Название | Die Welt, in der wir leben |
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Автор произведения | Wilfried Nelles |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | Edition Neue Psychologie |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947508754 |
Die kindliche Sicht der Welt – die Welt der Märchen, der Zauberer, der Zugehörigkeit zu den Eltern und zur Familie (allgemein: zu etwas Größerem, das einen trägt und schützt und versorgt), etc. – ist für ein Kind vollkommen richtig und damit auch „wahr“. Sie darf Kindern deshalb auch – etwa durch das, was man heute „Aufklärung“ nennt oder durch die Zumutung von Eigenverantwortung oder der „freien Wahl und Entscheidung“ – nicht genommen werden. In der Jugend zerbricht diese Welt in tausend Scherben, und das muss so sein. Wenn man wirklich erwachsen sein will, muss man diese Scherben wieder einsammeln und schauen, welches neue Bild daraus entstehen will. Es wird ein vollkommen anderes sein als das, welches man sich in der Jugend erträumt hat.
Erwachsen wird man, wenn man die Kindheit und die Jugend in sich aufnimmt, und zwar genau so, wie sie waren – ohne Urteil, selbst ohne den Wunsch, daran etwas ändern zu wollen oder es anders gehabt haben zu wollen. Mit jedem großen Schritt in die Welt hinein: der Geburt, der Pubertät, dem Erwachsensein, den verschiedenen Stufen des Alters bis in den Tod, ändert sich unsere Welt nicht nur, sondern sie wird auch weiter und größer. Wenn wir dem im Bewusstsein folgen, weitet sich auch unser Geist und wird größer und umfassender. Das bedeutet auch: Ein Älterer kann einen Jüngeren verstehen, ein Jüngerer aber nicht einen Älteren, weil er dessen Erfahrungen noch nicht gemacht hat oder, um im Bild zu bleiben, dessen Welt noch nicht betreten hat. Daraus lassen sich wichtige Einsichten sowohl für die Beziehung der Generationen untereinander als auch und vor allem für das innere Wachstum eines jeden Menschen ableiten, die ich in diesem Buch darlegen werde.
Die verschiedenen Weltbilder oder Ansichten der Welt betreffen nicht nur Einzelne, sondern auch Kulturen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal sind die Kulturen – und mit ihnen die Menschen, die ihnen angehören – in mannigfacher Weise verschieden. Die Chinesen zum Beispiel denken grundsätzlich in Bildern, weil ihre Schrift eine Bilderschrift ist; das abstrakte Denken ist ihnen fremd und nicht so leicht zugänglich wie Europäern. Aus demselben Grund ist das Kopieren für sie nichts Schlechtes, denn sie lernen ihre Schrift nicht durch das Zusammensetzen von 26 Buchstaben, die in sich nichts bedeuten, sondern nur durch das Kopieren und Verstehen von mehreren tausend Zeichen, die jeweils ein ganzheitliches Bild darstellen. Aufgrund der tiefen Bedeutung von Yin und Yang, die als komplementäre Polaritäten und nicht als Gegensätze verstanden werden, denken sie (ebenso wie Japaner und Koreaner) auch nicht ideologisch und nicht, wie wir Westler, in sich ausschließenden Gegensätzen, in schwarz und weiß beziehungsweise entweder-oder. In China und Japan ist alles sowohl als auch. Das bestimmt auch ganz stark ihr Bild von Fortschritt und ihren Umgang mit der Vergangenheit. In ähnlicher Weise bildet jede Kultur eine eigene Welt, die die jeweilige Sicht der Menschen auf das Leben bestimmt, so dass man sagen kann, wir leben in verschiedenen Welten. Auch beim besten Willen macht dies die Verständigung sehr schwierig, und sie ist nur in dem Maße möglich, in dem man die jeweilige Weltsicht als der eigenen gleich gültig akzeptiert.
Ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber, es ist nicht mein Thema. Mir geht es eher um die zweite Ebene der Unterschiedlichkeit der Kulturen, nämlich die des unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Denn ähnlich wie Kindheit, Jugend und Erwachsensein beim einzelnen Menschen entwickelt sich auch das Bewusstsein der Menschheit insgesamt in Stufen, die aufeinander folgen und die höher und umfassender sind als die vorherige. Ein Europäer hat nicht nur deshalb eine andere Weltsicht als ein Araber, weil er einen christlichen Hintergrund hat und jener einen muslimischen, sondern auch, weil Europa (und auch das Christentum) eine Entwicklung durchgemacht hat, die den muslimischen Ländern (und anderen auch) noch bevorsteht. Das gilt für die gesamte Globalisierungsthematik: Hier stoßen Moderne und Tradition aufeinander und müssen in eine neue Balance gebracht werden. Allerdings erleben wir dabei dasselbe, was ich bereits für die individuelle Ebene angedeutet habe: Der Westen glaubt, seine Perspektive auf die Welt, insbesondere sein Weg der Modernisierung und seine Interpretation der Moderne, sei die einzig richtige. Damit wird er scheitern. Das ist, jenseits aller ökonomischen und politischen Differenzen (etwa Demokratie und Menschenrechte) und Machtspiele, der große Konflikt mit China (das selbstbewusst und stark genug ist, sich die westliche Perspektive nicht aufzwingen zu lassen), während es bei den Konflikten im vorderen Orient eher um den Kampf zwischen Moderne und Tradition/Religion geht. Auch die Migranten werden einsehen müssen, dass sie nicht in einer Welt Zuflucht finden können, die sie innerlich ablehnen.
Bewusstsein
Für die jeweilige Perspektive, aus der wir die Welt sehen und die damit unser Bild der Welt, unsere Empfindungen, Meinungen und Bewertungen und zuletzt auch unser Handeln bestimmt, benutze ich den Begriff des Bewusstseins. Unter „Bewusstsein“ verstehe ich die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst sehen und wahrnehmen, die Perspektive, aus der wir auf das Leben schauen und es daher erleben. „Bewusstsein“ bezeichnet zugleich unseren inneren Ort in der Welt als auch die Art und Weise, wie die Welt in uns präsent ist. Welt und Bewusstsein sind in diesem Sinne keine verschiedenen Dinge3.
Dieses Bewusstsein ist zeit- und kulturbedingt, im Allgemeinen wie beim einzelnen Menschen. Als Kind sehen wir die Welt ganz anders als in der Jugend, und für erwachsene Menschen sieht sie wieder anders aus. Und weil sie anders aussieht, ist sie auch anders; die kindliche Wirklichkeit ist eine ganz andere als die eines Erwachsenen – und beide Wirklichkeiten sind wahr. Für die Menschen des Mittelalters sah sie ganz anders aus als für uns Heutige, daher waren deren Probleme und auch die Lösungen dafür ganz andere; für eine arabische Frau sieht sie vollkommen anders aus als für eine westeuropäische, und für einen Eingeborenen im Regenwald Südamerikas sieht sie anders aus als für einen Weißen. Nochmals: Es ist nicht so, dass unsere Wirklichkeit, unsere Sicht der Welt wahrer wäre als die eines unzivilisierten Indios im Amazonasgebiet oder unserer Vorfahren im Mittelalter. Wir mögen zwar mehr wissen und sehen die Welt anders, tatsächlich leben wir aber nur in einem anderen Mythos, in dem andere Wahrheiten gelten als damals.
Ich beziehe das einmal auf die menschliche Seele und ihre Krankheiten. Psychische Probleme oder Krankheiten gab es vor der Moderne nicht. Es konnte sie nicht geben, weil es das Konzept der Psyche noch nicht gab. Das heißt nicht, dass es die Symptome nicht gab, aber sie wurden ganz anders gedeutet und demgemäß auch anders behandelt. Ein Ureinwohner in der afrikanische Savanne oder im Regenwald kannte (und kennt noch heute) keine psychischen Probleme, er wurde aber vielleicht von Dämonen heimgesucht. Das, was heute „Schizophrenie“ heißt, war damals eine Besetzung durch einen bösen Geist oder eine Verirrung der Seele, die sich aus dem Seelenraum der Gruppe gelöst hatte und haltlos umherirrte. Bei Völkern, die noch nicht vom Christentum erobert waren, kämpften die Schamanen mit Dämonen und versuchten, diesen die Seele des Kranken wieder zu entreißen und sie wieder in die Gemeinschaft zu holen. Wenn das gelang, war er geheilt. Dann kamen die Christen mit dem Kreuz, mit dem sie den Teufel bannten. Wenn im Mittelalter