Respekt hatte für den fahlen Greis, der schließlich für sein Deutschland in den Krieg gezogen war. Vielleicht fürchtete er aber nur den schweren, muskelbepackten linken Arm, den der fahle Greis noch hatte, vermutlich so stark von der ganzen Flaschenschlepperei. Wenn dann die Frau des Hausverwalters mit ihren Geschichten über „die Russen“ anfing, lallte er nur: „Sollen sie doch kommen!“
Auch ich hatte Angst. Doch Angst ist ein Zustand, an den man sich schnell gewöhnt. Es war nicht jene Angst vor dem Tod, wie sie mich in den Jahren meiner Kindheit nachts heimsuchte. In diesen Nächten war es etwas Intuitives, etwas, was ich nur schwer kontrollieren konnte. Es war, als würde ich zu einem Tier mutieren, dessen Überlebensinstinkt die Kontrolle übernimmt. Ich dachte dann manchmal an die Menschen, die in diesen Nächten starben. Tragisch war all das, doch ich merkte, wie wenig mich ihr Tod interessierte – wie wenig mich der Tod an sich interessierte. Ich dachte nicht mehr über ihn nach, sondern nur noch über das Leben. Ich schätze, in dieser Zeit suchte niemand nach den Fragen und Antworten des Todes. So wie ein Seiltänzer niemals nach unten schaut, entwickelte man einen starren Blick auf das Leben. Ebenso stark wie der Wille zum Leben war der Wille, die Normalität zu erhalten. Je dunkler die Nächte im Luftschutzkeller, umso heller versuchten die Menschen den Tag zu machen. Immer noch gab es Picknicks im Park, die Frau des Hausverwalters trug sonntags ihr Kleid, fröhlich wurden Lieder beim Straßenfreiräumen gesungen. An Ostern 1944 war die Stimmung gut. Ich merkte es ja an mir selbst; ich ging nun ins Café und las Zeitung wie an einem gewöhnlichen Sonntag. Es war, als ob das Offensichtliche verschwand, wenn es nicht ausgesprochen wurde. Es war damals präsent in jedem Moment unseres Lebens. Hätte man es ausgesprochen, dann wäre es zu viel geworden, dann wäre vielleicht Schluss gewesen. Worüber ich lange Zeit nachdachte, war die selbstsüchtige Sturheit, eine Feigheit, die zu den Grausamkeiten dieser Jahre führte; darin musste ich einen faszinierenden Überlebenswillen erkennen. Ein naiver Instinkt, der mich in dieser Zeit antrieb. Umso irritierender war es, wenn dieser Instinkt bei jemandem versagte. Der fahle Greis sah seit Wochen besonders schlecht aus. Eines Tages stand er dann an meiner Tür und bat mich um Geld. Er hatte keine Fahne, was mich nicht überraschte, und erzählte mir, dass in seinem alten Lebensmittelgeschäft eine Bombe eingeschlagen war und dass er nun nicht mehr an seinen Schnaps rankommen würde. Er scheute sich nicht mehr, das Offensichtliche auszusprechen. Ich gab ihm ein paar Mark, dann zog er dankend ab. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Die folgenden Tage war er nicht im Luftschutzkeller anzutreffen. Dann eines Nachts, wir saßen da, der fahle Greis fehlte wie die Tage zuvor, gab es einen gewaltigen Knall. Staub rieselte von der Decke. Die Frau des Hausverwalters schrie schrecklich. „Jetzt haben sie uns“, brüllte sie. Das Kind der Nachbarin von oben war verdutzt. Im Gegensatz zur Frau des Hausverwalters war es nun still und guckte nur entgeistert in die Runde – man hatte ihm seine Rolle geklaut. In diesem Moment dachte ich nicht an den Tod anderer Menschen, sondern an meinen eigenen. Als das Feuer am folgenden Tag gelöscht wurde, holten sie uns aus dem verschütteten Keller heraus. Gleich zwei Bomben hatten das Haus getroffen. Die erste war neben dem Haus eingeschlagen und hatte die Fassade zersprengt, die zweite, eine Brandbombe, hatte das Haus in Flammen gesetzt. Selten sah ich einen solch hasserfüllten Menschen wie die Frau des Hausverwalters an diesem Tag, als wir aus den Trümmern kletterten. Jetzt, wo sie auf die Überreste ihres einstigen Zuhauses guckte, jetzt, wo sie in Sicherheit war, entlud sich all ihr Zorn und all ihre Wut auf „die Russen“ und „die Juden“ und all die Völker, die angeblich ihr Heim und ihre Nation zerstört hätten. Es gibt wirklich nur wenige Dinge, die hässlicher sind als ein Mensch, dessen Herz voll Hass ist. Bald fragte ich mich, wo der fahle Greis stecke. Wir halfen den Tag über zu bergen und Teile der Trümmer wegzubringen. Bei Sonnenuntergang fanden wir ihn dann. Es war nicht mehr viel von ihm übrig, mir wurde schlecht und ich fragte mich, ob er sich schon davor ein Ende gesetzt hatte. So endete meine Zeit in der Hauptstadt. Es gab nun nichts mehr, was mich hier hielt, und schon am nächsten Tag nahm ich den Zug nach Potsdam.
Das ist der Punkt, bis zu dem ich meinen Enkeln die Geschichte meistens erzähle. Dann setzt mein Mann ein und erzählt ihnen, wie ihr Opa ihre Oma noch vor Kriegsende in Brandenburg kennengelernte, wie sie 1945 heirateten und bald zu seiner Mutter nach Frankfurt zogen, um sich dort samt Kindern durch die Nachkriegszeiten zu kämpften.
Ich glaube, ich lernte in jenen Jahren des Kriegs, dass all das Fragen nach dem Leben und dem Tod, die Angst vor der Unendlichkeit Luxusprobleme sind. Ich hatte mit dem Tod Bekanntschaft gemacht und gemerkt, dass es darum ging, sich auf das, was zählte, das Leben, zu konzentrieren.
Irgendwann wollten meine Enkel dann auch wissen, was denn mit den Juden gewesen sei. Ich erinnerte mich an die 50iger, als der Holocaust zum ersten Mal in der Öffentlichkeit thematisiert wurde. Ich las damals von dem Film „Nacht und Nebel“ in einer Sonntagszeitung. Die Bilder sahen schlimm aus. Ich hatte viel gesehen, besonders in den letzten Monaten des Krieges, doch das war etwas Anderes. Das kannte ich nicht, war nicht Teil meines Lebens gewesen. Ja, ich hatte in der Wohnung einer jüdischen Familie gelebt, ja, auch ich hatte bemerkt, wie die Juden Stück für Stück aus der Stadt verschwanden, doch ich war nicht daran beteiligt gewesen. Immer war ich der Partei gegenüber kritisch gewesen, hatte sie gar verachtet – wenn auch nur im Geheimen. Mich ärgerte es, dass alle so argumentierten wie ich. Der Hausverwalter, der SS-Mann, der Wehrmachtssoldat, alle sagten sie, sie hätten damit eigentlich nichts zu tun gehabt. Ich ahnte, dass auch hier ein tiefliegender Selbstschutzmechanismus mich davor bewahrte, etwas Unaussprechbares auszusprechen.
(Paul Oswalt)
Dritte Geschichte
Die nächste Geschichte kommt von einem eher unauffällig gekleideten, ca. zehn jährigen Jungen, der mit seiner Mutter da ist. Er erklärt kurz, dass diese Geschichte zum Glück erfunden ist und meint, wenn er die Geschichte betiteln müsste, würde sie „das Ende des Amstelvirus“ heißen.
Es ist das Jahr 3001, es herrschte lange Ausnahmezustand. Die ganze Welt kämpfte vier Jahre lang mit einem Virus, dem Amstelvirus. Die Symptome sind Fieber, trockener Husten, Atemprobleme, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Schüttelfrost, Übelkeit und eine verstopfte Nase. Es endet immer tödlich. Die Welt hatte schon sehr viele Menschen verloren, denn es gab dramatischerweise keinen Impfstoff.
Viele hofften auf einen Impfstoff. Auch Benjamin, ein kleiner, zehnjähriger Junge. Deswegen forschte er mit seinem Opa Hans nach einem Impfstoff. Sein Opa war ein 86-jähriger Wissenschaftler, der eigentlich auf Meeresbiologie spezialisiert war. Nach über einem Jahr Tüfteln war sich Hans sicher, ein Gegenmittel, das tatsächlich funktioniert, entwickelt zu haben. Vor lauter Freude rief er Benjamin und rannte die Treppe seines Hauses herunter. Er fiel hin und schlug sich den Kopf an seinem Schuhregal auf. Benjamin rief sofort die Polizei und seine Eltern an und steckte den Impfstoff in seine Strickjacke. Durch das Virus war das Gesundheitssystem überlastet. Der Krankenwagen kam zu spät, Hans war bereits verblutet. Kurz nach dem Krankenwagen trafen Benjamins Eltern ein. Sie nahmen den weinenden Benjamin mit