Название | Boccaccio reloaded |
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Автор произведения | Centino Scrittori |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347083226 |
(Tamara.-U. Lorenz)
Zweite Geschichte
Wir sind alle wegen der letzten Geschichte noch ziemlich in unseren Gedanken versunken, als die ältere Dame von gestern sagt: „Ach Mensch, hoffen wir, dass das alles nicht so weit kommen wird. “ Das hoffen wir natürlich alle. Ein alter Herr meldet sich nun zu Wort, um uns seine Geschichte „Jene Jahre des Krieges“ zu erzählen. Wir hören alle gespannt zu und er fängt an.
Immer wieder bin ich verblüfft, wie normal unser Leben heute scheint. Eigentlich waren ich oder meine Familie nie von besonderen Zuständen oder tragischen Schicksalen betroffen. Meine Geschwister, Eltern und ich hatten zwar den Krieg erlebt, doch war das in dem Sinne nichts Besonderes. Nichtsdestotrotz waren meine Enkel immer wieder an meiner Jugend interessiert. Für sie waren die Zustände, unter denen ich damals lebte, nur schwer vorstellbar. Sie wollten wissen, wie ich damals gedacht und gefühlt hatte. Ich begann also, mich mit meinen frühen Jahren auseinanderzusetzten. Vor allem erinnerte ich mich daran, dass ich oft auf der Suche gewesen war nach Antworten auf zahlreiche Fragen, die mich nicht losließen.
Früh fing es an, als ich noch ein kleines Kind war. Nächtelang weinte ich, weil mir klar wurde, dass wir alle eines Tages sterben werden. Ich war vollkommen ratlos. Unvorstellbar war mir die Unendlichkeit. Was hatte ich, was hatte meine Seele all die Jahrmillionen von Jahren, ja die Unendlichkeit, die bereits vor meiner Geburt verstrichen war, gemacht? Nichts, einfach nichts. Und der Gedanke, dass das Gleiche mir noch einmal bevorstehen würde, doch dass ich diesmal aus dem Nichts nicht erwachen würde, ließ mir mein komplettes irdisches Dasein und jenes meiner Mitmenschen komplett nichtig erscheinen. Nachts, völlig aufgelöst, kam ich zu meinem Vater, der träumend in der Badewanne saß. Ich wusste nicht, was ich schlimmer finden sollte: Dass ich eines Tages sterben sollte oder dass ich eines Tages meine Mutter, meinen Vater oder meinen Bruder verlieren sollte? Ich erzählte ihm also von meinem Kummer und er sagte mir, dass wir nicht zu sehr über unsere Vergänglichkeit trauern, sondern das, was wir haben, unser Leben, in vollen Zügen genießen sollten. Sich den Kopf zu zerbrechen, gar traurig zu sein, bringe doch überhaupt nichts.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, fand ich diese Antwort damals höchst unzufriedenstellend. Es wäre eine Lüge zu sagen, dass das heute wirklich anders ist, aber irgendwann erkannte ich, dass die Antwort meines Vaters die beste zur Verfügung stehende war.
Als ich dann erwachsen wurde, kam der Krieg. Es war eine Zeit, in der mich viele Fragen heimsuchten. Die Stimmung war zunächst gut und ich war beeindruckt von all dem Tamtam der Großstadt. Ich weiß noch, wie ich damals, ich war noch vor Kriegsbeginn nach Berlin gezogen, von den Nachbarn eingeladen wurde. Es war der Abend des 14. Juni 1940 – die Besetzung von Paris. Ich sah keinen Grund zu feiern, dass eine weitere Stadt in die Hände eines Verrückten gelangt war, und da ich dieser Meinung war und die meisten meiner Mitbewohner überzeugte Parteimitglieder waren, mied ich den Kontakt zu ihnen. Sie waren jene Art Menschen, die nie gesucht hatten. Als Hitler kam und sagte, die Juden seien an allem schuld, da glaubten sie ihm. Gefragt, gesucht wurde da nicht viel.
Nun, wenn man Menschen scheut, die nicht suchen, sondern folgen, dann ist man meist recht einsam und so war es vor allem in jenen Jahren, als Deutschland der Welt zeigte, dass es auch im Diesseits eine Hölle geben kann.
Ich erinnere mich noch an jenen fahlen Greis, der zu dieser Zeit im Dachgeschoss wohnte. Ein blasser alter Mann. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient, wurde in der Schlacht von Verdun verwundet und verlor den rechten Arm. Als er heimgeschickt wurde, schied sich seine Frau von ihm und heiratete seinen Bruder. Ich wusste nicht, ob ich Mitleid mit ihm haben sollte. Er hatte verloren, was er gefunden hatte. Bald verlor er dann auch seinen Job und begann zu trinken. Ich war stets beeindruckt, wenn er jeden Montagmittag seine Flaschen heruntertrug, den Nachschub besorgte, und ich fragte mich dann, ob dort oben noch drei seiner Freunde wohnten.
Die Wohnung, in die ich 1937 einzog, gehörte einst einer jüdischen Familie, die um diese Zeit ihr gesamtes Vermögen verlor und später nach Litzmannstadt deportiert wurde. Als ich den Hausverwalter das erste Mal traf, ich glaube, es war die Schlüsselübergabe, begrüßte er mich mit einem scharfen: „Heil Hitler!“ Er war klein und etwas dick und versicherte mir, wie froh er sei, endlich dieses „Dreckspack“ losgeworden zu sein. Es freue ihn, so sagte er, eine „reinblütige Arierin“ als zukünftige Mieterin zu haben. Ich glaube sogar, es war ein Montagmittag. Dies würde zumindest erklären, warum ich auch den fahlen Greis dort zum ersten Mal sah. Ich glaube, er bemerkte meine Resignation – als wir da im Treppenhaus standen und ich doch eigentlich nur meinen Schlüssel haben wollte. Für einen Krüppel hatte der Hausverwalter nicht viel übrig, und da ich nicht viel für den Hausverwalter übrig zu haben schien, kam ich vielleicht als Zeitgenosse in Frage. Auf jeden Fall lud der fahle Greis mich bald auf einen Whiskey zu sich nach oben ein. Wir unterhielten uns einige Zeit lang. Dann erzählte er mir seine Geschichte: Seine Frau hatte ihn nicht mehr haben wollen. Sein Arbeitgeber auch nicht und schlussendlich auch nicht mehr sein Vaterland, für welches er seinen Arm verloren hatte: „Nur der Schnaps hält es noch mit mir aus und er ist ein treuer Wegbegleiter,“ sagte er dann. Schrecklich war sein Leben, und noch schrecklicher sein Selbstmitleid. Er nahm es den Franzosen schon fast übel, dass sie ihn nicht ganz erwischt hatten. Um Mitternacht fing er dann schrecklich an zu fluchen. Das Glas berührte immer öfter seine Lippen, schließlich griff er direkt zur Flasche. Es wurde würdelos und unangenehm, sodass ich beschloss zu gehen. Seitdem grüßten wir uns nur noch auf dem Flur.
Als Anfang 1943 Stalingrad verloren war, schien etwas in der Luft zu liegen. Nicht, dass die Menschen anfingen zu zweifeln. Sicherlich gab es jene, die jetzt oder auch schon davor ahnten, dass ihr Land aus diesem Chaos nicht heil davonkommen würde, doch die Mehrheit schien sich nichts anmerken lassen zu wollen. Zwar fielen die Anlässe für Einladungen mehr und mehr aus – was nebenbei bemerkt mich nicht weiter bedrückte –, doch umso schärfer, umso ernsthafter wurde das „Heil Hitler!“ meines Hausverwalters.
Auf den Straßen ging auch sonst das Leben weiter. Die Menschen saßen, standen und unterhielten sich – quatschten regelrecht. Man sah Schuljungen, die Rohstoffe für die Industrie sammelten. Sonntags wurde in den Parks idyllisch gepicknickt, natürlich mit sparsamer Verpflegung. Doch kaum jemand verlor ein Wort über den Krieg.
Ende 1943 kamen dann die Flieger immer häufiger und mit ihnen auch der Tod. Ich dachte an meine Kindheit zurück und dann an meine Familie, die ich in einem kleinen Dorf bei Potsdam zurückgelassen hatte. Der Anblick der brennenden Häuser war tragisch und doch faszinierte er mich. Warum fügt der Mensch sich solch ein Leid zu, fragte ich mich später immer wieder, suchte verzweifelt nach einer Antwort. Warum suchte er eine Vernichtungsbeziehung mit so vielen Dingen in der Welt? Es war eines der Dinge, für die ich zeitlebens keine Antwort fand.
Mit den Luftangriffen wurde dieser Zerstörungswille, dieser Zerstörungszwang Teil unseres Alltags. Der Krieg war nicht mehr irgendwo in der Ferne, sondern nun bei uns. Fast jeden Abend dröhnten die Sirenen. Morgens brannten die Häuser. Ich weiß noch, wie ich kurz nach dem Krieg zurück nach Berlin musste, um einige Verwaltungsangelegenheiten zu klären. Erst damals wurde mir das ganze Ausmaß der Zerstörung