Название | Der Seele tiefer Grund |
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Автор произведения | Beate Berghoff |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347094444 |
Martin blickte sich um. Eigentlich war der Friedhof sogar ein wunderschöner Ort. Er betrachtete den knospenden Haselstrauch und versuchte, ihn in seiner ganzen Schönheit wahrzunehmen. Martin lächelte. Er musste an die vielen Geschichten denken, die seine Mutter ihm über den heiligen Haselstrauch erzählt hatte, und natürlich über den Holunder. Er sah sich um, ob er wohl auch einen Holunderbusch gab, und natürlich wurde er fündig. Der heilige Baum der Frau Holle. Seine Mutter hatte gewusst, wie man Krankheitsgeister in den Holunder bannen konnte. Viele Gebrechen gab es, gegen die man nichts tun konnte, für die es keine Erklärung und auch kein Heilmittel gab. Seine Mutter hatte, meistens heimlich, die Krankheitsgeister mit rot gefärbten Wollfäden bei abnehmendem Mond in den Holunder gebannt. Natürlich durfte man dann den Holunder nicht einfach schneiden, es hätte die Krankheiten freigesetzt. Sie hatte mit den Haselstecken auch behexte Rinder entzaubert oder Frauen damit behandelt, die sich ein Kindlein wünschten.
Die Leute hatten sie eine Lachsnerin geheißen, aber sie hatte das nicht so gerne gehört. Die Leute gingen zu weisen Frauen und ließen sich helfen, bezahlten auch für die Dienste, aber wenn etwas Ungutes geschah, waren oft die Lachsnerinnen diejenigen, die als erstes verdächtigt wurden. Wenn Vieh krank wurde und starb, wenn ein Mann impotent oder eine Frau unfruchtbar war, wenn es Unwetter gab oder eine Seuche ausbrach oder ein Kind missgebildet zur Welt kam, dann brauchten die Leute immer jemanden, der schuld war. Und oft waren es dann die weisen Frauen, oder einfach Menschen, die anders waren. Wenn etwas passierte, was sich die Leute nicht erklären konnten, dann brauchten sie jemanden, den sie dafür verantwortlich machen und strafen konnten, um ihre eigene Angst zu beruhigen. Das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so bleiben, dessen war sich Martin sicher. Seine Mutter hatte ihr Tun deswegen immer bedeckt gehalten. Genutzt hatte es ihr auch nichts, Heinrichs Vater hatte sie trotzdem getötet, weil sie das falsche Kind großgezogen hatte. So viel Unrecht war geschehen, und er konnte nichts dagegen tun.
Martin ertappte sich dabei, dass er wieder über alten Kummer nachdachte. So würde er seine Seele nie überschreiben können. Er dachte wieder an die Heilkünste seiner Mutter und ihre Kenntnisse der alten Bräuche und des alten Wissens und bemerkte, wie sein Herz zog.
Natürlich würde er Bruder Alban davon nichts erzählen, der würde das sicher nicht verstehen. Für ihn war der Haselstrauch etwas Anrüchiges, eine Pflanze, die die Wollust anregte und zur Sünde verführte. Wenn es nach Alban ginge, würden keinerlei Pflanzen mehr auf Rabenegg gedeihen, die in irgendeiner Form heilten oder mit denen die Leute alten Zauber trieben. Martin musste noch mehr lächeln. Wenn Alban wüsste, was die Leute so alles trieben mit alten Bräuchen, alten Sprüchen, alten Zaubern! Sicher ahnte er, dass die Leute an den alten heiligen Tagen in den Wald gingen und den Naturgeistern Geschenke brachten oder die Fruchtbarkeit feierten. Sicherlich wusste Alban, dass die Leute Amulette trugen und Schutzzauber gebrauchten. Er wusste es, aber sicherlich war er noch nie dabei gewesen. Sein Lehrmeister wäre entsetzt, und Martin konnte sich lebhaft Albans Gesicht vorstellen, wenn er seine Mutter zum Kräutersammeln oder auf Krankenbesuche begleitet hätte. Also würde er diese Dinge einfach nie ansprechen. Er hoffte, dass er irgendwann einmal eine Frau finden würde, die genauso weise und gutherzig und kenntnisreich war wie seine Mutter.
Eine Eibe fand er auch, den Totenbaum. Fasziniert betrachtete er die roten Früchte. Wie schön sie aussahen! Sie waren wunderschön, und doch: die Früchte konnten töten, sie waren giftig. Martin sinnierte vor sich hin. Es war oft so, dass etwas wunderschön aussah und doch giftig war. Die Tiere wussten das, sie hielten sich von Gift fern. Menschen fielen oft darauf herein und nahmen das schöne Gift, in Form von Pflanzen aber auch in Form von anderen Menschen. Viele Menschen waren Gift und hatten doch ein schönes Äußeres. Viele Menschen, das wusste Martin aus Erfahrung, konnten nach außen hin sehr freundlich und gütig wirken oder sich sogar als heilig verehren lassen, und doch waren sie Gift. Das hatte ihm die Mutter auch schon immer gesagt: „Traue Deinem Bauchgefühl.“ Wie bei den Tieren weiß das Bauchgefühl, ob etwas giftig ist oder nicht. Martin hatte versucht, sich daran zu halten, allerdings hatte er die letzten Jahre dem Gift nicht entkommen können. Manche Dinge konnte man einfach nicht ändern, man musste sie aushalten.
Martin konzentrierte sich auf die Schönheit um sich herum. Schönheit war überall, man musste sie nur sehen. Er blickte auf das Grab und versuchte es so zu sehen, als sähe er es das erste Mal. Der Stein wies ein leichtes Rosa auf, die Namen von Heinrichs Eltern waren eingraviert, ebenso ein Spruch. Martin versuchte, den Spruch zu lesen, aber es ging nicht. Vermutlich war es Französisch. Das Grab selbst war mit kleinen Brocken von dem rosa Stein eingefasst und liebevoll gepflegt. Eine Statue der Heiligen Mutter Maria stand auf dem Grab, vor ihr lag ein großer Rosenkranz aus Muscheln. Einige Gänseblümchen lugten freundlich aus der Erde. Das Grab war in einem guten Zustand, vermutlich ließ Heinrich es sorgfältig pflegen. Martin nahm die Liebe wahr, die von diesem Ort ausging. Vermutlich hatte Heinrich seine Mutter genauso geliebt wie Martin seine eigene Mutter, die Müllerin.
Martin hatte nie richtig um seine Familie trauern können. Man hatte ihn aus seinem Leben herausgerissen und ihn den Leuten ausgeliefert, die ihn hassten. Er war erstarrt und hatte getan, was man ihm sagte. Arbeiten, arbeiten, und schwer arbeiten. Er hatte Schmerzen ertragen, Angst, Hunger und Einsamkeit. Getrauert hatte er nie. Martin wusste gar nicht, ob es von seiner Familie überhaupt ein Grab gab. Die Mühle war etwas abseits des Ortes gelegen. Gefunden hatte man die Toten gewiss, der Müller hatte jeden Tag Kundschaft gehabt. Hatte man ihnen ein richtiges Grab mit Totenfeier gegeben, oder hatte man sie nur verscharrt? Martin wusste es nicht. Eine seiner Schwestern, Affra, hatte überlebt, weil sie schon 17 Jahre alt war und nur ein paar Monate vorher geheiratet hatte. Ob sie wohl noch lebte?
Martin ließ seinen Blick wieder über das Grab schweifen, und dann weiter zu Heinrich. Heinrich schien tief in ein Gebet versunken und Martin versuchte auch, zu beten. Er beschloss, für seine Eltern und seine Geschwister zu beten. Sicherlich waren sie im Himmel, und das gab ihm Trost. Seine Eltern waren gute Leute gewesen, sie hatten nichts zu befürchten im Jenseits.
Er hörte ein Geräusch und drehte den Kopf. Heinrich weinte! Zuerst wusste Martin nicht, was er tun sollte, dann legte er ihm scheu seine Hand auf den Arm.
Heinrich sah in an und schluchzte: „Ich vermisse sie so. Und ich kann gar nicht richtig beten, weil mein Vater auch dort beerdigt ist. Er hat es nicht verdient, neben meiner Mutter zu liegen, er hat sie umgebracht!“
Martin schluckte. Ja, es war wohl so. Heinrichs Vater hatte zwei Mütter auf dem Gewissen: die von Heinrich und auch die Seine. Was für ein Ungeheuer.
Er hätte Heinrich gerne in den Arm genommen, wagte es aber nicht. Er kam jedoch näher, legte seinen Arm auf Heinrichs Rücken und blieb einfach stehen, bis er sich ausgeweint hatte. Irgendwann wischte Heinrich sich mit seinem Ärmel den Schnodder aus dem Gesicht und begann, Martin über das Grab zu erzählen. Die Marienstatue und der Rosenkranz aus Muscheln waren aus dem Heimatland seiner Mutter, der Bretagne. Auch die Steine waren von dort, es war rosa Granit.
Heinrich erzählte Martin von der Bretagne, vom Essen dort, von der Musik, von den Leuten, vom Duft der Blumen, von den großen Steinen aus alter Zeit, vom Meer und vom Wind, vom Geschrei der Möwen und von den unglaublich schönen Sonnenuntergängen über den Felsen am Meer. Die Sehnsucht klang aus seinen Worten und Martin sehnte sich auch nach diesem schönen Land, ohne es zu kennen. Vielleicht hatte ihm die Frau, die ihn geboren hatte, diese Sehnsucht nach der Heimat ins Herz gepflanzt. Er sagte Heinrich das auch so, und Heinrich versprach, mit ihm eines Tages nach Frankreich zu reisen und mit ihm zusammen die Bretagne zu besuchen. Sie würden im Meer baden und Muscheln suchen, frischen Meeresfisch essen und am Abend wunderschöner Musik zuhören.
Frankreich war das Heimatland der Troubadoure gewesen, und viele Edelmänner dort waren stolz darauf, selbst zu musizieren. Heinrich erzählte dem hingebungsvoll lauschendem Martin von den Kreistänzen und der Musik dazu, gespielt mit Sackpfeife und Schalmei oder Flöten und Trommeln.
Heinrich hörte gar nicht mehr auf zu reden und schwärmte Martin von den frischen und süßen Früchten dort vor, es gab Nektarinen, Aprikosen, Trauben, Erdbeeren, Pfirsiche, Himbeeren, Zuckermelonen und eine Frucht, die Martin bis dahin