Der wilde Weg der Honigbienen. Christoph Nietfeld

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Название Der wilde Weg der Honigbienen
Автор произведения Christoph Nietfeld
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783347065055



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mir der Atem. Vielleicht könnte man es mit einem Tränengasangriff vergleichen oder dem einer Blendgranate. Vielleicht aber auch mit Pfefferspray. Jedoch sind es Belastungen, denen ein Mensch wahrscheinlich nur wenige Minuten ausgesetzt wäre, aber nicht mehrere Tage, wie es bei den Bienen der Fall ist, wenn sie mit Ameisensäure behandelt werden. Wären wir ehrlich, so müssten wir zugeben, dass es sich um einen heftigen Säureangriff handelt und nichts anderes. Und danach? Die Bienen leben noch, vielleicht mit Verätzungen ihrer Sinnesorgane, und mit mehr oder weniger großen Verlusten. Jetzt beginnt das große Aufräumen all dessen, was durcheinandergeraten ist. Durchatmen! Einmal die Bienenbehausung kräftig durchlüften! Wenn’s doch nur damit getan wäre!

      Auch ich versteckte mich regelmäßig hinter der Hoffnung, die Bienen könnten nach einem solchen „Angriff“ ihre Orientierung vollständig wiedergewinnen und ihre Wunden heilen. Aber vielleicht hinterlässt eine derartige Prozedur eine Art Tinnitus ihrer Sinne, ein ständiges Grundrauschen und -fiepen in ihrer Wahrnehmung, eine Behinderung, vielleicht mit Spätfolgen? Irgendeine Art von Trauma wird es wohl sein, das die einzelne Biene aber vielleicht auch das Volk im Ganzen davonträgt, bei mir wäre das jedenfalls so. Wenn sich die Bienen nicht durch kontinuierliches Brutgeschäft ständig erneuern würden, würden sie eine solche Tortur als Volk überhaupt überleben?

      Ähnlich verhält es sich mit der Behandlung der Bienen mit Perizin oder Oxalsäure. Mit dem Unterschied, dass die Behandlung mit diesen Mitteln mitten im Dezember, wo sich die Bienen bereits in einer geschlossenen Wintertraube zusammengefunden haben und gegenseitig wärmen, stattfindet. Zu der Zeit, in der sich die Bienen bereits so eingerichtet haben, dass sie mehrere Monate in ihrem Stock überdauern können, wird plötzlich der Bienenkasten geöffnet und ihre Winterruhe gestört. Ein eiskalter Wind fegt durch die Wabengassen des Bienenstocks und zu allem Übel regnet auch noch eine Flüssigkeit auf die Bienen herab, sodass ihr wärmender Pelz langsam durchnässt. Das muss sich anfühlen, als würde man ohne Vorwarnung aus dem Schlaf gerissen und aus seinem kuscheligen Bett zum Eisschwimmen ins Wasser geworfen.

      Ich erinnere mich daran, dass das Perizin wie Mottenkugeln roch, die wir als Kinder in Maulwurfshaufen vergraben „durften“, um ihre Bauherren zu vertreiben. Ein so riechendes Mittel tropfte ich nun mit der Absicht, die Milben zu vertreiben, die Bienen aber zu erhalten, auf meine Bienen. Oxalsäure war dagegen relativ geruchsneutral, aber unangenehm wird es für die Bienen allemal gewesen sein. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es sich auch bei Perizin und Oxalsäure eben um Säuren handelt. Bemerkenswert ist auch ein Hinweis im Beipackzettel von Perizin, dass das Mittel indirekt auf die Milbe wirkt, indem sie den Wirkstoff aus dem Bienenblut aufnehmen soll. Ich nahm es also in Kauf, dass es die Biene zuerst ins Blut aufnehmen musste, um dann damit den Winter im Bienenstock zu verbringen. Zudem reichert sich der Wirkstoff im Wachs an, sodass die Bienen den Geruch noch länger ertragen müssen.15 Das tat ich allerdings unwissend, denn ich hatte den Beipackzettel vorher nie gelesen. Das Mittel wurde kostenlos vom Imkerverein zur Verfügung gestellt und ich wendete es eben einfach an. Heute fühle ich mich schlecht, weil ich jahrelang all diese Maßnahmen durchgeführt habe, ohne sie zu hinterfragen, und vor allem, ohne mich zu fragen, wie es den Bienen dabei geht.

      Dazu fällt mir ein Vortrag ein, den der Vorsitzende des Schweizer Vereins free the bees, André Wermelinger, im Juni 2015 in Düsseldorf gehalten hat. Er berichtete, dass in den Gebrauchsinformationen für Ameisensäure in der Schweiz unter dem Punkt Nebenwirkungen stand: „Beim Beachten der Anwendungsempfehlungen sind keine Nebenwirkungen bekannt.“ Dies hatte der Verein angeprangert, denn es wurden bereits Nebenwirkungen nachgewiesen. Mit viel Mühe und Geduld ist es dem Verein gelungen, dass die Ameisensäure zur Behandlung von Bienenvölkern in der Schweiz nur noch mit folgendem Hinweis in Verkehr gebracht werden darf: „Die offene Brut kann geschädigt werden. Bei Überdosierung sind Brutverluste und Königinnenverluste möglich.“16 Ob es diesen Hinweis auch auf der Gebrauchsinformation von Ameisensäure in Deutschland gab? Dazu ist zu sagen, dass sich Wermelinger in seinem Vortrag auf Ameisensäure mit einer fünfundachtzigprozentigen Konzentration bezog, die in Deutschland zwar nicht als Tierarzneimittel zugelassen ist, aber ebenfalls zur Varroabehandlung verwendet wird.

      Um meiner Frage weiter nachzugehen, schaue ich in den Gebrauchsinformationen für eine in Deutschland zugelassene und im Internet angebotene Ameisensäure mit einer Konzentration von sechzig Prozent nach. Dort finde ich unter dem Punkt Nebenwirkungen den gleichen Satz: „Beim Beachten der Anwendungsempfehlungen sind keine Nebenwirkungen bekannt.“17 Von dem Hinweis, wie er neuerdings auf der Schweizer Gebrauchsinformation zu finden ist, keine Spur. Vielleicht treten die Nebenwirkungen der Brut- und Königinnenverluste ja nur bei einer fünfundachtzigprozentigen Ameisensäure auf, oder der Hinweis müsste auch hier noch ergänzt werden. Doch selbst wenn der Hinweis aufgenommen würde, frage ich mich, wie Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Anwendung von Ameisensäure im Bienenvolk definiert werden. Sind nur Nebenwirkungen vorhanden, wenn die Königin stirbt oder offene Brut geschädigt wird? Ist es nicht auch eine Nebenwirkung, wenn die Bienen Stress erleiden oder ihre Kommunikation beeinträchtigt wird?

      Ich denke darüber hinaus an verschiedene Nebenwirkungen, die mir in Beipackzetteln von Arzneimitteln für Menschen begegnet sind, wie zum Beispiel Schwindel oder Reizungen der Haut. Eine andere bekannte Nebenwirkung einiger Medikamente ist, dass nach der Einnahme kein Kraftfahrzeug mehr geführt werden darf. Aber der Biene kann das scheinbar alles nichts anhaben, und sie darf mit getrübten Sinnen sogar fliegen. Eigentlich hätte ich, während ich die Bienen mit Ameisensäure behandelte, nur in den Spiegel sehen müssen, als Antwort auf die Frage, ob es Nebenwirkungen geben könnte, denn ich musste mich gemäß Sicherheitshinweis mit Schutzbrille und Handschuhen schützen und den Säuredampf durfte ich nicht einatmen. Die Bienen hingegen waren dem Säuredampf schutzlos ausgeliefert. Zudem hatte mir Uwe noch von einer Nebenwirkung berichtet, über die er etwas gelesen hatte, wobei der Chitinpanzer der Bienen durch die Behandlung mit Ameisensäure angegriffen wird, was ihre Anfälligkeit gegenüber Viren begünstigten soll.

      Eine weitere Nebenwirkung kann die Bildung von Resistenzen der Varroamilbe gegenüber den eingesetzten Stoffen sein. Die Bildung von Resistenzen ist dabei ein altbekanntes Problem, das bei dem Einsatz von Wirkstoffen auftritt. All das war auf dem Beipackzettel der Ameisensäure nicht zu finden. Wahrscheinlich haben wir einfach keine Vorstellung davon, was bei einer Behandlung genau passiert und kein Gefühl dafür, was für eine Biene eine ernste Nebenwirkung sein könnte, außer ihr Tod.

      Mich überforderte dieses Thema. Ich konnte es schlussendlich nicht beurteilen, wie es den Bienen bei all diesen Dingen wirklich ging. Und die Milben? Bei all diesen Überlegungen hatte ich die Milben ganz vergessen. Wer gab mir eigentlich das Recht, die Milben zu töten? Es ist und bleibt eben alles auch immer eine Frage der Perspektive. Hier sind wir nun an einem philosophischen Punkt angekommen. Und die Frage, ob ich Milben töten darf oder nicht, ist bestens dafür geeignet, bei dem einen oder anderen spätestens jetzt absolutes Unverständnis auszulösen. Wollen wir den Bienen nun helfen oder nicht? Nach dem Verzicht auf den Honig nun auch noch das Verbot, etwas gegen die Milben zu tun? Nein, das geht zu weit!

      Ich hatte mich über den Winter in diesem gedanklichen Dilemma scheinbar festgefahren. Da überraschte mich Uwe ein paar Monate später bei einem unserer Treffen mit dem Satz: „Mach dir die Varroa zum Freund!“ Ich war zunächst sprachlos. Was sollte das nun wieder? „Mach dir die Varroa zum Freund?“ Das toppte sogar alle meine Überlegungen über das Recht, Milben töten zu dürfen. Was hatte es damit auf sich?

      Uwe hatte diesen merkenswerten Satz aus seiner Seminarwoche an der Lehr- und Versuchsimkerei Fischermühle, nahe Rosenfeld, mitgebracht. Dort hatte er zu Beginn des Jahres das einwöchige Faschingsseminar zur wesensgemäßen Bienenhaltung besucht. Er berichtete begeistert über das, was er dort über die Bienen gehört und gelernt hatte. Und er hob mehrfach hervor, aus welchen verschiedenen Blickwinkeln doch die Bienen und ihr Wesen an der Fischermühle betrachtet wurden. Es schien für ihn eine prägende Woche gewesen zu sein.

      Marco Bindelli, Philosoph, Anthroposoph, Menschenkundler und dazu noch ein ausgezeichneter Musiker, näherte sich dem Thema der wesensgemäßen Bienenhaltung von einer gänzlich anderen Seite – was sicherlich zu anfänglicher Skepsis des ein oder anderen wissensdurstigen Seminarteilnehmers führte. Da ging es dann um wirklich „Merkwürdiges“: