Kelter Kriminial Report 1 – Kriminalroman. Nina P.

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Название Kelter Kriminial Report 1 – Kriminalroman
Автор произведения Nina P.
Жанр Языкознание
Серия Kelter Kriminial Report
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740962777



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Eis brach, und der vermeintliche Retter versank in einer Welle aufschwappenden Wassers. Man hörte den Ansatz eines Schreis, der jedoch mit seinem Träger versank. Einen Augenblick später tauchte der Grün-haarige auf, wild rudernd und nach Halt suchend. Er fand nur die scharfe Eiskante, von der er aber immer wieder abglitt. Nach einer Weile wurden seine Bewegungen langsamer, und er schaffte es nur mehr – beide Arme auf dem Eis – sich über Wasser zu halten. Für eine Befreiung aus eigener Kraft schien er keine Energie mehr zu haben. Sein Kumpan klammerte sich weiterhin an die dünnen Zweige. Er schien wie erstarrt – erfroren – und konnte sich nicht mehr regen.

      Und wir? Wir standen und schauten zu. Ich kann absolut nicht sagen, warum wir nichts taten ... Warum ich nichts tat!

      Von dem Moment an, als der zweite eingebrochen war, muss jedem von uns ohne Zweifel klargewesen sein, dass sich die Eingebrochenen nicht mehr allein würden retten können. Hatten wir zu lange einfach nur zugesehen? Hielt uns das auf? Gibt es einen Moment, von dem ab man nichts mehr tun kann, weil man schon zu lange gewartet hat?

      Was war los mit uns? Mit mir? Ich will ja gar nicht von den anderen reden! Ihre Motive kann ich nur erraten. Doch auch in mir finde ich auf die Fragen nur ahnungslose, düstere Leere. Fakt ist, ich tat nichts. Ich bewegte nicht den kleinen Finger. Dabei raste mein Herz wie verrückt, und mir war bewusst, dass die Männer im Wasser um ihr Leben kämpften.

      Wären die beiden Kinder gewesen, ich bin mir sicher, alle Umstehenden hätten geholfen. Doch es waren Punks, und irgendwie schienen sie nicht zu uns zu gehören.

      »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!«, murmelte irgendjemand hinter mir.

      Und genau diese Meinung schienen alle zu teilen. Die beiden waren selbst schuld! Was trieben sie sich auch auf dem dünnen Eis herum? Jeder wusste doch, dass es gefährlich war.

      Nachts wache ich oft aus Träumen auf, in denen wir zusehen, wie die beiden schließlich versinken und nichts mehr von ihnen übrig bleibt bis auf leichte Wellenbewegungen des Wassers. Wir schauen noch eine Weile, dann drehen wir uns um und gehen – jeder seiner Wege.

      Ob es so gekommen wäre? Ich weiß es nicht.

      *

      Plötzlich tauchte eine junge Frau auf, die sich zu uns gesellte. Ebenso wie ich begriff sie rasch, was los war. Doch im Gegensatz zu mir handelte sie vollkommen anders.

      »Um Himmels willen!«, schrie sie. »Mein Gott! Die beiden ertrinken!«

      Ohne zu zögern lief sie den Abhang hinunter auf den Unglücksort zu. Am Ufer drehte sie sich um.

      »Sagt mal, spinnt ihr?«, schrie sie. »Ihr müsst helfen, verdammt noch mal!«

      Endlich aus meiner Starre befreit raste ich zu ihr. Auch einige andere folgten.

      »Ruft einen Krankenwagen!«, rief sie, während sie mit dem Fuß schon die Tragfähigkeit des Eises prüfte.

      »Wir müssen eine Kette bilden!«, entschied sie. »Los! Haltet mich! Und dann kommt der Nächste und so weiter!«

      Alle erkannten sie als Führerin an und taten, was sie sagte. Und tatsächlich erreichte sie gleich darauf den Grünhaarigen, den wir alle gemeinsam mit vereinten Kräften aus dem Wasser zogen. Einen Moment später lag er keuchend und zitternd am Ufer.

      Die Retterin richtete sich vorsichtig auf dem Eis auf und machte das, was der andere vergeblich versucht hatte. Sie erreichte den Ast und hangelte sich langsam auf den Rot-haarigen zu.

      Vollkommen aus meiner Apathie gerissen, tat ich plötzlich alles, um zur Rettung beizutragen. Ich hangelte mich hinter ihr her, ohne mich von der Gefährlichkeit unseres Tuns abschrecken zu lassen. Im Hintergrund hörte ich bereits das Martinshorn eines Krankenwagens.

      Wir hatten ihn fast erreicht, da glitten ihm plötzlich die dürren Zweige aus der Hand, und er glitt ins Wasser. Ich werde seinen Blick dabei niemals vergessen. Einen Moment nur konnte er den Kopf über Wasser halten. Dann versank er vor meinen Augen und direkt vor der Hand, die ihn retten wollte. Ich schrie auf.

      Und was tat die junge Frau? Sie sprang ohne zu zögern hinterher und schaffte es tatsächlich, den Ertrin-kenden über Wasser zu ziehen. Er schien nicht mehr zu atmen, und ich hätte geschworen, dass er tot war.

      »Hier!«

      Sie schob mir den Regungslosen entgegen und ich packte ihn an den Haaren, dem einzigen, was mir Halt gab. Hinter mir tauchte schon ein Rettungssanitäter auf, der mir die Last abnahm. Allein hätte ich es niemals geschafft, den schweren Körper zu halten, geschweige denn ihn aus dem Wasser zu ziehen.

      Die Frau zog sich an der Eiskante hoch, ich versuchte, ihr zu helfen, und bald darauf fanden wir uns alle auf sicherem Land wieder. Der Rothaarige wurde wiederbelebt. Es sah furchteinflößend und brutal aus, wie der Notarzt immer den Brustkasten eindrückte. Schließlich brachte man beide ins Krankenhaus. Ich war überzeugt, der Rothaarig sei tot. Auch die Polizei war mittlerweile eingetroffen und nahm unser aller Personalien auf. Ich sah, dass sich viele der Schau-lustigen bereits verzogen hatten. Geflohen waren!

      »Da stand eine riesige Horde Men-schen!«, sagte die mutige Retterin. »Keiner hat etwas getan! Die haben einfach zugeguckt!«

      »Tja!«, sagte einer der Polizisten. »Sie glauben gar nicht, wie oft wir so etwas zu hören und sehen bekommen!«

      »Sie hat auch zugesehen!« Die Frau zeigte mit dem Finger auf mich. »Und er und er und er auch!« Sie zeigte nacheinander auf alle, die ihr erst auf Zuruf geholfen hatten.

      Mein Gesicht brannte vor Scham. Ich war nass, fror erbärmlich und hatte noch nicht annähernd verdaut, was soeben geschehen war. Mein Herz raste, und plötzlich verlor ich die Besinnung. Ja, vielleicht kann man sogar sagen, ich rettete mich aus der Situation, indem ich ohnmächtig wurde.

      *

      Erst im Krankenhaus kam ich wieder zu mir. Die Ereignisse des Tages standen mir sofort vor Augen. Und sie sollten mich von Stund an nie mehr verlassen. Ich hatte zugesehen, wie zwei Menschen vor meinen Augen zu ertrinken drohten, und nichts dagegen getan! Nichts! Erst auf Zuruf hatte ich gehandelt!

      Ich weinte vor Scham und konnte nicht begreifen, was für ein Mensch ich war. Niemals hätte ich das von mir gedacht oder auch nur ansatzweise geahnt. Ich begann, mich zu hassen.

      Auch die Tatsache, dass beide Punker überlebten und ich ja letztendlich doch zu ihrer Rettung beigetragen hatte, konnte mich nicht trösten.

      Die Polizei kam und verhörte mich. Ich erzählte alles genau so, wie es sich zugetragen hatte. Ich schonte mich nicht, sondern gab zu, dass ich zunächst nichts unternommen hatte.

      Man eröffnete mir, dass die Staats-anwaltschaft ermittelte, und zu meiner grenzenlosen Scham gesellte sich die Furcht, dass man mich am Ende ins Gefängnis stecken würde.

      Ob ich jemanden der Anwesenden gekannt habe, fragte man mich, und ich verneinte. Am Ende aber wurden fast alle gefunden. Einer kannte den anderen, und einer verriet den anderen. Niemand wollte am Ende allein vor dem Richter stehen und verurteilt werden. Viele suchten zudem ihre Ausrede genau darin, dass ja so viele nichts getan und nur zugesehen hätten. Dazu mussten diese Vielen aber gefunden werden.

      *

      Und so standen wir am Ende fast vollständig vor Gericht. Die wenigsten fühlten sich schuldlos. Fast alle sahen betreten zu Boden und blickten einander nicht an. Nur von einigen hörte man, die Punks hätte ja selbst Schuld gehabt.

      »Soll ich etwa mein Leben riskieren, nur weil zwei Idioten mal die Dichte des Eises testen wollten?«, fragte einer der Männer.

      Ich erkannte ihn wieder. Er hatte neben mir gestanden und durch sein Reden dazu beigetragen, dass auch ich nichts tat.

      »Genau!«, ereiferte sich eine Frau. Auch sie erkannte ich. »Die hat doch niemand gezwungen, aufs Eis zu gehen! Und wegen solchem Gesocks werde ich nun bestraft! Eingesperrt gehören solchen Leute! Das ist Abschaum!«

      Der ›Abschaum‹ hatte sich, wie ich erst während der Verhandlung erfuhr, nur deshalb