Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud.

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Название Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud
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isbn 9788027207282



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man geradezu ein Volksinteresse darin, daß die Männer mit voller Potenz in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen der Prophylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegenstande gewinnen und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemeingültigen Einrichtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zustande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt, und darum kann man mit Recht auch unsere Zivilisation für die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen. Es müßte sich vieles ändern. Der Widerstand einer Generation von Ärzten muß gebrochen werden, die sich nicht mehr an ihre eigene Jugend erinnern können; der Hochmut der Väter ist zu überwinden, die vor ihren Kindern nicht gerne auf das Niveau der Menschlichkeit herabsteigen wollen, die unverständige Verschämtheit der Mütter ist zu bekämpfen, denen es jetzt regelmäßig als unerforschliche, aber unverdiente Schicksalsfügung erscheint, daß »gerade ihre Kinder nervös geworden sind«. Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum geschaffen werden für die Diskussion der Probleme des Sexuallebens; man muß von diesen reden können, ohne für einen Ruhestörer oder für einen Spekulanten auf niedrige Instinkte erklärt zu werden. Und somit verbliebe auch hier genügend Arbeit für ein nächstes Jahrhundert, in dem unsere Zivilisation es verstehen soll, sich mit den Ansprüchen unserer Sexualität zu vertragen!

      Der Wert einer richtigen diagnostischen Scheidung der Psychoneurosen von der Neurasthenie bezeigt sich auch darin, daß die ersteren eine andere praktische Würdigung und besondere therapeutische Maßnahmen erfordern. Die Psychoneurosen treten unter zweierlei Bedingungen auf, entweder selbständig oder im Gefolge der Aktualneurosen (Neurasthenie und Angstneurose). Im letzteren Falle hat man es mit einem neuen, übrigens sehr häufigen Typus von gemischten Neurosen zu tun. Die Ätiologie der Aktualneurose ist zur Hilfsätiologie der Psychoneurose geworden; es ergibt sich ein Krankheitsbild, in dem etwa die Angstneurose vorherrscht, das aber sonst Züge der echten Neurasthenie, der Hysterie und der Zwangsneurose enthält. Man tut nicht gut, angesichts einer solchen Vermengung etwa auf eine Sonderung der einzelnen 30 neurotischen Krankheitsbilder zu verzichten, da es doch nicht schwer ist, sich den Fall in folgender Weise zurechtzulegen: Wie die vorwiegende Ausbildung der Angstneurose beweist, ist hier die Erkrankung unter dem ätiologischen Einfluß einer aktuellen sexuellen Schädlichkeit entstanden. Das betreffende Individuum war aber außerdem zu einer oder mehreren Psychoneurosen durch eine besondere Ätiologie disponiert und wäre irgend einmal spontan oder bei Hinzutritt eines andern schwächenden Moments an Psychoneurose erkrankt. Nun ist die noch fehlende Hilfsätiologie für die Psychoneurose durch die aktuelle Ätiologie der Angstneurose hinzugefügt worden.

      Für solche Fälle hat sich mit Recht die therapeutische Übung eingebürgert, von der psychoneurotischen Komponente im Krankheitsbilde abzusehen und ausschließlich die Aktualneurose zu behandeln. Es gelingt in sehr vielen Fällen, auch der mitgerissenen Neurose Herr zu werden, wenn man der Neurasthenie zweckmäßig entgegentritt. Eine andere Beurteilung erfordern aber jene Fälle von Psychoneurose, die, sei es spontan auftreten oder nach dem Ablaufe einer aus Neurasthenie und Psychoneurose gemengten Erkrankung als selbständig übrigbleiben. Wenn ich von »spontanem« Auftreten einer Psychoneurose gesprochen habe, so meine ich damit nicht etwa, daß man bei anamnestischer Nachforschung jedes ätiologische Moment vermißt. Dies kann wohl der Fall sein, man kann aber auch auf ein indifferentes Moment, eine Gemütsbewegung, Schwächung durch somatische Erkrankung u. dgl., hingewiesen werden. Doch muß man für alle diese Fälle festhalten, daß die eigentliche Ätiologie der Psychoneurosen nicht in diesen Veranlassungen liegt, sondern der gewöhnlichen Weise anamnestischer Erhebung unfaßbar bleibt.

      Wie bekannt, ist es diese Lücke, welche man versucht hat, durch die Annahme einer besonderen neuropathischen Disposition auszufüllen, deren Existenz einer Therapie solcher Krankheitszustände freilich nicht viel Aussicht auf Erfolg übrigließe. Die neuropathische Disposition selbst wird als Zeichen einer allgemeinen Degeneration aufgefaßt, und somit gelangt dieses bequeme Kunstwort zu einer überreichlichen Verwendung gegen die armen Kranken, denen zu helfen die Ärzte recht ohnmächtig sind. Zum Glück steht es anders. Die neuropathische Disposition existiert wohl, aber ich muß bestreiten, daß sie zur Erzeugung der Psychoneurose hinreicht. Ich muß ferner bestreiten, daß das Zusammentreffen von neuropathischer Disposition und veranlassenden Ursachen des späteren Lebens eine ausreichende Ätiologie der Psychoneurosen darstellt. 31 Man ist in der Zurückführung der Krankheitsschicksale des einzelnen auf die Erlebnisse seiner Ahnen zu weit gegangen und hat daran vergessen, daß zwischen der Empfängnis und der Reife des Individuums ein langer und bedeutsamer Lebensabschnitt liegt, die Kindheit, in welcher die Keime zu späterer Erkrankung erworben werden können. So ist es tatsächlich bei der Psychoneurose. Ihre wirkliche Ätiologie ist zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar wiederum – und ausschließlich – in Eindrücken, die das sexuelle Leben betreffen. Man tut unrecht daran, das Sexualleben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, soviel ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen Sexualleistungen fähig. Sowenig die äußeren Genitalien und die beiden Keimdrüsen den ganzen Geschlechtsapparat des Menschen darstellen, ebensowenig beginnt sein Geschlechtsleben erst mit der Pubertät, wie es der groben Beobachtung erscheinen mag. Es ist aber richtig, daß die Organisation und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere sexuelle Betätigung im Kindesalter zu vermeiden strebt; es scheint, daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufgespeichert werden sollen, um dann bei ihrer Entfesselung zur Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken zu dienen. (Wilh. Fließ.) Aus einem derartigen Zusammenhange läßt sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse des Kindesalters pathogen wirken müssen. Sie entfalten ihre Wirkung aber nur zum geringsten Maße zur Zeit, da sie vorfallen; weit bedeutsamer ist ihre nachträgliche Wirkung, die erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann. Diese nachträgliche Wirkung geht, wie nicht anders möglich, von den psychischen Spuren aus, welche die infantilen Sexualerlebnisse zurückgelassen haben. In dem Intervall zwischen dem Erleben dieser Eindrücke und deren Reproduktion (vielmehr dem Erstarken der von ihnen ausgehenden libidinösen Impulse) hat nicht nur der somatische Sexualapparat, sondern auch der psychische Apparat eine bedeutsame Ausgestaltung erfahren, und darum erfolgt auf die Einwirkung jener früheren sexuellen Erlebnisse nun eine abnorme psychische Reaktion, es entstehen psychopathologische Bildungen.

      In diesen Andeutungen konnte ich nur die Hauptmomente anführen, auf welche sich die Theorie der Psychoneurosen stützt: die Nachträglichkeit, den infantilen Zustand des Geschlechtsapparates und des Seeleninstrumentes. Um ein wirkliches Verständnis des Entstehungsmechanismus der Psychoneurosen zu erzielen, brauchte es breiterer Ausführungen; vor allem wäre es unvermeidlich, gewisse Annahmen über die Zusammensetzung und die Arbeitsweise des psychischen Apparates, die mir neu scheinen, als glaubwürdig hinzustellen. In einem Buche über »Traumdeutung«, das ich gegenwärtig vorbereite, werde ich die Gelegenheit finden, jene Fundamente einer Neurosenpsychologie zu berühren. Der Traum gehört nämlich in dieselbe Reihe psychopathologischer Bildungen wie die hysterische fixe Idee, die Zwangsvorstellung und die Wahnidee.

      Da die Erscheinungen der Psychoneurosen vermittels der Nachträglichkeit von unbewußten psychischen Spuren aus entstehen, werden sie der Psychotherapie zugänglich, die allerdings hier andere Wege einschlagen muß als den bis jetzt einzig begangenen der Suggestion mit oder ohne Hypnose. Auf der von J. Breuer angegebenen »kathartischen« Methode fußend, habe ich in den letzten Jahren ein therapeutisches Verfahren nahezu ausgearbeitet, welches ich das »psychoanalytische« heißen will und dem ich zahlreiche Erfolge verdanke, während ich hoffen darf, seine Wirksamkeit noch erheblich zu steigern. In den 1895 veröffentlichten Studien über Hysterie (mit J. Breuer) sind die ersten Mitteilungen über Technik und Tragweite der Methode gegeben worden. Seither hat sich manches, wie ich behaupten darf, zum Besseren daran geändert. Während wir damals bescheiden aussagten, daß wir nur die Beseitigung von hysterischen Symptomen, nicht die Heilung der Hysterie selbst in Angriff nehmen könnten, hat sich mir seither diese Unterscheidung als inhaltslos herausgestellt, also die Aussicht auf wirkliche Heilung der Hysterie und Zwangsvorstellungen ergeben. Es hat mich darum recht lebhaft interessiert, in den Publikationen von Fachgenossen zu lesen: In diesem Falle habe das sinnreiche, von Breuer und Freud ersonnene Verfahren versagt, oder: Die Methode habe nicht gehalten, was sie zu versprechen schien. Ich hatte dabei etwa die Empfindungen eines Menschen, der in der Zeitung seine Todesanzeige findet, sich aber dabei in seinem Besserwissen beruhigt fühlen darf. Das Verfahren ist nämlich