Название | Zeitrausch (2). Spiel der Zukunft |
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Автор произведения | Kim Kestner |
Жанр | Учебная литература |
Серия | Zeitrausch-Trilogie |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783401808000 |
Kay … Ein Schauer überläuft meinen Rücken. Ich vermisse ihn so schmerzlich, seine Berührung, seine Stärke, die Sicherheit, die er mir gibt.
Nicht! Nein, verdammt, nicht an ihn denken, nicht träumen! Der Tag wird kommen.
Über meinem Schreibtisch hängt ein schlichter Kalender, und bevor ich mit dem Biologiebuch und meinem Abendessen ins Bett gehe, durchkreuze ich den 12. Juni. Jetzt sind es noch 1 Jahr und 80 Tage, bis sie mich holen werden, bis ich Kay endlich wiedersehe.
Auch wenn die Prüfungen vorbei sind, gibt es immer noch viel zu lernen. Dinge, die ich bisher nicht verstanden habe, aber vielleicht bei meiner nächsten Zeitreise brauchen werde. Also schlage ich mein Biobuch auf, sobald ich mich auf meinem Bett ausgestreckt habe, und lutsche auf den Himbeeren herum. Nervenfutter. Wie passend … Nervenbahnen, Nervenbündel, Nervenzellen, lauter langweiliges Zeugs.
Ich unterdrücke ein Gähnen und lese die ersten Sätze, irgendetwas über sensible Leitungsbahnen, die Reize der Körperoberfläche ans Gehirn weiterleiten. Daneben eine Abbildung. Die Nervenbahn erinnert an eine Würstchenkette, welche in einer Zelle endet, einem gierigen Schlund mit ausgestreckten Tentakeln.
Immer noch hungrig greife ich zu dem Fasanenfleisch und lese die Zeilen erneut. Elektrische Impulse, welche Informationen weiterleiten, wahrscheinlich wie bei dem Marker.
Moment … Was habe ich gerade gedacht? Genau! Nur so kann er funktionieren … Wie sonst sollten mich feine Silberdrähte beeinflussen können als über meine Nervenbahnen?
Informationen, die durch elektrische Impulse an das Gehirn weitergeleitet werden. Schmerz zum Beispiel. Über den Marker können sie mir Schmerzen zufügen und sie haben es getan. Höllenqualen, lodernde Flammen in meinem Kopf …
Schnell schüttle ich die Erinnerung ab und betrachte wieder das Bild mit den aneinandergereihten Würstchen. Aber jetzt sehe ich die Nervenbahnen als ein Schienennetz, das alles miteinander verbindet und schließlich im Bahnhof mündet, den Nervenzellen.
Ich lege den Fasan zurück auf den Teller, wische mir die Finger an einem Taschentuch sauber und blättere aufgeregt um. Die nächsten Seiten verschlinge ich wie einen spannenden Thriller. Bakterien, Blutgefäße, Toxine, Muskelfasern, Ionenströme … Jeder Abschnitt ist ein weiteres spannendes Kapitel.
Erst als es dunkel wird, klappe ich das Buch zu und schließe die Augen.
Nervenbahnen …
Mit dem Finger streiche ich über meinen Arm, sodass sich die feinen Tasthärchen aufrichten, stelle mir vor, wie die Nervenzellen die Berührung aufnehmen, in einen Impuls umwandeln, ihn durch das Schienennetz bis ins Gehirn schicken … die Information wird verarbeitet, eingeordnet, zurückgesendet und mündet als wohliger Schauer, als kribbelnde Gänsehaut auf meiner Haut.
Wunderbar …
Jetzt umgekehrt!
Die Bilder aus dem Buch vor meinem geistigen Auge, tauche ich immer tiefer in mein Gehirn, durchsuche Windungen, umschwirre Synapsen, durchschwimme ein Meer von Zellen, bis ich mich für eine entscheide, die ihre Tentakel besonders weit ausstreckt. An ihr klammere ich mich fest, zwicke ihre Enden, folge dem Impuls durch meine Wirbelsäule hindurch, den linken Arm hinunter bis in meine Handinnenfläche und öffne die Lider.
Im letzten Licht des Tages schimmern feine silberne Linien und verweben sich vor meinen Augen zu einem Rechteck – dem Marker.
4
28. August 2015, Mill Valley
Ich bin nicht vorbereitet. Nicht annähernd!
Seit 2 Wochen trage ich Tag und Nacht den schwarzen Isovantage-Anzug. Er ist wie eine zweite Haut für mich. Ich will ihn unbedingt anhaben, sobald sie mich in ihre Zeit reißen. So werde ich in großer Hitze oder Kälte länger überleben. Inzwischen besitze ich drei davon. Meine einzige tragbare Kleidung. Der Rest passt nicht mehr, schlottert nur um meinen Körper, so sehr habe ich abgenommen.
Nervös knabbere ich an meinen Fingernägeln, horche wieder in mich hinein, suche nach Anzeichen dafür, dass sie mich holen, nach Schwindel oder Übelkeit, die bei jedem Zeitsprung auftreten. Das einzig Abnormale aber ist mein Herz. Es wummert einem Trommelwirbel gleich in viel zu schnellen Schlägen, gebärdet sich wie eine Flipperkugel, wenn ich an Kay denke, was ich quasi ständig tue.
In 3 Tagen, um genau 08:02 Uhr, sind für mich 2 Jahre seit der ersten Show vergangen, das Warten wird ein Ende haben und ich werde Kay wiedersehen! Irgendwie werde ich die Zeit bis dahin totschlagen.
Heute ist es heiß, wie gewöhnlich für einen Augusttag in Kalifornien. Durch das geöffnete Fenster höre ich Jeremy mit Freunden Bälle schlagen. Mein Bruder überragt mich inzwischen um einen Kopf, obwohl er gerade erst zwölf geworden ist. Kurz vor den Ferien hat man ihn in die Baseball-Schulmannschaft aufgenommen, jetzt trainiert er, bis Mum ihn abends zum Essen ruft.
Ich gehe zum Kalender und streiche den 28. August durch. In 3 Tagen werde ich Jeremy für lange Zeit nicht mehr sehen.
Mit einem Seufzer lasse ich mich auf das Bett fallen und greife nach der kalt gewordenen Tasse Kakao. Er schmeckt ekelhaft süß. Ich trinke ihn trotzdem. Seit 3 Wochen esse ich so viel Zucker und Fett, wie ich kann, ohne brechen zu müssen, versuche, mir ein kleines Polster anzufuttern, um später davon zehren zu können. Auch das Training habe ich eingestellt. In den letzten Wochen hätte ich sowieso nichts gelernt, was ich in 2 Jahren nicht geschafft habe.
Ich ziehe die Kladde unter dem Kopfkissen hervor und streiche mit dem Daumen über die untere Ecke, sodass sich die Seiten flatternd durchblättern. Sie sind abgegriffen und einige haben sich gelöst, aber auf den Inhalt kommt es an: Fotos und Zeichnungen von Heilkräutern, Listen mit essbaren Pilzen und Beeren, anatomische Abbildungen des Knochenaufbaus, seitenweise Skizzen von Kleidung verschiedener Epochen, geschichtliche Daten, Jahreszahlen.
Eine Weile versuche ich, mit geschlossenen Augen Daten der amerikanischen Geschichte von der Kolonialzeit bis zum Bürgerkrieg aufzusagen. Alles gerät durcheinander, nichts scheint hängen geblieben zu sein. Vielleicht ist mein Gehirn überladen und hat sich neu formatiert – außer gähnender Leere und Kays tiefdunklen Augen finde ich nichts darin.
Frustriert stopfe ich eine halbe Tüte Chips in mich hinein und starre auf meine fettige Handinnenfläche, an der paprikagewürzte Krümel kleben. Inzwischen ist es leicht, den Marker anzusteuern. Ich muss nicht mal mehr die Augen dafür schließen, nur den Nervenbahnen folgen und schon tritt das klar umrissene Rechteck hervor. Wie jetzt.
Mit den Lippen streiche ich über die silbernen Linien, lecke die Chipsreste herunter und lausche den vielfältigen Tonfolgen des Vogelgezwitschers. Ich höre, wie Jeremy die Verandatür hinter sich zuschlägt und über den Rasen zu seinen Freunden läuft.
»Gab nur noch Dr Pepper, Coke ist aus!«, kiekst er und ich muss lachen. Immer wieder verirrt sich Jeremys Stimme in viel zu hohe Lagen oder rutscht mitten im Satz in den Keller. Er ist im Stimmbruch und bald wird er seine erste Freundin mit nach Hause bringen. Morgen fährt Jeremy für einige Tage in ein Feriencamp: zelten, angeln, Feuer machen – nur so zum Spaß. Wie unbeschwert doch das Leben für ihn ist.
»Komm schon, Jeremy! Jetzt wirf halt!« Die Stimme seines Freundes, Steve, glaube ich. »Wie lange soll ich den Schläger noch halten? Mir fällt bald der Arm ab.«
»Hier, deine Pepper, fang!« Das war Jeremy.
»Und die Dose fliegt und fliegt. Was für ein Wurf!«, kommentiert ein anderer Junge. »Und Schlag!«
Au!
Mein Kopf fliegt nach hinten, schmettert gegen die Wand. Stechender Schmerz schießt in meinen Nacken. Die Dose hat mich mit Wucht an der Stirn getroffen, direkt über dem linken Auge. Als ich sie berühre, fühlt sie sich taub an.
Einen fassungslosen