Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha

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es sich in üppigem Schlendrian verflüchtigt, wenn es keinem edlen Streben geweiht wird, dann merken wir erst unter dem Drucke der letzten Not, dass es vorüber ohne dass wir auf sein Vorwärtsrücken achtgegeben haben. So ist es: nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch.7

      Ich hätte es mir denken können. Was schon im alten Rom nicht richtig erfolgreich war, wie sollte es mir gelingen. Aber ist es denn schon zu spät? Oder reicht es noch für herrliche Taten? Naja, die Lebenszeit, mit der ich zu oft verschwenderisch umgegangen bin, im jugendlichen Irrtum befangen ewig zu leben, lässt sich nicht zurückholen und ein Reset-Button ist nicht vorgesehen. Der Philosoph hatte recht, wenn er meinte, dass die Natur sich als gütig erwiesen habe und das Leben lang sei, wenn man es recht zu brauchen wüsste. Und dank der modernen Medizin und ihren gesunderhaltenden und regenerierenden Techniken wird es ja eher länger, sagen die Leute. Nur statistisch betrachtet natürlich. Ganz zu schweigen von den Nahrungsergänzungsmitteln mit den hoch dosierten Vitaminen und Mineralstoffen, die mir immer wieder schwärmend und werbend empfohlen werden, von Bekannten, die sich durch den Vertrieb dieser Wundermittel mit satten Erfolgsprämien nur ihre Rente aufbessern wollen.

      Also jetzt aufgepasst! Es herrscht absoluter Änderungsbedarf. Aber was muss ich ändern? Was soll ich tun, damit die Spanne Lebens, die mir noch bleibt, ein wahres Leben ist und nicht bloße Zeit, die aus der Wanduhr tropft? Zeit, in der die Erwartungen mehr und mehr schrumpfen und die Erinnerungen wachsen …

      Zunächst einmal, vor allen euphorischen Plänen, muss ich Dank sagen. Dank dafür, dass ich die Krisen meines Lebens mit Hilfe meiner Lebenspartnerin so gut bewältigen konnte. Natürlich haben sie tiefe Narben hinterlassen, die gelegentlich noch schmerzen. Dank auch meinen Eltern für ihre Erziehung und die meist unbeschwerte Jugend. Dank, dass ich die strenge katholische Unterweisung mit ihren hohen Ansprüchen an ein Leben ohne lässliche, schwere oder gar Todsünden in Gedanken, Worten und Werken, unter Strafandrohung mit Fege- und Höllenfeuer, mit ertragbaren seelischen Blessuren überstanden habe. Dank meinen Ausbildern, Lehrern und Dozenten, dass sie mir meinen Hürdenlauf der Bildung erleichtert haben. Dank den Vorgesetzten, den guten nur, den Ärzten, auch nur den guten, und all den vielen Helfern, die für mich tätig waren. Dank auch für alle die Menschen und Freunde, die mich liebevoll begleitet haben. Dank für die Möglichkeit, das Leben im Alter nicht in Armut verbringen zu müssen, ein Heim zu haben und andere Menschen unterstützen zu können. Und, und, und …

      Und jetzt sofort an die Planung der herrlichen Taten.

      Eines ist sicher, den roten Sportwagen kaufe ich mir nicht. Obwohl dieser 911 Speedster ein Jugendtraum war. Aber deine Bandscheiben, deine Gelenke, unkt wieder der Pessimist, die machen das ja nicht mehr mit, vom Ein- und Aussteigen nicht zu reden. Und es sieht doch lächerlich aus und macht dich auch nicht jünger. Komisch, aber der Optimist gibt ihm, in seltener Einigkeit, diesmal recht. Das rote Modell auf meinem Schreibtisch muss genügen.

      Nein, das also nicht, aber Bücher. Ohne Bücher will ich nicht leben. Sie sind für mich ein unentbehrliches Mittel, mich aus der Endphase meines Erdendaseins zu entführen, wenn die Phantasie allein nicht mehr ausreicht, die von der Festplatte in meinem Hirn aus der Vergangenheit versorgt wird.

      Auch die Kunst möchte ich keinesfalls missen, die Dichtung, die Musik, die Malerei, die Vorträge, Theater, Konzerte, Opern, Galerien …

      Die Geschichte, Altertum, Mittelalter, Neuzeit soll im Blickpunkt meines Interesses bleiben. Die Werke der Romanik, Gotik, Renaissance, des Barock und Rokoko ganz sicher.

      Nicht zu vergessen die Natur im Wandel der Landschaften und Jahreszeiten, die Blumen, die Bäume, die Tiere, die Berge, die Wälder, Wiesen und Seen …

      Besondere Bedeutung aber kommt der Begegnung mit den lieben Menschen zu, die mich noch auf meiner kürzer werdenden Wanderung begleiten, die mitmachen bei meinem Altwerden. Der Austausch von Gedanken, Gespräche, ernste, lustige, witzige, streitbare, interessante Diskussionen, gegenseitige empathische Anteilnahme, Hilfe und Trost in der Not werden helfen, diesen Weg solange wie möglich gemeinsam nach vorne zu gehen.

      Aber jetzt nur nicht in Hektik verfallen, in der neuen Euphorie nicht übertreiben. Auch im Müßiggang kann Weisheit liegen, verspricht zumindest Robert Louis Stephenson. Ruhig, bedacht und ohne Stress die richtige Auswahl treffen. Mit dem goldgleichen Gut Zeit nicht mehr so verschwenderisch umgehen, besser so wie der Philosoph und Grabredner Søren Kierkegaard empfiehlt: „Es gilt jeden Tag zu leben, als wäre er der letzte.“

      Das Wichtigste jedoch in diesem letzten, auch von manischen und depressiven Tagen gekennzeichneten Abschnitt meines Lebens, ist für mich, dass ich ihn möglichst lange gemeinsam mit meiner lieben Frau gehen kann. Denn ich weiß, es wird einsam werden auf den letzten Schritten. Dann werde ich wieder die Stille hören und frieren, dann, wenn meine Freunde alle gegangen sind. So wie Mephisto es mir prophezeit hat.

      Oh, jetzt hätte ich beinahe das Wichtigste vergessen, das, worüber ich heute noch so ungern etwas hören will, den Tod. Nicht nur meinen eigenen.

      Ich möchte hier den griechischen Philosophen Epikur zu Wort kommen lassen:

      So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.

      Den Knochenmann mit der Sense und dem Stundenglas, gibt es ihn überhaupt? Wenn ja, dann ist es nicht der Tod, sondern mein Tod. Ich beanspruche ihn für mich. Er gehört mir, wie mein Leben. Er kommt aus der Mitte meines Seins, genauso wie der Mittelpunkt meines Universums immer da ist, wo ich bin. Und eigentlich bin ich ja unsterblich, ich werde immer da sein. Keines der Moleküle und Atome meines Leibes, Sternenstaub, wird je vergehen, sie werden da sein, solange die Erde nicht verglüht, aber auch danach, im Universum, nur nicht im geordneten, beseelten Verband. Aber das ist ja nicht so wichtig. Für das Universum.

      Noch ist er nicht hörbar, der Schnitter. Noch lebe ich meist so, als gäbe es ihn nicht, versuche die Gedanken an ihn zu verscheuchen. Doch manchmal kommt doch die Angst in mir hoch, auf der letzten Stufe meiner Lebenstreppe, zurück in die frühe Kindheit, in die Windeln zu müssen. Die Angst meine Selbstständigkeit zu verlieren, abhängig zu sein, die Angst vor Schmerz und Leid und Einsamkeit. Und wäre er dann nicht doch ein gern gesehener Gast?

      Warum fällt mir jetzt gerade „Der Brandner Kaspar und das ewig Leben“ ein? Der 74-jährige Schlosser aus der Erzählung von Franz von Kobell, dem es gelang, mit dem Tod so lange „Kerschgeist“ zu trinken, bis der einen in der Krone hatte, um ihm dann im Kartenspiel noch zusätzliche 18 Jahre Lebenszeit abzuschwindeln.

      Versuchen könnte ich das ja einmal. Der Schnaps sollte auf jeden Fall jederzeit bereitstehen.

      Doch dann beginnt wieder so ein Tag, an dem die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Wenn ich am See sitzen kann – ein Weißbier vor mir – und die Gipfel der Berge sehe, schneebedeckt im Süden, dann flammt der Hoffnungsfunke wieder mächtig auf und der Gevatter ist hinter den Horizont verbannt.

      Aber dann kommt wieder so eine Einladung eines ehemaligen Schulkameraden, sich noch einmal einzufinden in der alten Domstadt an der Donau, in der es die besten Bratwürste der Welt gibt, und ich muss damit fertig werden, dass der eine oder andere meiner Mitläufer, auf unserer Aschenbahn zum Ziel der Reife, aus dem Rennen geschieden ist. Nun ja, der Schnitter mäht, auftragsgemäß, nach seinem besonderen Plan, Halm um Halm. Vielleicht, und es liegt nicht in meiner Hand, geht es mir einmal so, wie dem 94-jährigen Anhalter in dem Liedertext des bairischen Mundartdichters und Professors für Pädagogik Helmut Zöpfl, der auf der Fahrt zu seinem Klassentreffen vom Fahrer des Autos