Störtebekers Erben. Susanne Ziegert

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Название Störtebekers Erben
Автор произведения Susanne Ziegert
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839256909



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Insulaner erzählt, der Stammgast beim Kaufmann war.

      Paul kauerte immer noch in seinem Versteck und versuchte, seine Beine abwechselnd zu lockern. Er sah in Richtung der kleinen Brücke, vor der sich der Eingang befand. Er konnte das Paar wegen des Windes nicht verstehen, doch ihre Stimmen klangen versöhnlicher, sie schienen ihn nicht entdeckt zu haben. Fast eine halbe Stunde hatte er gewartet, bis sich die beiden entfernt hatten, da nahte noch eine Gruppe Urlauber auf dem Deich, die den rot zerlaufenden Sonnenball hinter der markanten Silhouette des Turms ablichten wollten, und ihr Stativ aufbauten. Paul hatte sein Vorhaben schließlich um ein paar Stunden auf den späten Abend verschoben.

      Als er jetzt aus der Tür schlüpfte, um einen zweiten Versuch zu wagen, war es stockfinster, nur der Turm sandte seine roten und grünen Blinksignale. Paul ließ seine Blicke von der Leuchtkuppel hinabschweifen über die düsteren Umrisse des Turms. Jetzt im Dunkeln sah er nur die Umrisse des Backsteinbaus, und dieser schien noch imposanter zu wirken als im Hellen, ganz und gar nicht wie einer der typischen runden schlanken Leuchttürme, sondern eher wie der Festungsturm einer Burg. Sogar die meisten Fenster wirkten wie Schießscharten in den meterdicken Mauern. Jetzt waren sie dunkel, nur in der zweiten Etage sah er einen Lichtschein, das musste der Flur der Pension sein, wo immer eine Art Notbeleuchtung an war.

      Niemand aus dem Leuchtturm schien ihn bemerkt zu haben, auch nicht Margo, mit der er sich in den vergangenen Tagen trotz seiner Vorsätze mehrmals lange unterhalten hatte. Warum musste ihm diese Frau ausgerechnet jetzt über den Weg laufen?

      Er verdrängte den Gedanken an Margos leicht spöttischen Blick, an den er viel zu oft denken musste, und rief sich selbst zur Räson, schälte seine Sonde aus der Hülle und fuhr Zentimeter für Zentimeter über den Boden. Bei seinem ersten Versuch hatte er einige Meter vom Gedenkstein entfernt gerade ein Signal empfangen, als er gestört wurde. Jetzt musste es klappen, ihm blieben nur noch zwei Tage in seinem Leuchtturmzimmer.

      Die Sonde fiepte, er musste die richtige Stelle erreicht haben, doch was war das? Beinahe wäre er auf seine Sonde gefallen, mitten im Weg lag ein Ast. Er berührte ihn mit dem Fuß, die nackte Angst durchfuhr ihn. Das war kein Ast, das war ein Arm. Da lag jemand bewegungslos auf dem Friedhof. Sternhagelvoll, dachte Paul, knipste seine Stirnlampe an und wollte die traurige Gestalt durch ein paar Ohrfeigen wieder zu Bewusstsein bringen. Er versuchte, den Körper zu drehen, doch der Arm war steif und die Hand eiskalt.

      Blitzartig wurde ihm klar, dass seine Hilfe zu spät kam, der Mann war mausetot. Diesen Wollpullover mit dem Zopfmuster hatte er heute auch schon gesehen, da hatte das Kleidungsstück allerdings noch nicht diese dunkelroten Einfärbungen. Das war doch Hein, der Inselkaufmann. Paul schauderte es, als er ein Rascheln im Gebüsch hörte. So schnell er konnte, raffte er seine Ausrüstung zusammen und rannte los, im Laufen zwängte er die Sonde in die Hülle. Seinen Plan konnte er nun erst einmal abschreiben. Bald würde alles von Polizei wimmeln, und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte.

      Kapitel 2

      Das leise Knarren auf der Treppe entlockte Margo, die im Zimmer hinter der Rezeption am Computer saß, ein amüsiertes Lächeln. In dem Leuchtturm brauchte man einfach keine Alarmanlage, die jahrhunderte alte Holztreppe knarrte und quietschte, so vorsichtig man seine Füße auch setzte. Das Treppenhaus war außerdem lückenlos mit Kameras behängt, um die sogenannte Staatsetage, die sich über dem kleinen Hotel befand, vor unerbetenen Besuchern abzuschirmen. Im historischen Ratssaal mit den alten Wappen im oberen Geschoss konnten Hamburgs Senatoren tagen, wenn sie den Außenposten der Stadt besuchten. Drei luxuriöse Suiten standen für längere Aufenthalte bereit. Für das Wohlbefinden der Amtsträger war das Neueste und Teuerste gerade gut genug. Die Besuche waren jedoch rar, und die Räume standen meist leer.

      Margo erkannte ihren derzeit einzigen Gast, der offenbar versuchte, die knarrende Treppe zu überwinden, ohne dass es jemand merkte. Seine Schuhe trug er in der Hand und drückte sich an die Wand, er wollte nicht gesehen werden. Lassen wir ihn mal in dem Glauben, dachte Margo. Dann fiel ihr Blick aber auf einen schwarzen Schatten. Was war das für eine merkwürdige, lange schwarze Tasche, die er sich umgehängt hatte und mit beiden Händen festhielt? Man sieht die merkwürdigsten Dinge, hatte sie die Wirtin vorgewarnt, sogar auf einer ganz kleinen stillen Insel in der äußersten Provinz. Sie saß noch spät vor dem Computer, denn sie wollte der Wirtin Hillu ihren ersten Bericht schicken und überlegte krampfhaft, was sie ihr an besonderen Vorkommnissen mitteilen sollte. Ihre Gedanken schweiften ab, und sie dachte an ihre abenteuerliche Überfahrt vor einer Woche. Wie in einer Karawane in der Wüste kamen die Pferdewagen über das Watt gefahren, diese graue Sandfläche voll unberechenbarer Wasserläufe. Es war beeindruckend für Margo, als sie auf dem Kutschplatz auf dem Festland stand und dann die ersten Wagen in der Ferne auftauchen sah. Sie schienen direkt aus dem Meer zu kommen, in der Ferne hinter ihnen sah Margo große Schiffe vorüberfahren. »Ist das nicht gefährlich?«, hatte sie einen älteren Mann gefragt, der sich um das Gepäck der Touristen kümmerte. Doch der belehrte sie, dass die Pferdewagen nur bei Ebbe hin- und herfuhren, und diese Wattwagen seien immer noch die zuverlässigste Möglichkeit, auf Neuwerk zu kommen. Die fuhren auch noch in der Nachsaison, wenn das Schiff Pause machte, bei Regen, Sturm und Gewitter. Jeweils bei Ebbe setzten sich die speziell für den nassen Untergrund konstruierten Kutschen am Festland und auf der Insel in Bewegung, um Gäste oder Material auf die andere Seite zu bringen.

      Schon seit Jahrhunderten fuhren die Insulaner gemeinsam zum Festland, um sich beizustehen, wenn ein Wagen mit seinen Rädern in einen tiefen Priel geriet oder eines der Pferde stürzte. Das passiert nur sehr selten, versicherte ihr der Mann. Die Kutschen waren mittlerweile am Sandstrand angekommen, die Pferde nahmen Schwung und kamen dann auf den Halteplatz angetrabt. Ihr Gesprächspartner warf ihre Koffer nach hinten und stellte ihr eine Leiter an die Kutsche, und sie war erstaunt, wie hoch diese war. Zwischen den Rädern und einem Aufbau mit Sitzbänken befand sich noch eine Art Gestell, durch die Höhe blieben die Gäste meist trocken, hatte sie von ihrer Bekanntschaft erfahren. Sie nahm auf einer kalten und durchnässten Sitzbank Platz. Der Kutscher hatte ihr kurz zugenickt und dabei einen knurrenden Ton von sich gegeben, der wohl eine Begrüßung sein sollte. Hillu hatte ihr in der Mail geschrieben, dass sie sich am Deich einfinden sollte und dass sie dort von einem Wattwagen abgeholt würde. Das sei eine wunderschöne Überfahrt, manche Touristen kämen nur nach Neuwerk, um einmal mit einem solchen Wattwagen zu fahren. Die Geschmäcker sind eben verschieden, dachte Margo. Sie verstand bald, warum der Mann mit dem Cowboyhut so verkniffen aussah. Sie fröstelte schon nach wenigen Minuten auf dem feuchten Sitz unter dem strömenden Regen, merkte, wie die Feuchtigkeit durch ihre Kleidung hindurch bis auf die unterste Schicht kroch, und schlang die Decke fester um sich.

      Die beiden schweren großen Pferde trabten den Strand hinab und in den graubraunen Schlamm hinein. Das Wasser spritzte Margo ins Gesicht, an der Seite wirbelten die Räder noch mehr Nass nach oben. Ihre Augen brannten von den Regentropfen, sie sah ohnehin nur Schlamm um sich und Wasser. Der Wagen schien geradezu ins Nichts zu fahren. Erleichtert sah sie nach einer unendlich lang erscheinenden Zeit Land vor sich auftauchen, grün ragte es aus dem Meer hervor, außer einem rötlichen Gebäude, wahrscheinlich dem Leuchtturm, konnte sie keine Häuser erkennen. Das musste Neuwerk sein, ihre neue Heimat für die nächsten sechs Monate.

      »Böses Omen«, hatte der Cowboy finster gebrummt, als sie nach einer Stunde triefend und durchgefroren am Leuchtturm angekommen waren. Margo hatte schon genug über die Insulaner gehört, ein streitbares Völkchen, das gegen Festlandbewohner fest zusammenhielt.

      »Ich bin die neue Leuchtturmwärterin – jedenfalls für den Winter«, hatte sie sich ihm vorgestellt.

      »Die Letzte ist nach drei Tagen abgehauen: Inselkoller«. Verächtlich spuckte der Typ irgendein braunes Zeug haarscharf an ihr vorbei, wahrscheinlich Kautabak. »Wir sind hier nicht so verkommen wie ihr auf dem Festland. Hier hilft jeder jedem. Doch das geht in eure Köpfe nicht rein.« Er schlug sich mit der Hand an seinen wassertriefenden Lederhut.

      Der Typ hatte offensichtlich etwas gegen Zugezogene im Allgemeinen, und sie konnte er wohl im Besonderen nicht ausstehen. Wortlos ließ er ihren Koffer vor den Eingang plumpsen und ging ohne Gruß zurück zu seinem Gespann. Er winkte nur ab, als sie ihn fragte, was sie für die Überfahrt schuldete.

      »Das