Touch the Core. Die Tiefe berühren.. Thomas Andresen

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Название Touch the Core. Die Tiefe berühren.
Автор произведения Thomas Andresen
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783347012394



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Du nicht loslassen, weil Du Dich noch verantwortlich oder gar schuldig fühlst?

      Oder weil Du Dich als getrennt empfindest, zu niemandem oder nichts zugehörig?

      Hast Du das Gefühl, ein Opfer zu sein?

      Oder hast Du das Empfinden, vor lauter anderen wichtigen Dingen vergessen zu haben, Dein Leben zu leben?

      Neben oder wegen den Ängsten kommt dazu, dass der Tod in unserer Gesellschaft des Höher-Weiter-Schneller ein vernachlässigtes Thema ist, und wenn man mal darüber spricht, herrscht keine Einigkeit darüber, wie er zu verstehen ist.

      • Der klinische Tod ist vereinfacht gekennzeichnet durch den Ausfall der Atmungs- und Herz-Kreislauf-Aktivität.

      • Der Hirntod geht einher mit dem Ausfall aller auch nur reflexartigen Hirnfunktionen.

      • Vom biologischen Tod wird gesprochen, wenn der Verfall der körperlichen Strukturen einsetzt.

      All das sind Schlusspunkte, die dem Leben ein Ende setzen. Aber endet wirklich alles mit dem Tod, oder gibt es eine andere Form der Existenz danach? Oder was stirbt mit dem Tod und was nicht?

      Die grundlegende Frage in der Bewertung von Tod scheint die zu sein, die sich in dem Kontrast der Wörter „gestorben“ und „verstorben“ widerspiegelt. „Gestorben“ legt für mein Sprachgefühl eine Absolutheit nahe, „verstorben“ lässt den Raum offen für eine mögliche Transformation. Genau diese Transformation ist für mich der entscheidende Aspekt von Tod. Der Tod ist genauso ein Teil des Lebens wie die Geburt. Denn bei der Geburt bleibt der Mutterkuchen zurück, stirbt ein Teil des fötalen Lebens ab, damit das Baby in ein Leben außerhalb der Gebärmutter in die Welt hineingeboren werden kann. So eine Umwandlung durch Zurücklassen findet auch mit dem Tod eines Menschen statt. Ich stelle mir vor, dass unser Geist frei wird, zu reinem Bewusstsein wird. Zurück bleibt der unbelebte Leib, der Leichnam.

      Womöglich ist der Weg von der Lebendigkeit zum Sterben nur einer der vielen Rhythmen, die das Leben ausmachen. Unserem linearen Denken ist es geschuldet, dass wir von einer Bewegung ohne Richtungsänderung ausgehen – wir stellen uns den Lebensweg wie Bewegung in der Physik als Änderung des Ortes eines Objektes mit der Zeit vor. Doch das wogende, richtungsändernde Element des Lebens kommt so nicht zum Ausdruck. Tatsächlich ist unser Leben durch unzählige Rhythmen – innere und äußere – gekennzeichnet; zum Teil bestehen Abhängigkeiten oder Beziehungen zwischen den verschiedenen Rhythmen.

      • Einer der inneren Rhythmen ist die Zellaktivität. Die Zellen sind die kleinsten vitalen Elemente unseres Körpers, auch ihr Leben und ihre Teilung unterliegen einem Rhythmus. Dieser wechselt zwischen einem Zustand der Stoffwechselaktivität, der sogenannten Interphase, und den Phasen der Zellteilung, der Mitose. In der Interphase wird die Information der DNA in die Steuerung der Stoffwechselprozesse übersetzt. Für die Mitose hingegen ist die Zelle nicht stoffwechselaktiv. Die DNA liegt in spiraliger, komprimierter Form vor, um so auf die Tochterzellen verteilt werden zu können. Der eine Zustand ist dabei nicht besser als der andere, vielmehr sind beide notwendig, voneinander abhängig und nur Ausdruck von Lebendigkeit unterschiedlicher Art und Weise.

      • Die inneren Rhythmen der Herz-Kreislauf-Aktivität und unserer Atmung sind wichtige Kennzeichen unserer Vitalität. Im Prinzip ist jede Einatmung, jede Inspiration belebend. Die Dynamik entspricht einem Sich-groß-machen, einer zentrifugalen Ausdehnung. Jede Ausatmung, jede Exspiration ist ein zentripetales Sich-zurückziehen, Loslassen.

      • In der Ausschüttung bestimmter Hormone können weitere innere Rhythmen erkannt werden. Diese regulieren in unterschiedlicher Geschwindigkeit bestimmte wiederum rhythmische Körperfunktionen, beispielsweise den Schlaf-Wach-Rhythmus oder den Menstruationszyklus einer Frau.

      • Äußerlich beeinflussen uns beispielsweise kosmische Rhythmen wie der von der Erdbewegung abhängige scheinbare Lauf der Gestirne an unserem Himmel und die davon abhängigen Jahreszeiten, der Tag-Nacht-Rhythmus und die Gezeiten der Meere.

      Nicht nur wir selbst leben in Rhythmen, überall um uns herum sind sie zu erkennen. Da ist zum Beispiel das Meer, das Welle um Welle an den Strand spült. Im Lauf der Gezeiten von Ebbe und Flut zieht es sich von der Küstenlinie zurück oder nähert sich ihr an.

      Und doch scheint der Tod etwas Besonderes an sich zu haben: Stille. Beim klinischen Tod ist es still hinsichtlich des Atem- und Herzgeräusches und auch im Sinne einer äußerlich erkennbaren Bewegungslosigkeit. In der Aufzeichnung eines Elektrokardiogramms (EKG) ist dies durch die Nulllinie gekennzeichnet. Weiter geht die Transformation im hirnorganischen Tod. Hier kehrt zusätzlich Stille in Bezug auf jegliche Nervenaktivität ein. Dann findet man auch im Elektroenzephalogramm (EEG), der Darstellung der elektrischen Aktivität des Gehirns keine Kurve mehr, sondern nur noch eine Linie. Mit dem biologischen Tod setzt der Zerfallsprozess des Körpers ein – diese Umwandlung ist das Weiterleben der Natur, aber nicht dieses Menschen. Dessen Körper wurde seiner bisherigen Funktion entbunden und dient nun im Zerfallsprozess anderem Leben als Nahrung.

      Die Transformation im Tod hat also sehr viel mit Stille zu tun, und Stille macht uns Angst. Wiederum ist unser lineares Denken der Stolperstein. Denn mit einem Lebenskonzept, in dem es darum geht, sich im Verlaufe des Lebens von Startpunkt A geradlinig zu einem Ziel B zu bewegen, ist Stille bedrohlich. Denn wenn entlang dieser Linie keine Bewegung stattfindet, kommt man in diesem Konzept niemals an. Hier ruht anteilig die Ursache für die Angst vor dem Tod. Deswegen fällt es den meisten von uns leichter, Vollgas zu geben und aktiv zu sein, als einfach still zu sein. Denn die Stille ist es, in der die Gespenster im Kopf erwachen und die für Manchen die Nacht bedrohlich sein lässt. Erkennst Du aber, dass Dein Leben in seiner Rhythmizität ein Pendeln zwischen zwei Polen ist, und Dein Weg dieser Pendelbewegung durch Raum und Zeit entspricht, so geht jeder Umkehrpunkt zwangsläufig mit einem Moment der Bewegungslosigkeit und Stille einher. Von diesem aus eröffnet sich Dir beständig Neues.

      Leben ist Rhythmus; Tod bedeutet für uns Bewegungslosigkeit und Stille. Doch jedes Pendel zeigt uns: Gerade an den Wendepunkten des Pendels ist es bewegungslos und still – bevor es wieder eine weitere Schwingung ausführt.

      Leben und Tod müssen also nicht als Gegensätze begriffen werden, sondern haben nur eine rhythmische oder polare Qualität. Polarität hat nichts zu tun mit dem Gegenteil oder mit Dualität, denn es geht nicht um die Beschreibung von etwas sich voneinander Trennendem oder Gegenüberstehendem. Hegel definierte die Polarität als „von einem Unterschiede, in welchem die Unterschiedenen untrennbar sind“. So wie es ohne Licht keinen Schatten geben kann und keinen Pluspol eines Magneten ohne Minuspol. Polarität begegnet uns überall im Leben, angefangen mit Mann und Frau. Polarität verbindet als Prinzip die Teile auf höherer Ebene – in letzterem Fall wäre das der Mensch.

      Das Leben, in der Osteopathie der Breath of Life (Atem des Lebens) genannt, liegt in der Mitte zwischen den Polen von Kosmos und Chaos. Beständig pendelt dieser Atem zwischen den beiden Polen hin und her, immer wieder bereit, umzukehren. Zu schwingen zwischen Innen und Außen, zwischen Expansion und Retraktion, zwischen zentripetal und zentrifugal, zwischen Mikro und Makro, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Geben und Nehmen.

      Es geht nicht darum, die Pole als gut und schlecht zu bewerten, als angenehm und unangenehm, schön und hässlich, leicht und schwer, sondern mittels des Prinzips des Sowohl-als-auch die jeweils nächsttiefere verbindende Ebene zu erkennen. Dort kannst Du zu einer Wahrnehmung kommen, die die Unterschiede lediglich als Varianten von ein und demselben Thema erkennbar macht.

      Unser wertendes Denken stellt uns eine Falle: Wir wollen Polaritäten immer in „gut“ oder „schlecht“ einteilen. Das kann uns zwar Orientierung geben, andererseits wird alles auf ein Entweder – Oder reduziert. Dies limitiert die Variationsbreite der Handlungsmöglichkeiten.

      Zurück zu den Rhythmen: Im Herbst welken die Blätter, die Kraft zieht sich in den Boden zurück – um im nächsten Frühjahr wieder aufs Neue zu erblühen. Weil auch unser Leben in diesen Rhythmen verläuft, wissen wir: Keine Krankheit, kein Schmerz, kein Leid wird ewig währen, noch wird die größte Anstrengung es ermöglichen, in einem kontinuierlichen Flow zu leben. Was es braucht, ist die Erweiterung des Blickwinkels, das Hinauszoomen. Die Entfaltung