Die Dirigentin. Maria Peters

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Название Die Dirigentin
Автор произведения Maria Peters
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455010114



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du in diesem Metier eine Rolle spielen willst, musst du auffallen.« Seine Stimme klingt leicht amüsiert. Ich schaue ihn mir genauer an. Er trägt einen gut sitzenden, etwas weiten Anzug, der ihm aber steht. Er macht einen freundlichen Eindruck, auch wegen seiner blauen Augen und der blonden Haare.

      »Wenn ich nichts finde, habe ich ein echtes Problem«, erwidere ich.

      »Ich würde dir ja gerne helfen, aber wir brauchen gerade niemanden, nur einen Musiker.«

      Ich werde hellhörig. »Einen Musiker? Ich spiele Klavier!«

      ~ Robin ~

      5

      Sie ist irgendwie anders. Ich kann nicht genau sagen, woran es liegt. Ist es etwas Unkonventionelles in ihrem Auftreten? Vielleicht. Die Art, wie sie ohne jede Eleganz ihren flachen Schuh ausgezogen hat, das sieht man nicht oft. Junge Frauen sind gerne mädchenhaft. Sie nicht.

      Sie sitzt am Klavier, und ich habe die Gelegenheit, sie etwas genauer zu betrachten, denn ich merke leider sofort, dass mich ihr Spiel nicht fesselt. Sie sagte, es sei ein Stück von Grieg, Wedding Day oder so. Ob du diesen Tag wohl auch einmal erleben wirst, kam mir in den Sinn, aber genug davon. Die Melodie klingt angenehm, aber es bleibt halt Klassik. Meine Musik ist der Jazz. Das spielen wir hier im Club. Jazz und Ragtime. Musik, die swingt. Die Leute kommen hierher, um sich zu amüsieren. Das Leben ist schon schwer genug.

      Es hat mich umgehauen, als sie sagte, sie sei Musikerin. Was ich meine – statistisch gesehen war die Wahrscheinlichkeit doch gleich null.

      Heutzutage einen Job zu finden ist knifflig. Als ich nach dem Krieg mein Geld als Musiker verdienen wollte, hatte ich keine Chance. Die zurückkehrenden Soldaten fluteten den Arbeitsmarkt, und ich konnte nicht glauben, wie viele Leute plötzlich meinten, ein Instrument zu beherrschen. Qualität zählte kaum, zumindest nahm man die traumatisierten Soldaten lieber, auch wenn ich genauso gut war oder sogar talentierter.

      Mitleid kann ein Segen sein, aber ich war der Outcast, denn ich kam weder von der Front, noch hatte ich meinem Land auf eine andere Art gedient. Wenn man hundertmal eine Abfuhr kassiert, wird man kreativ. Ich entschloss mich zu drastischen Maßnahmen: Zunächst zog ich von meinem Dorf in Kansas an die Ostküste um. Dann brach ich mit meinem alten Leben.

      In New York war der Konkurrenzkampf noch heftiger, aber Qualität setzt sich hier durch. Innerhalb eines Monats hatte ich verschiedene Angebote. Es tat meinem Ego gut, dass die Clubs sich um mich stritten. Endlich durfte ich das machen, was ich am liebsten tue – ich konnte sogar wählen, wo.

      Wenn man ihr Gesicht länger betrachtet, ist es durchaus hübsch. Ein anziehender Mund, regelmäßige Zähne. Das Kinn ist vielleicht etwas spitz, passt aber gut zu ihrem Gesicht. Ein voller brauner Haarschopf, der in Locken bis über ihre Schultern fällt. Und sie hat eine sehr feine Stimme (da achte ich immer drauf).

      Aber vor allem ihre klugen braunen Augen machen Eindruck. Wenn sie die aufschlägt und dich anblickt, fühlst du dich … ja wie eigentlich? »Nackt« ist vielleicht der passende Ausdruck. Als würde ihr nichts entgehen. Was mich angeht, sieht sie hoffentlich nicht zu viel. Hier unterbreche ich meinen Gedankenfluss, ich darf jetzt nicht anfangen zu phantasieren. Das junge Ding gibt sein Bestes, hör dann gefälligst auch zu. Andererseits bin ich neugierig darauf, wie sie auf die Menschen hier reagieren wird. Schade, dass der Saal noch leer ist. Richtig lebendig wird es hier erst, wenn die Revuetänzerinnen da sind.

      »Du spielst zu steif.«

      Ich bitte sie, ein Stück zur Seite zu rücken, und setze mich neben sie auf die breite Sitzbank. Ich spiele dieselben Themen wie sie in Wedding Day, jetzt aber jazzig. Ich bin gespannt, ob sie sich darauf einlassen kann. Das macht sie, aber viel zu brav.

      »Einfach loslegen, ohne Fesseln«, fordere ich sie auf.

      Und das traut sie sich zum Glück. Wir spielen vierhändig, und es macht ihr Spaß.

      »Warum sucht du einen Pianisten, wenn du selbst so gut bist?«, fragt sie danach.

      »Weil ich lieber Bass spiele.«

      Dennis kommt aus der Garderobe auf die Bühne. Er ist zur Hälfte umgezogen. Er trägt ein auffälliges Abendkleid und hat sich weibliche Züge geschminkt, aber die Perücke noch nicht aufgesetzt. Das ist immer ein merkwürdiger Anblick, so halb, unfertig. Dennis ist unsere Hauptattraktion. Sein Künstlername ist Miss Denise. Wenn Hollywood ihn in die Finger bekäme, würde er gewiss so erfolgreich wie Julian Eltinge, der berühmteste Frauenimitator der Welt.

      Ich las in der Variety, Eltinge sei zurzeit der bestbezahlte Schauspieler Hollywoods. Die Filme, in denen er sowohl Frauen- als auch Männerrollen spielt, verkaufen sich wie warme Semmeln.

      Ich kenne den Mann, der ihm bei der Kleidung assistiert, denn ein Korsett auf eine Wespentaille zusammenzuziehen schafft man nicht alleine. Er erzählte mir, er trage immer ein Messer bei sich, falls Eltinge aus Sauerstoffmangel ohnmächtig würde. Dann darf man keine Zeit verlieren, und mit dem Messer kann er ihn mit einem einzigen entschlossenen Schnitt aus der selbst gewählten Einschnürung befreien. Ich wollte natürlich wissen, ob das schon einmal passiert sei. Woraufhin der Assistent lachte und geheimnisvoll antwortete: »Das wüsstest du wohl gerne!«

      Ich wette, Willy hat noch nie zuvor einen Travestiekünstler gesehen. Ich bemerke, wie ihr Mund aufklappt und sich nicht mehr schließt.

      »Robin, hast du eine Zigarette für mich?«, fragt Dennis mit seiner normalen Männerstimme.

      Ich halte ihm eine Zigarette hin und gebe ihm Feuer. Willy verspielt sich ein paarmal. Dennis nimmt erst jetzt Notiz von ihr. Er schaut sie unter seinen langen, falschen Wimpern hervor an. Ich weiß genau, was er da macht: Er fällt sein Urteil. Entweder fällt die Münze auf die eine Seite oder auf die andere – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Ich bin genauso neugierig wie Dennis, der tief inhaliert und sehr weiblich zurück zur Garderobe stolziert. Jetzt will ich es auch wissen.

      »Macht dich das nervös?« Keine Antwort.

      »Die Leute kommen von nah und fern, um sie zu sehen.«

      »Ihn«, verbessert sie mich.

      Ich kann es nicht bleiben lassen und werde philosophisch: »Weißt du, wir werden nackt geboren, und der Rest ist Verkleidung.«

      Jetzt bekomme ich eine echte Reaktion. Sie steht auf. Ihr Gesichtsausdruck spricht Bände.

      »Es tut mir leid, aber ich kann hier nicht arbeiten.«

      »Ich dachte, du wärest verzweifelt.«

      »Nicht so verzweifelt.«

      Sie kann gar nicht schnell genug aus dem Club kommen. Ich schaue ihr hinterher. Als ich mich umdrehe, sehe ich Dennis in den Kulissen. Ihre Reaktion ist ihm nicht entgangen.

      ~ Willy ~

      6

      Mein Vater beugt sich zu mir herüber: »Wir müssen gehen. Deine Mutter bekommt eine Migräne.«

      Es ist Sonntag, ein Tag Pause. Sogar für mich. Die Saison über finden regelmäßig Konzerte im Park statt. Der Eintritt ist frei, meine Eltern und ich sind daher Stammgäste. Ich höre dem Harmonieorchester gerne zu, richtig begeistert bin ich aber vom Dirigenten. Er ist wirklich gut. Ich habe mir viel von ihm abgeschaut. Er bekommt es hin, die enorme Klangkraft der Blechbläser so zu dosieren, dass die Musik nie zu einem bloßen Humtata verkommt. Wenn aber das Stück die ganze Gewalt der Bläser erfordert, dann entfesselt er diese auch. Wie gerade jetzt, bei The Liberty Bell von John Philip Sousa.

      Ich kann mich heute nicht richtig entspannen. Ich muss unbedingt schnell eine neue Arbeit finden, denn meine Mutter lässt sich nicht ewig an der Nase herumführen. Letzten Freitag habe ich ihr meine »Lohntüten« gegeben; die kann man nämlich für einen Appel und ein Ei beim Bürobedarf kaufen. Statt Papiergeld hatte ich besonders viele Münzen in die Tüten getan. Die verschwanden natürlich sofort in ihrer Schürze.