Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Название Ein Samstag in Sydney
Автор произведения Gail Jones
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960541493



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das Gefühl, sich in einer geräumigen neuen Welt unter Freunden zu bewegen. Besonders Menschen aus Nahost hielt sie für sehr exotisch und versuchte, sie nicht anzustarren.

      Pei Xing, mit ihrem Sonnenschirm eine auffällige Erscheinung, ging durch die Straßen von Bankstown, wollte einen frühen Zug erwischen. Sie betrachtete die Schilder über den Läden und entdeckte zum wiederholten Male, wie wunderschön sie die arabische Schrift fand, wie anders als chinesische Schriftzeichen oder deren englische Übersetzungen. Da waren geschwungene Linien, Wellen und Punkte, dazu ultrapräzise Striche, wie Fähnchen. Da wurde an Mekka erinnert und an Bogenfenster und an die Räume in einer Moschee. Wie wohl »Schnee« in arabischer Schrift aussah, fragte sie sich. Wie würden Wüstenvölker das Wort »Schnee« schreiben? Stellten sie sich ihn als fliegenden Sand vor? Mehr als einmal hatte Pei Xing gedacht, Arabisch lernen zu wollen, damit sie sich fließend mit ihren Nachbarn unterhalten und mit den Kindern, die im Treppenhaus ihres hässlichen Wohnblocks spielten, plaudern konnte. Sie würde die Frauen mit den Kopftüchern ansprechen und sie fragen, was sie von diesem Ort hielten und wo sie arbeiteten, was sie aßen und wie man es zubereitete. Ihr Sohn Jimmy hatte sie überreden wollen, in den Vorort nach Ashfield zu ziehen, in die große chinesische Gemeinde, in der er lebte. Aber Pei Xing gefiel es hier in der Nähe der Universität. Hier gab sie Kurse in ihrer Muttersprache, und hier würde sie eines Tages vielleicht wirklich noch Arabisch lernen.

      Mr Nguyen saß in seiner Glaskabine am Bahnhof. Die Fahrkartenautomaten, die wie Roboter einer unglückselig kastenförmigen Zukunft wirkten, ließ Pei Xing außer Acht und zog ihnen ihren Freund und die kurze, hastige Plauderei mit ihm vor.

      »Mrs Chang!«

      »Mr Nguyen!« Sie klappte ihren Schirm zusammen.

      »Ist es Ihnen jetzt heiß genug?«

      Seine Frage war rhetorisch. Pei Xing hatte ihn bei anderer Gelegenheit wegen des batteriebetriebenen Miniventilators aufgezogen, den er sich vors Gesicht hielt. Er war aus pastellrosa Plastik in der Form einer Mondrakete und wehte Mr Nguyens Stirnfransen als glänzend schwarze Haifischflosse zurück.

      »Sie klingen wie ein Australier, Mr Nguyen.«

      »Ich bemühe mich«, erwiderte er. »Wie immer?«

      Mr Nguyen wusste, dass Pei Xing jeden Samstagmorgen die lange Reise zum Circular Quay unternahm und von dort weiter ans Nordufer fuhr, wo sie jemanden aus ihrer Vergangenheit traf. Er war zu höflich, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen, achtete vielmehr ihre verschwiegene Würde und lebenslang geübte Zurückhaltung. Einmal hatte er erwähnt, sie erinnere ihn an eine Lehrerin aus seiner Kindheit in Saigon, und Pei Xing hatte die Mitteilung als Geschenk entgegengenommen; die in ihm wachgerufene Erinnerung voller Zuneigung in Worte gefasst.

      »Wie immer. Circular Quay.«

      Während Mr Nguyen die Fahrkarte ausstellte, fuhr er sich über die Flosse, ein unbewusstes Kämmen. Diese schlichten Gespräche gaben Pei Xing Kraft. Die Menschen setzten zu wenig Zuversicht in bescheidene Unterhaltungen und das, was man wusste, was aber unausgesprochen oder unaussprechlich blieb. Die Ehrfurcht vor kurzen Sätzen, einer Geste oder einem einzigen Wort: Das war das Gefüge der Höflichkeit, die Grundlage des Sozialvertrags. Ohne würde man sterben.

      Mr Nguyen erinnerte Pei Xing an keine bestimmte Person, aber sein Gesicht war rundum gütig und sein Tonfall verbindlich. Wie war dieser freundlich intelligente Mann hier gelandet, eingesperrt zwischen Fahrplänen und aufgestapeltem Wechselgeld in einer stickigen Kabine?

      Der Bahnhof war laut und geschäftig, überall kalter Stahl, hallende Stimmen und die schwere Akustik harter Hohlräume. Abfall wurde über den Bahnsteig geweht, eine Pappschachtel McDonald’s Pommes Frites, eine klappernde Aluminiumdose. Ohne zu zögern, hob Pei Xing beide auf und warf sie in einen metallenen Mülleimer, der an einem Pfosten hing. Wartende Passagiere sahen ihr misstrauisch und mit blankem Unverständnis zu.

      Der Zug aus Liverpool fuhr heran, verlangsamte, kam kreischend zum Stehen; und als Pei Xing einstieg, kehrte etwas, das als Spur des frühen Morgens erhalten geblieben war, in Form eines vollständigen Bildes zurück.

      Einmal hatte sie ihren Vater an seinem Schreibtisch besuchen wollen, aber nicht angetroffen. Später fand sie ihn rauchend auf dem Bett, einen Aschenbecher auf der Brust balancierend. Er war in Gedanken versunken, starrte an die Decke. Vom Plattenspieler kam Musik – etwas Melancholisches mit klagenden Trompeten. Das Licht war gelb; im Schlafzimmer ihrer Eltern war es immer gelb. Dieser unbeschwerte Anblick: der große ruhende Mann, ein kleines blaues Gefäß aus Messing und Emaille bewegt sich mit seinem Atem. Die Zigarette, eine Great China, zwischen seinen Fingern. Als Mädchen hatten sie die Stille und der Ernst des Augenblicks gefesselt, und auch das Wissen, dass er sie nicht gesehen hatte, seine nachdenkliche Selbstgenügsamkeit, die Mischung aus Alleinsein und Distanz, die ihr heimlicher Blick enthielt.

      Kinder finden oft zusammenfassende Erklärungen, und damals sagte sie sich: »Ich liebe meinen Vater.«

      Vielleicht lag ihre Liebe eher in Bildern als in Worten. Da war keine Erinnerung daran, dass er gesprochen oder ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Der Moment war still, eingefasst und ganz und gar ihrer.

      Zwei junge Männer, beide trotz der Hitze mit Kapuzen auf den Köpfen, saßen direkt vor Pei Xing und unterhielten sich laut. Auf der Fleecejacke des einen war ein Muster aus menschlichen Schädeln; der andere hatte ein chinesisches Schriftzeichen eintätowiert, Schicksal, gerade noch sichtbar auf seinem Hals. Es war seltsam, diese Schriftzeichen als modische Accessoires auf der Haut junger Männer zu entdecken. Dekoratives Chinesisch. Leeres Chinesisch. Pei Xing blickte aus dem Fenster und sah die Gebäude von Bankstown vorbeifliegen.

      Ihr Vater Chang Yong hatte ihre Mutter Nan Anyi 1935 in London kennengelernt. Er studierte am Birkbeck College und wollte seinen Doktor in englischer Literatur machen; sie war Klavierstudentin an der Royal Academy. Sie hatten sich durch einen gemeinsamen Freund, Wu Xingfu, kennengelernt, einer jener energiegeladenen Exilanten, denen die Kontaktaufnahme mit anderen als aufregende und wichtige Pflicht galt; ständig organisierte er Zusammenkünfte in Pubs und Picknicks im Park. Die Londoner begafften die bunt zusammengewürfelte Gruppe chinesischer Studenten ohne Neugier auf ihre Geschichte und gleichzeitig – das spürten sie – diffus feindselig gegenüber ihrer Gegenwart.

      Chang Yong besaß eine Box-Brownie-Kamera, sein wertvollster Besitz, und einst hatte es eine Reihe kitschiger Fotografien von der Gruppe gegeben, die sie posierend vor verschiedenen Londoner Wahrzeichen zeigte, vor den Löwen auf dem Trafalgar Square, den Stiefmütterchen im Hyde Park, den verschnörkelten Toren des Buckingham Palace. Ein besonders schräges Bild existierte von Yong und Anyi neben den Palastwachen mit ihren pfostenhohen Bärenfellmützen; sie wirkten zwergenhaft, unschuldig und albern. Beide hoben das Kinn in Richtung Wu Xingfu, als er das Foto machte; er musste in die Knie gegangen sein, um das witzige Größenverhältnis zu den Wachen zu betonen. Wenig später schon kam das förmliche Foto von ihrer Hochzeit, ebenfalls von Wu Xingfu geschossen und ebenfalls leicht schief. Das Paar stand auf den Stufen des Standesamts in Camden, beide ohne zu lächeln, so wie es der Konvention entsprach. Anyi trug ein tailliertes Kostüm, und ihre Haare waren wie eine schwarze Meeresmuschel zu einem ordentlichen, gewellten Bob frisiert, der glänzte, als wäre er feucht; Yong trug Nadelstreifen und einen zaghaft schräg sitzenden Filzhut. Beide wirkten glamourös und wussten es. Die Fotografien verrieten Pei Xing, dass sie einander liebten, London sie mutiger gemacht hatte und sie am Beginn ihrer Ehe unzählige Tage vor sich sahen.

      Keines dieser Bilder sollte die Kulturrevolution überleben. Niemand aus der Gruppe. Wu Xingfu, der an der London School of Economics seinen Doktor gemacht hatte, wurde gleich zu Beginn ermordet, nachdem man ihn der Pekinger Universität verwiesen und als »rechten, revisionistischen Schlangendämon« verschrien hatte. Er war ein Abkömmling der »Grundbesitzerklasse«, im Ausland ausgebildet und daher gab es wenig, das er zu seiner Verteidigung hätte vorbringen können. Seine Frau, eine Ärztin an der medizinischen Hochschule von Peking, während der Revolution zum antiimperialistischen Krankenhaus umfunktioniert, beging Selbstmord nur wenige Tage, nachdem sie von seinem Tod erfahren hatte. In den langen Wochen und Monaten, in denen Pei Xing die Listen durchging, um zu erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war, hatte sie auch eine