Tannenruh. Willi Keller

Читать онлайн.
Название Tannenruh
Автор произведения Willi Keller
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839266007



Скачать книгу

schwang die Tür auf und gab den Blick frei auf einen riesigen Raum, der an den Wänden voll von Büchern war, vom Boden bis zur Decke. Alles war ausgefüllt mit kerzengerade aneinandergereihten Büchern, die stolz ihren Rücken präsentierten. In jeder Ecke standen ein Sessel und ein Lesetisch mit einer nostalgischen Lampe. An jeder Wand war eine Leiter aus Holz angebracht, die man an einer Stange hin- und herschieben konnte. Zahlreiche Lämpchen leuchteten den Raum so aus, dass man die Bücherrücken gut betrachten konnte. Trotzdem wirkte das Licht unaufdringlich. Auf den ersten Blick schon sah Berger, dass es sich um wertvolle Bücher handelte. Es mussten mehrere Tausend sein. Solch einen ungewöhnlichen und gepflegten Bestand hatte er bisher nur in einem Antiquariat in Freiburg gesehen, in der Salzstraße.

      Eine Wand war ausschließlich mit religiösen Werken und Bibelausgaben bestückt. Alle Bücher auf dieser Wandseite zeigten kaum oder gar keine Gebrauchsspuren auf dem Rücken, zumindest auf den ersten Blick. Berger ging die Reihen durch. In der vierten von unten fiel ihm eine Ausgabe besonders auf, die ihm bekannt vorkam. Er zog sie vorsichtig heraus. Kein Wunder, dass sie ihm aufgefallen war: eine Elberfelder Bibel von 1905. Eine solche Ausgabe hatte bei den ChrisTer-Fällen in der Soko Gifiz eine Rolle gespielt. Berger blätterte in dem alten Buch. Es war doch nicht so unversehrt, wie er vermutet hatte. Ein Blatt war herausgetrennt. Berger blätterte weiter und entdeckte, dass ein zweites Blatt fehlte.

      »Was tun Sie hier?«, fragte eine scharfe, unangenehme Stimme, die einen leicht schrillen Unterton hatte.

      Berger ließ sich nicht anmerken, dass ihn die Stimme erschreckt hatte, und drehte sich langsam um. Eine schlanke, hagere Gestalt, so groß wie er, mit einem strengen Gesicht und angegrauten kurzen Haaren stand vor ihm wie eine Bedrohung. »Sie sehen doch, dass ich mich für die Bücher interessiere. Das ist eine Bibliothek, die für alle Gäste offen ist, nehme ich an. Oder täusche ich mich? Habe ich ein Verbotsschild übersehen?«

      Keine Antwort. Berger zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche und zeigte ihn dem Mann in schwarzen Schuhen, schwarzer Leinenhose und einem dicken schwarzen Rollkragenpullover.

      »Hat Ihr Aufenthalt hier unten etwas mit Ihren Ermittlungen im Hause zu tun?«

      Er war also doch nicht völlig verstummt. Und voll informiert.

      »Vielleicht eher mit meinem Interesse für alte Bücher und besondere Ausgaben. Allerdings hat sich, so viel ich erfahren habe, der verunglückte argentinische Gast oft hierher zurückgezogen. Insofern hat mein Besuch auch mit den Ermittlungen zu tun. Aber davon abgesehen: In Bibliotheken entdeckt man immer wieder Neues und ungeahntes Altes. Manche Bücher offenbaren mehr Geheimnisse, als man denkt.«

      Ob der Mann die Anspielung verstand?

      »Aber ich schaue mich in allen Räumen des Hauses um, in denen sich Ihr verstorbener argentinischer Gast aufgehalten hat. Das ist reine Routine, seien Sie beruhigt. Und wenn ich so wunderbare Bücher sehe, ist es aus mit der Routine. Reicht Ihnen das als Erklärung?«

      Der Schwarzgekleidete antwortete nicht, sondern verließ geräuschlos den Raum.

      Berger blätterte wieder in der alten Elberfelder Bibel. Fast eine Viertelstunde beschäftigte er sich mit dem Buch. Zu seiner Überraschung blieb es nicht bei den fehlenden zwei Blättern. Insgesamt elf waren fein säuberlich herausgetrennt worden. Warum tat jemand so etwas? Er hasste es, wenn Bücher geschändet wurden. Berger notierte sich die fehlenden Seiten in seinem kleinen Notizbuch. Er fragte sich, warum ausgerechnet elf Blätter aus der alten Bibel gerissen worden waren. Hatte die 11 eine besondere Bedeutung? Wenn er wieder im Präsidium war, wollte er sich mit den fehlenden Blättern und der Zahl Elf beschäftigen, schließlich sollte er wieder in der Soko Gifiz arbeiten.

      Auf jedem Lesetisch lag ein Programmheft in der Schwabacher Schrift. Auf der Vorderseite stand nur »Erbaulichkeit«. Auf den zwei Innenseiten waren Seminare und Referate für das erste Halbjahr aufgelistet. Ein Referat fiel Berger besonders auf. »Staat ohne Tapferkeit, Referent: Dr. Theobald Lenzen, ehemaliger Landesbischof.« Was wollte ein ehemaliger Bischof über einen mutlosen Staat erzählen? Das Referat war schon im März gehalten worden. Berger nahm das Programm mit und wollte sich später ausführlich mit den Seminaren und Referaten und vor allem den Referenten beschäftigen. Das Abendessen wartete auf ihn.

      Er saß am Lieblingstisch des Argentiniers und blickte in den Raum. Nur die Hälfte der Tische war besetzt. Die Gäste unterhielten sich in ruhigem Ton, der kaum zu den anderen Tischen durchdrang, ganz im Sinne der Hotelleitung. Auf eine Beschallung des Raumes durch Hintergrundmusik wurde verzichtet, was Berger sehr begrüßte. Ein Kellner brachte ihm die Speisekarte. Die Rückseite zeigte das Hotel im Abendlicht, wie auf dem Flyer. Er klappte die großformatige Karte auf. In Spanisch, Portugiesisch, Englisch und Deutsch erklärte das Haus die Philosophie der Küche: »Die Kochkunst des Hotels Schatzhauser beruht auf dem Kreislauf der Schöpfung. Achtsamkeit steht bei uns im Vordergrund. Auf unserem Speiseplan finden Sie natürliche und biologische Produkte der Saison und der Region. Wir bereiten sie liebevoll und mit höchster Wertschätzung der Natur zu. So schaffen wir einen einzigartigen Geschmack, der Körper und Geist stärkt sowie die Kraft und die Einzigartigkeit der Schöpfung zur Geltung bringt.« Berger war erstaunt über das Angebot und gespannt, ob die Küche das Versprechen halten konnte.

      Nach dem köstlichen, aber doch gewöhnlichen Abendessen eines guten Restaurants, legte sich Berger auf sein Bett und las die Referentenliste im Programmheft. Auf seinem Tablet recherchierte er nach Dr. Theobald Lenzen, dem ehemaligen Landesbischof. Lenzen hatte sich während seiner Studienzeit journalistisch betätigt, in Zeitschriften der Neurechten. Nach Examen und Doktorarbeit hatte er sich hochgearbeitet bis zum Bischof einer ostdeutschen evangelischen Landeskirche. Er bezeichnete sich als Kontrapunkt zum liberalen Mainstream in der Kirche. Seinen Aufstieg verdankte er unter anderem seinem Redetalent. Obwohl er gegen die Ehe für alle kämpfte, von der Aufweichung des Staates sprach, die offene Gesellschaft infrage stellte, mehr Gottesbezogenheit und mehr Abgrenzung in der Kirche und zu anderen Religionen forderte, war er zum Bischof gewählt worden. Als Artikel aus seiner Vergangenheit aufgetaucht waren, die seine rechte Haltung belegten, und es in der evangelischen Kirche zu rumoren begonnen hatte, war er zurückgetreten. Schuldbewusstsein zeigte er nicht. Er warf seinen Kritikern Hetzkampagnen vor und Feigheit vor der Auseinandersetzung um den richtigen Weg der Kirche. Der Rücktritt war für Lenzen jedoch kein Abschied von der öffentlichen Bühne. Er nutzte seine neu gewonnene Freiheit, trat als Redner und Vordenker eines strengen Protestantismus auf und füllte die Säle. Als habe man auf ihn gewartet. Ein Kommentator schrieb, die Menschen lechzten geradezu nach seinen Worten und Botschaften.

      Auch die anderen Referenten auf der Liste, darunter evangelische und katholische Theologen, Politiker und ein Amerikaner, der verschiedene Regierungen beraten hatte, vermittelten in ihren Beiträgen ein ähnliches Welt- und Menschenbild wie der ehemalige Bischof: Stopp der Masseneinwanderung von Muslimen, Kampf gegen die gottlose Gesellschaft der liberalen Eliten auf der Welt, Rückkehr zu den wahren christlichen Werten. Der Amerikaner war als letzter Referent des ersten Halbjahres vorgesehen. Sein Thema: »Gladiatoren einer neuen christlichen Kultur«.

      Alle Referenten, die Berger im Netz ausfindig machen konnte, beriefen sich nicht auf jüdisch-christliche Traditionen und Werte des Abendlandes, sondern nur auf christliche. War das »Schatzhauser« eine heimliche Ideologie- und Kaderschmiede? Ihn fröstelte, er klappte das Tablet zu, trank einen Schluck Wasser, machte das Licht aus und schlüpfte unter die Bettdecke. Gleich wurde ihm wieder wärmer.

      Kapitel 4

      Die Balkontür stand offen. Frische Morgenluft zog herein, ein leichter Wind blähte den Vorhang etwas auf. Er hatte überraschend gut geschlafen. Nicht ein einziges Mal war er aufgewacht, bevor der Wecker seines privaten Smartphones ihn aus dem Schlaf holte. An Träume konnte er sich nicht erinnern. War die Nacht der erste Schritt zur allgemeinen Besserung seines Zustandes, nicht nur zur punktuellen? Oder hatte die Waldluft seinen Körper und seinen Geist »gereinigt«? Oder hatte die »achtsame« Kochkunst doch Wirkung gezeigt?

      Gleich nach dem Aufstehen sah sich Berger vor und hinter dem Haus um. Der Weg, auf dem er gekommen war, endete am Hotel. Gestern Abend war ihm das nicht aufgefallen. Rechts hinter dem Haus war eine breit angelegte Garage in den Hang