Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha

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Anlass, mein Alter mit der durchschnittlichen Lebenserwartung des Mannes von heute zu vergleichen. Die Anzahl der Lebensjahre soll ja ansteigen, sagt auch unser Bundespräsident. Aber selbst mit meinem bescheidenen Wissen ist mir völlig klar, dass dieser kletternde Wert nur ein statistischer sein kann. Gültig für eine sehr große Zahl von Probanden. Also praktisch nicht für mich, auch nicht für dich, sondern nur für uns alle in summa, und da wird es Gewinner und Verlierer geben müssen.

      Trotzdem, solange ich nicht weiß, ob ich ein lebensverkürzendes Übel mit mir herumtrage, was auch nur eine Frage genauerer ärztlicher Untersuchung wäre, oder ein unvorhersehbares Unglück mir den Löffel abnimmt, wirkt die Nachricht wie ein Blasebalg, der einen glimmenden Funken Hoffnung immer wieder vor dem Erlöschen bewahrt.

      Und jedes Mal kommt mir dann diese Rechnung in den Sinn: Mutter 95, Vater 81, das sind zusammen nach Adam Riese 176. Teile ich das nun durch zwei, wird der Funke Hoffnung, der ja immer zuletzt sterben soll, spätestens mit mir zur Flamme. Mit dem Ergebnis, träfe es denn ein, könnte ich mich, von heute aus betrachtet, noch einigermaßen abfinden. So flüstert wenigstens zuversichtlich mein innerer Optimist. Der Pessimist in meinem Gehirn ist da völlig anderer Meinung und plärrt mir wieder statistisches Grundwissen ins Ohr, von Risiken und so. Doch der Optimist lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Der Rudi, der Gundolf, der Walter, der Gerhard, auch der Otto, meine Freunde, der Karl-Heinz, der Gunther, meine Kollegen, wenig älter, etwa gleich alt oder sogar jünger, sie sind schon gegangen. Rein statistisch gesehen ergäbe das doch – wenn ich genau überlege – für mich, Risiko hin, Risiko her, eine Chance oder? Wegen der Statistik raunt der Optimist. Träum weiter, keift der unangenehme ewige Verneiner.

      Obwohl, ich meine, da hat der ja recht. Ja, ich neige dazu, ihm mehr und mehr zu glauben. Aber wer träumt nicht lieber einen schönen Traum als einen Alptraum?

      Genieße den Tag, raten die Lebens- und Glücksberater in ihren Büchern, und ich möchte gern zustimmen. Aber wie viele Tage werden es noch sein, die genießbar sind? Wie viele Wochen, Monate, Jahre? Gut, dass ich das nicht weiß.

      Das seltsame Gefühl lässt mich einfach nicht los, dass mit der Zeit etwas nicht mehr in Ordnung sein kann. Heute sind die Tage kürzer. Sie vergehen wie im Fluge. Hat das vielleicht doch etwas mit diesem Albert Einstein zu tun? Mit seiner Theorie von der Relativität der Zeit? Er behauptet doch, wenn ich richtig gelesen habe, ich müsste mich nur schneller bewegen, dann würde die Zeit weniger schnell vergehen. Ich würde langsamer altern. Das habe ich mehrmals versucht; es hat nicht geholfen.

      Jedenfalls dauern die Winter, auch wenn sie keine richtigen mehr sind, jetzt gefühlt länger und die Sommer erscheinen kürzer.

      Hugo von Hofmannsthal schrieb für die Oper Der Rosenkavalier von Richard Strauss:

      Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder, lautlos wie eine Sanduhr.

      Dass sie in den Gesichtern rieselt, das sehe ich manchmal beim Betrachten alter Bekannter, denen ich nach längerer Zeit wieder einmal begegne. Die sehen teilweise richtig – ich will mal so sagen – sehr gereift aus. Wahrscheinlich behaupten die das auch von mir. Was den Blick in den Spiegel betrifft, er zeigt mir täglich, dass sie recht haben. Und trotzdem erklären neuerdings einige Physiker, dass es die Zeit gar nicht gebe, dass sie reine Illusion sei. Ja vielleicht, denn die Zeiger der Uhr überstreichen doch nur eine Fläche auf ihrem Rundkurs über das Ziffernblatt. Das soll also die Zeit sein? Ich muss es glauben. So wie ich glauben muss, dass ein bedruckter Fetzen Papier einen Wert von fünf, zehn, zwanzig, hundert oder mehr Euro haben kann.

      Aber auch Augustinus hatte so seine Zeitprobleme:

      Mein Leben bestand also bis heute, wenn ich Augustinus richtig interpretiere, zunächst einmal aus einer gehörigen Portion Vergangenheit: Kindheit im Weltkrieg, Jugend, Verliebtheit, Enttäuschung, Abitur, Militär, Studium, Segelkurs, Liebe, Hochzeit, zweites Studium, Beruf, schöne Tage; Bücher lesen, Franz Marcs gelben Tiger und das blaue Pferd bewundern; Krisen, Hausbau, schöne Tage, wieder Krisen, Pensionierung, depressives Loch, daraus herausklettern; Bücher schreiben, Bücher lesen, Freunde treffen, Feste feiern, Medikamente schlucken, Fieber messen, Südtirol genießen; La Traviata, Silberhochzeit, Goldene Hochzeit, Figaros Hochzeit, gute Tage, schlechte Tage, Freunde verlieren, an Gräbern stehen, Tiefs und Hochs …

      Es besteht aus der Gegenwart. Doch was bedeutet sie, diese gegen Null gehende Zeitspanne auf der Atomuhr, viel kürzer als ein Lidschlag, die schon vorbei ist, kaum dass sie begonnen hat und alles Geschehen und Erleben postwendend in die Vergangenheit entsorgt. Nein, entsorgt ist nicht das richtige Wort, in den „Speicher“ verschiebt klingt moderner, denn die Sorgen sind ja noch da, in der Datei abgeheftet und können jederzeit wieder abgerufen werden.

      Und es wird bestehen, so Gott will, aus einer kleinen Portion Zukunft, die im Moment gerade begonnen hat und sich verhält wie die Wunschhaut des Wildesels in Balzacs Roman „Das Chagrinleder“, die bei jedem erfüllten Begehren schrumpft wie die Lebenszeit ihres Besitzers.

      Diese verbleibende Zeit wird anders sein als die vergangene. Wie stelle ich sie mir vor? Wird sie langsam verrinnen wie der Sand im Stundenglas? Oder wird sie rasen wie der Sekundenzeiger einer Stoppuhr? Und wird sie mir noch etwas bieten können, was Herz, Sinne und Gemüt erfreut?

      Natürlich, die „wilden“ Jahre sind vergangen. Die kommen auch nicht wieder. Die Schmetterlinge im gerundeten Bauch sind träge geworden. Schlaflose Nächte haben nicht mehr die Ursachen der jungen Jahre. Die Muskeln verweigern den Berg und freuen sich auf ebene Wege. Sie „katern“ schon bei wenig Sport. Die Sehnen sind verkürzt, die Adern enger. Die Gelenke ächzen, schmerzen schon bei kleinen Biegewinkeln. Das Fahrrad hängt an der Steckdose. Der Atem wird kürzer, der Lift zur Regel. Die Essensportionen in den Gaststätten kommen zu groß aus der Küche. Auch ist die erregende Zeit längst vorbei, in der ein Blick in die Augen einer Frau gelegentlich eine Reaktion sichtbar werden ließ. Die Jungen sagen sowieso, wenn sie nett zu mir sein wollen, Opa, wenn nicht, dann nennen sie mich einen alten Sack.

      Da stellt sich mir auf einmal dringend die Frage, was ich tun muss, tun kann und tun werde, wie ich die letzte Phase meines Lebens gestalten soll, will und kann, in dem sicheren Wissen, dass der verbliebene Rest, mit an Unsicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nicht mehr sehr lang sein wird. Oder soll ich gleich resignieren? Goethe meinte ja, dass man jung sein müsse, um große Dinge zu tun.

      In der berühmten Schrift des antiken Dichters und Philosophen Lucius Annaeus Seneca De brevitate vitae können wir lesen:

      Beim Lesen dieser Gedanken stelle ich fest, dass auch ich, zwar nicht zu den hoch angesehenen Männern, aber zu dem „großen Haufen“ gehöre und immer öfter über dieses Übel jammere. Was läuft da schief? Was mache ich falsch? Seneca meinte dazu: