terrane Manifestationen. Klaus Paschenda

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Название terrane Manifestationen
Автор произведения Klaus Paschenda
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783749782543



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wie ungläubige Geister angeschaut, als Geniè begann, aus einem Buch vorzulesen. Das ging während einer Businesspräsentation doch nicht! Wo waren denn da die Punkte, die zu Geld führten? Aber sie las vor:

      Es scheint mir, daß ich jetzt auf einem Stuhl sitze, an einem Tisch von bestimmter Gestalt, auf dem ich beschriebene oder bedruckte Papiere sehe. Wenn ich meinen Kopf drehe, sehe ich vor dem Fenster Gebäude, Wolken und die Sonne. Ich glaube, dass die Sonne etwa 150 Millionen Kilometer von mir und der Erde entfernt ist, daß sie eine heiße Kugel und sehr viel größer als die Erde ist, daß sie dank der Erdumdrehung jeden Morgen auf- und noch bis in die ferne Zukunft aufgehen wird. Ich glaube, daß, wenn irgendein anderer normaler Mensch in mein Zimmer kommt, er dieselben Stühle, Tische, Bücher und Papiere sehen wird, die ich auch sehe, und dass der Tisch, den ich sehe, derselbe ist wie der Tisch, dessen Druck gegen meinen aufgestützten Arm ich spüre.

      Es lohnt sich eigentlich kaum, dies alles so ausdrücklich zu betonen, außer wenn ich es mit jemandem zu tun habe, der zweifelt, ob ich überhaupt etwas weiß. …

      Obwohl ich glaube, daß der Tisch ‚in Wirklichkeit‘ überall die gleiche Farbe hat, sehen die Stellen, die das Licht reflektieren, viel heller aus als die übrigen, einige Stellen erscheinen in Folge des reflektierten Lichts sogar weiß. Ich weiß, daß andere Stellen das Licht reflektieren werden, wenn ich mich bewege; die scheinbare Verteilung der Farben auf dem Tisch wird sich bei jeder Bewegung, die ich mache, verändern. …

      Aber die anderen Farben, die unter anderen Verhältnissen erscheinen, haben ein ebenso gutes Recht, für ‚wirklich‘ genommen zu werden, und deshalb müssen wir - um den Verdacht der Begünstigung zu vermeiden – leugnen, daß der Tisch, für sich genommen, irgendeine bestimmte Farbe habe.

      Dasselbe gilt für die Struktur der Oberfläche. Mit dem bloßen Auge kann man sehen, wie die Fasern des Holzes verlaufen, aber im Übrigen sieht der Tisch glatt und eben aus. Wenn wir ihn durch ein Mikroskop betrachteten, dann würden wir

      Unebenheiten bemerken, Erhöhungen und Vertiefungen und allerlei Unterschiede, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Wann sehen wir den ‚wirklichen‘ Tisch?

      Mit der Gestalt des Tisches steht es nicht besser. Wir haben alle die Gewohnheit, Urteile über die ‚wirkliche‘ Gestalt von Dingen abzugeben, und wir tun das so gedankenlos, daß wir uns einbilden, wir sähen tatsächlich die wirklichen Gestalten. Aber wenn wir versuchen, etwas zu zeichnen, müssen wir alle lernen, daß ein bestimmter Gegenstand von jedem Blickpunkt aus eine andere Gestalt hat. Wenn unser Tisch ‚in Wirklichkeit‘ rechtwinklig ist, wird er von fast allen Blickpunkten so erscheinen, als ob seine Platte zwei spitze und zwei stumpfe Winkel hätte. …

      Der wirkliche Tisch – wenn es einen gibt – ist uns überhaupt nicht unmittelbar bekannt, sondern muß etwas sein, dass aus dem uns unmittelbar Bekannten erschlossen worden ist.8

      Wie vermutet, war dann in einer Spontanphase allerlei an wirren und weniger wirren Gedanken aus den Köpfen der Zuhörer hervorgestoben. Nach Kaffee und Luftholen musste sie den Geschäftlern versprechen, die Lösung für das Tischproblem zu liefern. Nur eine junge Dame mit einem ziemlich langen, komplizierten Nachnamen blieb ruhig und schrieb die eine oder andere Notiz auf ein hochwertiges Tablet. Die Investoren hatte sie als Wirtschaftsjuristin vorgestellt. Den wohl griechischen Namen Konstantineopulos konnte man sich kaum merken. Sie war die Einzige, die das Geschehen wie teilnahmslos verfolgte. Ihre Augen funkelten in einem dunklen Türkis. Geneviève war sicher, dass sich dahinter ein Vulkan verbarg, der, falls notwendig, alles vorhandene mit Lava bedecken würde. Also Vorsicht, denn eine gute Lösung zum Tischproblem hatte Geniè nicht. Sie wusste nur, dass vor Jahren in Deutschland jemand einen brauchbaren Workaround9 entwickelt hatte.

      Der ‚wirkliche Tisch‘ war aber nur ihre Einleitung zur Funktion des ZTT. Was im Kopf des Herrn Russell vorgegangen war, hatte sie in die Technik übertragen:

      „Nehmen Sie an, eine Person, ich nenne sie Alice, macht ein Foto von dem Tisch. Alice registriert, fotografiert diese, ihre spezielle Sicht des Tisches. Die anderen Sichtweisen bleiben erhalten und könnten von Bob, Charlie oder wem auch immer erfasst werden. Nur die Sichtweise von Alice ist blockiert, denn sie steht ja da mit ihrer Kamera. Ihre Position kann kein anderer einnehmen. Jetzt vereinfachen wir das System: Der Tisch steht so, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, ihn zu fotografieren.“

      Um das Gesagte bezüglich zweier Sichtweisen zu veranschaulichen, zeigte sie eine Grafik. Ein rechteckiger Kasten wird von Alice und Bob unterschiedlich gesehen.

      Den Gedankengang führte sie dann weiter: „Es gibt eine Sichtweise, die durch Alice belegt ist, und eine andere, die in der Abbildung Bob eingenommen hat. Zwischen beiden besteht eine Verbindung: Das ist der Tisch. Wenn Alice sich mit einer Sichtweise beschäftigt, kann Bob nur die zweite sehen. Beide Sichtweisen zusammen sind ein System. Genau in dem Moment, wo Alice sich für eine Position entscheidet, hat Bob keine Wahl mehr.

      Das ist das Entscheidende: Die Auswahl von Alice ist mit den Möglichkeiten von Bob verschränkt, wie man fachsprachlich sagt. Wählt Alice Sichtweise 1, bleibt Bob nur Sichtweise 2. Umgekehrt: Wählt Alice Sichtweise 2, bleibt Bob nur Sichtweise 1. Zwischen der Entscheidung von Alice und der Wahlbeschränkung von Bob vergeht keine Zeit. Aber beide betrachten den gleichen Kasten. Das Objekt ist der Anker für die Verschränkung, das Verbindende

      Für das Folgende ersetzen wir jetzt das Verbindende durch die Nachricht, bleiben aber bei der räumlichen Anordnung unseres Beispiels. Wenn Alice jetzt ein Buch auf einen Tisch legt, hat sie eine bestimmte Sichtweise auf das Buch. Bob hat keine Wahl, er sieht das Buch aus einer anderen, durch das System festgelegten Perspektive. Die Sicht von Alice ist mit der von Bob zeitgleich fest verbunden.

      Eine solche Verschränkung ist die Basis für den Zero-Time-Transmitter. Der sendende ZTT entspricht Alice, der empfangende ZTT ist Bob. Wenn der sendende ZTT eine Sicht der Nachricht definiert, muss Bob eine andere nehmen. Wenn es nur zwei Sichten gibt und die Sichtweise von Bob, jetzt der empfangende ZTT, bekannt ist, weiß man, was Alice gesendet hat.“

      In der Folge war es ihr gelungen, mit Animationen Grundzüge der Physik dahinter zu erklären. Wie auf diese Weise eine Nachrichtenübertragung funktionierte, hatte sie grob angedeutet. Den Investoren sollte genügen, dass damit Geld zu verdienen war.

      Mehr war nicht zu verraten. Hier ging es nur um die Beschaffung finanzieller Mittel für die weitere Forschung. Der Weg zu den Manifestationen blieb ihre Sache. Auf atomarer Ebene waren ihren ersten Versuche erfolgreich gewesen. Die Skalierung auf makroskopische Dimensionen schien machbar, mit beträchtlichem Aufwand. In der Theorie deuteten sich Möglichkeiten an, die sie noch nicht überblickten. Daheim in La Ferme hatten sie beim Aperitif bereits häufiger gescherzt, wer welchen Nobelpreis gewinnen würde. Ihr Bruder Maxim zitierte sich dann aus nicht existierenden Artikeln der Nature.10 Bei diesen Erinnerungen und an den Erfolg in Toronto denkend nickte Geniè trotz der quälenden Bestuhlung des Fliegers ein wenig ein.

      Auch die Anonymität der Sache schien gut gelaufen zu sein. Im Vorfeld war alles über verschlüsselte Kanäle abgesprochen worden. Auf Toronto, der größten Stadt Kanadas, als Treffpunkt hatte man sich sofort geeinigt. Kanada galt als unauffälliges Land. Toronto mit seinem riesigen Einzugsgebiet gab sich sehr multikulturell, hatte aber dennoch kein übermäßiges Touristenaufkommen. Mittlerweile gab es in den Cafés auf den Islands auch für Europäer akzeptablen Kaffee. Schade, dass der Aufenthalt nicht länger gedauert hatte. Sie wäre noch gern zu den Niagara-Fällen gefahren. Wieder verfiel sie ins Träumen, kam auf Paris. Sie musste den Flieger nach Mulhouse erreichen. Dort wartete hoffentlich wohlbehalten ihr alter Peugeot 405, den ihr Vater kurz vor seinem Tod rundum restauriert hatte. Sie freute sich auf die Heimfahrt. Auch klassische Technik hatte etwas.

      7 Bertrand Russell, 1872-1970, Mathematiker, Philosoph, Nobelpreis für Literatur 1950, hat sich unter anderem mit den grundlegenden Fragen nach der Erkenntnis auseinandergesetzt.

      8 Russel, Bertrand: Probleme der Philosophie; Frankfurt, 9. Aufl. 1981; S. 9-13 gekürzt

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