Jugend in Berlin. Michael Kruse

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Название Jugend in Berlin
Автор произведения Michael Kruse
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783947380664



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sind nicht von Interesse. Es gibt halt viele Jugendliche, wo nichts zu holen ist, wo Werbung sich nicht lohnt.“ Der Jugendkult ist kalkuliert, so werden die Erwartungshaltungen der Werbekunden befriedigt. Denn die Werbefachleute schalten ihre Werbebotschaften am liebsten in einem Umfeld, das als jung und modern gilt. Das bringt aber für die Sender ein Problem: Die Werbekunden wollen mit ihren Radiospots eine zahlungskräftige Zielgruppe erreichen. Eben das sind die 14- bis 19-Jährigen gerade nicht. Denn sie verfügen nicht nur über ein vergleichsweise geringes Einkommen, sondern ihre Zahl geht dank geburtenschwacher Jahrgänge immer weiter zurück. Zudem hören sie im Durchschnitt auch weniger Radio als die älteren Altersgruppen, und so haben viele Radiosender den Kontakt zu jungen Zielgruppen verloren. Um ihn wiederherzustellen, müssten sie ihr Programm schrittweise für Hip-Hop, Dance oder Techno öffnen – ein Drahtseilakt. Denn dann laufen sie Gefahr, ihr Stammpublikum zu verärgern, das plötzlich merkt, wie alt es eigentlich schon ist.

      In den letzten Jahren ist ein neuer Trend zu beobachten, der die Jugendwellen besonders hart trifft: Das Smartphone hat enorm an Attraktivität gewonnen. Es verschlingt Zeit, sodass das Medium Radio immer weniger genutzt wird. Dazu kommt, dass Radio in Deutschland immer ähnlicher klingt, weil fast überall dieselbe Musik gespielt wird, damit der Geschmack der größtmöglichen Anzahl von Konsument*innen getroffen wird. Waren früher bei den Jugendwellen 4.000 Titel in der Rotation, so sind es heute rund 500, und die kann man sich mühelos auf einem Handy speichern.

      Spannend war der Start des ersten türkischsprachigen Radios Mitte 1999. Zwar hören Türk*innen deutlich weniger Radio als Deutsche, aber die, die Radio hören, sind in der Regel sehr jung. Genau diese will der Sender unter den 170.000 Einwohner*innen Berlins, die Türkisch sprechen, besonders unterhalten. 75 % des Programms bestehen aus Musik, ausgewählt vom Chartcomputer. Aber auch türkische Bands und Sänger wie Tarkan sollen das jugendliche, türkischsprachige Publikum anlocken – ein Spagat für die Musikredaktion. Denn die türkischen (männlichen) Jugendlichen stehen nicht selten auf amerikanischen Rap und Hip-Hop-Musik: „Ich höre schon gerne türkische Lieder. Nur, weil ich ja in Berlin geboren bin und mehr Deutsch spreche als Türkisch und mich auch mehr für die deutsche Kultur interessiere, habe ich auch nicht so viel Interesse an türkischen Liedern wie an amerikanischen. Ich verstehe die Texte nicht, das hört sich aber trotzdem toll an. Bei den türkischen Liedern, da verstehe ich die Texte. Aber bei den amerikanischen, da tanzen die auch sehr viel, sind richtig cool. Und ich stehe mehr auf Tanzen und so. Deshalb höre ich gerne mehr amerikanische Lieder als türkische. Und dann geht es bei den türkischen meistens so um Liebeslieder, aber die sind nicht so mein Stil“, betont Murat (13) aus Westberlin. Manfred (17) aus Ostberlin meint dagegen: „Musik höre ich deutsche Musik, also Endstufe, Onkelz und in die Richtung, also so englische höre ich nie, N****musik höre ich auch nicht, hab ich früher schon nicht, ich versteh gar nicht, was die da singen.“

      Festzuhalten bleibt, dass die frühe Schließung von DT 64 ein schwerer Verlust für die Kommunikationskultur war, insbesondere für die Ostberliner Jugendlichen. Zu beobachten ist ferner, dass sich viele Radiosender nach außen sehr jugendlich geben, aber aktuelle Untersuchungen immer wieder zeigen, dass die Hörer*innengruppen doch eher im frühen Erwachsenenbereich liegen. Unterschiede im Hörverhalten zwischen Ost und West sind heute, zumindest im Jugendalter, nicht mehr erkennbar. Spannend bleibt jedoch die Frage, ob sich die Berliner Radiosender der neuen Generation Handy stellen und wie sie diese Herausforderung annehmen.

       Kassettenrecorder

      Fast alle befragten Jugendlichen sind zum Zeitpunkt des Interviews im Besitz eines Kassettenrecorders. Während die Westberliner Jugendlichen ihn bereits im Kindesalter als Abspielgerät von Märchenkassetten benutzten, erhielten viele Ostberliner Jugendliche ihn als Geschenk zur Jugendweihe. Holm Felber weist auf die besondere Bedeutung der Kassette bei DDR-Jugendlichen hin: „Die Musikcassette avancierte zum entscheidenden Medium des gezielten Zugriffs DDR-Jugendlicher auf Musik. Die Programminhalte der privat bespielten Musikcassetten DDR-Jugendlicher wurden grundlegend von den in der DDR empfangbaren UKW-Hörfunkstationen der BRD und Westberlins bestimmt. Die Mehrheit der DDR-Jugendlichen war musikkulturell längst in die massenmedial zugänglichen Gefilde des westlichen Popmarktes emigriert“ (Felber in: Hennig/Friedrich 1991: 107 f.).

      Unmittelbar nach der Wende wurde der Kassettenrecorder in Ostberlin als sinnvolles Übergangsmedium wahrgenommen: „Ich nutze am meisten den Kassettenrecorder. Also ich habe von Platten, die ich mal ausborge, weil, bei uns gibt es ja doch keine zu kaufen, also nicht so was, was mich interessiert, und drüben habe ich noch nicht das Geld dafür, mir die zu kaufen, da hole sie mir lieber und überspiele sie auf Kassette“, erklärt Petra (19) aus Ostberlin. In beiden Teilen der Stadt werden von den befragten Jugendlichen selten bespielte Kassetten gekauft, sondern Leerkassetten mit aktueller Musik für den Walkman aufgenommen. Hier sind zwischen Ost und West keine Unterschiede erkennbar. Später ist jedoch feststellbar, dass aufgrund von Zeitmangel immer weniger aufgenommen wird als früher: „Erstens komme ich kaum dazu, höchstens morgens, und zweitens überspiele ich mir von Leuten dann, wenn die sich eine Kassette gekauft haben, oder ich kaufe mir selber Originalkassetten“, so Daniel (14) aus Ostberlin. Lediglich Jugendliche mit Migrationshintergrund nutzen häufiger bespielte Kassetten, da sie ihre Lieblingsmusik selten im Radio hören können.

      „Da gibt es erstens nicht so interessante Lieder. Und den Kanal suchen, das ist alles blöd. Einfach lieber die Kassetten hören, wo die Musik gut ist“, stellt Murat (13) aus Westberlin lapidar fest. Generell bleibt festzuhalten, dass Kassetten, die für Ostberliner Jugendliche eine wichtige Funktion vor der Wende hatten, nämlich die gezielte Aufnahme von Lieblingstiteln, inzwischen aus der Medienwelt der Jugendlichen verschwunden sind. Musik ist heute immer und überall im Internet verfügbar, zum anderen kann man sich auf das Handy jederzeit seine Lieblingsmusik aufnehmen.

       Walkman/iPod

      Seine Popularität hatte der Walkman bei Jugendlichen in Ost und West gleichermaßen. Während Westjugendliche ihn bereits im frühen Jugendalter geschenkt bekommen oder gekauft und später achtlos in die Ecke gelegt hatten, so erwarben die meisten Ostjugendlichen ihn erst am Tag des ersten Besuchs in Westberlin von ihrem Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM. „Den Walkman hab ich mir damals gekauft, wo die Grenzen aufgemacht wurden. Das war das Erste, weil ich so viel fahren muss, von hier nach Treptow, und da hab ich mir echt was Praktisches gekauft“, erzählt Sandra (15). Das galt für viele Jugendliche in Berlin, dass der Walkman überwiegend in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen wurde, um die Zeit zu überbrücken. „Walkman höre ich jeden Tag, wenn ich zur Schule fahre, wenn ich zurückkomme, wenn ich in der S-Bahn sitze“, so Alexandra (17) aus Ostberlin. Oder Marco (17) aus Westberlin: „Morgens, wenn ich eilig zur Schule musste, hab ich mir ’ne Heavykassette eingelegt mit Alice Cooper, fährt man automatisch schneller.“ Die Digitalisierung der Musikkultur hat durch die Einführung des iPods nicht nur den Walkman abgelöst, sondern sie wird auch den Konsum von Rock und Pop radikal verändern: Stereoanlagen und CD-Regale werden aus den Wohnzimmern verschwinden, das klassische Album mit Booklet, Cover und Hülle ebenfalls, oder anders ausgedrückt: Das Runde (CD) muss ins Eckige (Handy). Unterschiede im Nutzen dieses Mediums zwischen Ost- und Westjugendlichen sind definitiv nicht mehr erkennbar.

       Plattenspieler/CD-Player

      „Nee, die gab es nicht, na ja, auf dem Schwarzmarkt hast du die kaufen können, und denn für 120, 150 Mark haben die so gekostet, was natürlich ’ne Finanzanlage war“, erklärt Sven (17). Die Aussage dieses Ostberliner Jugendlichen macht deutlich, wie schwierig es in der ehemaligen DDR war, Westschallplatten zu bekommen. Insofern war ein Plattenspieler für DDR-Jugendliche nicht immer sonderlich attraktiv, aber er war als elterlicher Besitz in nahezu jedem Haushalt vorhanden. „In dem polnischen Kulturladen, da gab es auch die Dead Kennedys. Das war so ein Laden, wo man ab und zu ausländische LPs bekommen hat. Ich hab jetzt knapp 100 Platten, und die hab ich mir nach der Währungsreform