Tannenruh. Willi Keller

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Название Tannenruh
Автор произведения Willi Keller
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839266007



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wusste, dass Rache nichts anderes war als die bittere Tatsache einer offenen Wunde. Und die Wunde heilte nicht, solange sie an Rache dachte. Aber auch ohne diese Gedanken würde sie sich nicht schließen. Ihr Verstand sagte ihr, dass vollendete Rache vor Gericht als niedriger Beweggrund gewertet wurde. Trotzdem ließ sie die Gedanken immer mehr zu, weil ihre Gefühle etwas anderes sagten. Und ihre Gefühle wurden immer stärker.

      Schweigend saßen sich zwei verletzte Menschen gegenüber, aßen ihre Brötchen und tranken ihren Kaffee. Berger kannte diese stummen Szenen von zu Hause. »Stille Messe« nannte das seine Mutter, wenn in der Partnerschaft das Gespräch verstummte.

      Nach dem zweiten Brötchen schien sich Tammy gefasst zu haben. Sie erzählte Berger, dass man im Präsidium voller Bewunderung von seiner schnellen Reaktion sprach, nachdem Winker zusammengebrochen war.

      »Aber das hätte doch jeder getan«, beschwichtigte Berger.

      »Das bezweifle ich. Ich weiß nicht, ob ich das Gerät hätte richtig bedienen können.«

      »So schwer ist das nicht. Es erklärt sich fast von selbst. Ich muss jedoch zugeben, dass ich in der Reha Erste Hilfe und die Bedienung des Defibrillators geübt habe.«

      »Das hätte ich auch nötig. Jedenfalls sind alle froh, dass Winker durch deine schnelle Hilfe keinen schweren Schaden davongetragen hat. Hoffen wir, dass nichts nachkommt.«

      »Wer übernimmt jetzt seine Aufgaben?«

      »Vorerst kommissarisch Firner. Übrigens: Zwischen Firner und Winker muss es neulich fürchterlich gekracht haben.« Tammy sprach so, als belaste sie nichts, als hätten sie sich nicht über schmerzhafte Dinge unterhalten. »Winker hat in einer Morgenbesprechung angedeutet, dass er vielleicht bis zu seinem 63. Geburtstag im Dienst bleibt – entgegen seiner ursprünglichen Aussage, vorzeitig mit dem 60. Lebensjahr aufzuhören. Und jetzt will er nichts mehr davon wissen. Da ist Firner wohl der Kamm geschwollen. Alle wissen ja, dass er Kripochef werden will, und zwar möglichst bald. Als dann Winker noch mitgeteilt hat, dass im Offenburger Polizeipräsidium vermutlich in nächster Zeit eine Cold-Case-Gruppe aufgebaut wird, ist Firner geplatzt und hat geschrien, das könne nicht sein in einer Zeit, in der man wenig Personal habe und schwierige Fälle nicht gelöst seien. Und überhaupt frage er sich, wie viele alte Fälle es im Bereich des Polizeipräsidiums Offenburg gebe und ob man die unbedingt in dieser prekären Situation aufklären müsse, in der der Druck auf die Soko so groß sei. Das war natürlich nicht sehr klug. Keiner hätte das von Firner erwartet. Winker hat anscheinend ganz ruhig reagiert und Firner entgegengehalten, dass man alle schwierigen Fälle lösen müsse, auch die der Vergangenheit. Darauf hätten die Angehörigen von Opfern und der Rechtsstaat Anspruch. Es sei gerade für die Angehörigen ungeheuer wichtig, zu wissen, dass der Fall gelöst sei. Das bedeute für sie, Frieden finden zu können. Dutzende schwere Verbrechen im Bereich des Polizeipräsidiums seien bis heute nicht geklärt. Das müsse Firner doch wissen. Dummerweise hat Winker noch einen draufgesetzt und mitgeteilt, dass er in Absprache mit dem Polizeipräsidenten dich zum Chef der Cold-Case-Gruppe machen will.«

      »Das hat er mir auch gesagt.«

      »Das hat Firner noch mehr in Rage gebracht. Man brauche jeden. Und dass du auf Wiedereingliederung bestehst, hat er überhaupt nicht verstanden. Später hat er wohl in kleinerem Kreis gesagt, wer in dieser schwierigen Zeit nicht auf die Wiedereingliederung verzichte, sei unkollegial und ein Weichei.«

      Das war ein Schlag in die Magengrube. Erzählte ihm Tammy das jetzt, weil er vorhin so ungeschickt nach ihrer Beziehung zu Georg gefragt hatte? Sie war doch kein Mensch, der sich mit einer Gegenattacke revanchierte. War das überhaupt eine Attacke? Vielleicht wollte sie ihn nur darüber in Kenntnis setzen, was Firner von ihm dachte. Firner! Sie waren nie Freunde gewesen, sich aber immer mit größtem Respekt begegnet. Warum diese Wende?

      »Alban, hörst du mir zu?«

      »Ja.«

      »Das habe ich alles aufgeschnappt. Ich bin nicht bei der Besprechung gewesen, als Firner und Winker aneinandergeraten sind, sondern bei einer Prüfung.«

      »Bei was für einer Prüfung?«

      »Super-Recognizer.«

      »Super-Recognizer?« Berger konnte es nicht glauben. Er hatte schon öfter von diesen Spezialisten gehört und einiges über sie gelesen, aber nicht viel behalten. Bisher war ihm an Tammy diese seltene Begabung nicht aufgefallen. Aber das hatte nichts zu sagen. »Wie kommst du auf Super-Recognizer?«

      »Reiner Zufall. Ich habe gehört, dass auf Landesebene geplant ist, nach dem Beispiel der Münchner Polizei eine Projektgruppe Super-Recognizer aufzustellen. Tja, dann habe ich nachgefragt und mich beworben.«

      »Mir ist nur nicht klar, wie du entdeckt hast, dass du für dieses Projekt geeignet sein könntest.«

      »Ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis und kann Gesichter speichern, um es vorsichtig zu formulieren. Aber so richtig bewusst geworden ist mir das erst jetzt mit dieser Projektgruppe.«

      »Hast du ein Training absolvieren müssen?«

      »Nein. Trainieren kann man so etwas nicht, ist uns erklärt worden. Aber es gibt Versuchsreihen, Kurz- und Langzeiterinnerungstests, um festzustellen, ob man wirklich diese Begabung besitzt. Ein Psychologe hat uns gesagt, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung diese Fähigkeit haben.«

      »Und wie läuft so etwas genau ab? Ich meine die Wiedererkennung von Menschen.«

      »Also ich hoffe, ich bekomme das noch zusammen, was wir gelernt haben. Das menschliche Gehirn besteht aus Regionen. Bei der Gesichtserkennung arbeiten mehrere Regionen zusammen. Das eigentliche Sehzentrum befindet sich im Hinterhauptlappen. Der Sehnerv im Auge nimmt Informationen auf, das Sehzentrum im Hinterhauptlappen verarbeitet sie und leitet sie an die nachrangigen Sehzentren weiter. Und die wiederum setzen sie so zusammen, dass sich daraus ein dreidimensionales Bild entwickelt. Und mit diesem Bild kannst du vertraute Gesichter wiedererkennen. Selbst aus verschiedenen Blickwinkeln. Besonders wichtig dabei ist der Gyrus fusiformis. Wenn der geschädigt wird, sieht es schlimm aus. Dann kannst du zwar jedes Gesicht als Gesicht erkennen, aber du kannst es nicht mehr dem Menschen X oder Y zuordnen. Und dieser Gyrus fusiformis –«

      »Hört sich an wie eine griechische Mahlzeit.«

      Tammy ließ sich von Bergers Versuch, witzig zu sein, nicht aus der Ruhe bringen. »… scheint bei Super-Recognizern sehr stark vernetzt zu sein. Aber so ganz genau kennt man die Zusammenhänge noch nicht. Nach den ersten Versuchsreihen haben sie uns erst einmal die Illusion genommen, ein ganz besonderer Menschenschlag zu sein. Wir haben keine übernatürlichen Fähigkeiten. Aber wir sind besser als die Software zur Gesichtserkennung. Das Pech ist, dass unsere Erkenntnisse vor Gericht nicht gelten.«

      »Aber euer Beitrag ist entscheidend beim Aufspüren von Verdächtigen.«

      »Und genau deshalb will man eine solche Gruppe aufbauen. Die Trefferquote der Münchner Spezialisten ist mit rund 90 Prozent nämlich sehr hoch. Die Erfahrungen in London, dort ist vor zehn Jahren die erste Recognizer-Einheit aufgebaut worden, und in München zeigen, wie effektiv diese Spezialisten sind. Sie können Menschen wiedererkennen, die sie nur ein einziges Mal gesehen haben, zum Beispiel im Vorübergehen. Selbst wenn sich das Aussehen des Betreffenden deutlich verändert hat, können Super-Recognizer ihn nach langen Jahren identifizieren. Sogar spärliche visuelle Informationen wie alte unscharfe Fotos oder Filme und Bilder mit schlechter Auflösung sind kein Hindernis. Nach der Silvesternacht von 2015 hat die Kölner Polizei britische Spezialisten geholt, um übergriffige Täter zu fassen. Und in Hamburg helfen bayerische Recognizer bei der Aufklärung von Straftaten, die während des G20-Gipfels 2017 begangen worden sind. Allerdings: Wenn die Algorithmen für Gesichtserkennung sich weiter verbessern, werden wir wahrscheinlich schnell überflüssig. Dann sind wir nicht mehr weit vom Überwachungsstaat entfernt. Aber so weit ist es noch nicht. Jetzt warte ich die Endausscheidung ab, dann werden wir über unsere Einsätze aufgeklärt. Da bin ich mal gespannt. Möglicherweise werden wir zunächst bei Bundesligaspielen gegen Hooligans eingesetzt.«

      »Tammy, ich bin sprachlos!«

      »Ich auch, ich