Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud.

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Название Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud
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isbn 9788027207282



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man in dieser Weise mit seinen Kranken, so erwirbt man sich auch die Überzeugung, daß es für die Lehre von der sexuellen Ätiologie der Neurasthenie negative Fälle nicht gibt. Bei mir wenigstens ist diese Überzeugung so sicher geworden, daß ich auch den negativen Ausfall des Examens diagnostisch verwertet habe, nämlich um mir zu sagen, daß solche Fälle keine Neurasthenie sein können. So kam ich mehrmals dazu, eine progressive Paralyse anstatt einer Neurasthenie anzunehmen, weil es mir nicht gelungen war, die nach meiner Lehre erforderliche ausgiebige Masturbation nachzuweisen, und der Verlauf dieser Fälle gab mir nachträglich recht. Ein andermal, wo der Kranke, bei Abwesenheit deutlicher organischer Veränderungen, über Kopfdruck, Kopfschmerzen, Dyspepsie klagte und meinen sexuellen Verdächtigungen mit Aufrichtigkeit und überlegener Sicherheit begegnete, fiel es mir ein, eine latente Eiterung in einer der Nebenhöhlen der Nase zu vermuten, und ein spezialistisch geschulter Kollege bestätigte diesen aus dem sexuell negativen Examen gezogenen Schluß, indem er den Kranken durch Entleerung von fötidem Eiter aus einer Highmorshöhle von seinen Beschwerden befreite.

      Der Anschein, als ob es dennoch »negative Fälle« gäbe, kann auch auf andere Weise entstehen. Das Examen weist mitunter ein normales Sexualleben bei Personen nach, deren Neurose einer Neurasthenie oder einer Angstneurose für oberflächliche Beobachtung wirklich genug ähnlich sieht. Tiefer eindringende Untersuchung deckt aber dann regelmäßig den wahren Sachverhalt auf. Hinter solchen Fällen, die man für Neurasthenie gehalten hat, steckt eine Psychoneurose, eine Hysterie oder Zwangsneurose. Die Hysterie insbesondere, die so viele organische Affektionen nachahmt, kann mit Leichtigkeit eine der aktuellen Neurosen vortäuschen, indem sie deren Symptome zu hysterischen erhebt. Solche Hysterien in der Form der Neurasthenie sind nicht einmal sehr selten. Es ist aber keine wohlfeile Auskunft, wenn man für die Neurasthenien mit sexuell negativer Auskunft auf die Psychoneurosen rekurriert; man kann den Nachweis hiefür führen auf jenem Wege, der allein eine Hysterie untrüglich entlarvt, auf dem Wege der später zu erwähnenden Psychoanalyse.

      Vielleicht wird nun mancher, der gerne bereit ist, der sexuellen Ätiologie bei seinen neurasthenisch Kranken Rechnung zu tragen, es doch als eine Einseitigkeit rügen, wenn er nicht aufgefordert wird, auch den anderen Momenten, die als Ursachen der Neurasthenie bei den Autoren allgemein erwähnt sind, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Es fällt mir nun nicht ein, die sexuelle Ätiologie bei den Neurosen jeder anderen zu substituieren, so daß ich deren Wirksamkeit für aufgehoben erklären würde. Das wäre ein Mißverständnis. Ich meine vielmehr, zu all den bekannten und wahrscheinlich mit Recht anerkannten ätiologischen Momenten der Autoren für die Entstehung der Neurasthenie kommen die sexuellen, die bisher nicht hinreichend gewürdigt worden sind, noch hinzu. Diese verdienen aber, nach meiner Schätzung, daß man ihnen in der ätiologischen Reihe eine besondere Stellung anweise. Denn sie allein werden in keinem Falle von Neurasthenie vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne weitere Beihilfe zu erzeugen, so daß diese anderen Momente zur Rolle einer Hilfs-und Supplementärätiologie herabgedrückt scheinen; sie allein gestatten dem Arzte, sichere Beziehungen zwischen ihrer Mannigfaltigkeit und der Vielheit der Krankheitsbilder zu erkennen. Wenn ich dagegen die Fälle zusammenstelle, die angeblich durch Überarbeitung, Gemütsaufregung, nach einem Typhus u. dgl. neurasthenisch geworden sind, so zeigen sie mir in den Symptomen nichts Gemeinsames, ich wüßte aus der Art der Ätiologie keine Erwartung in betreff der Symptome zu bilden wie umgekehrt aus dem Krankheitsbilde nicht auf die einwirkende Ätiologie zu schließen.

      Die sexuellen Ursachen sind auch jene, welche dem Arzte am ehesten einen Anhalt für sein therapeutisches Wirken bieten. Die Heredität ist unzweifelhaft ein bedeutsamer Faktor, wo sie sich findet; sie gestattet, daß ein großer Krankheitseffekt zustande kommt, wo sich sonst nur ein sehr geringer ergeben hätte. Allein die Heredität ist der Beeinflussung des Arztes unzugänglich; ein jeder bringt seine hereditären Krankheitsneigungen mit sich; wir können nichts mehr daran ändern. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß wir gerade in der Ätiologie der Neurasthenien der Heredität den ersten Rang notwendig versagen müssen. Die Neurasthenie (in beiden Formen) gehört zu den Affektionen, die jeder erblich Unbelastete bequem erwerben kann. Wäre es anders, so wäre ja die riesige Zunahme der Neurasthenie undenkbar, über welche alle Autoren klagen. Was die Zivilisation betrifft, zu deren Sündenregister man oft die Verursachung der Neurasthenie zu schreiben pflegt, so mögen auch hierin die Autoren recht haben (wiewohl wahrscheinlich auf ganz anderen Wegen, als sie vermeinen); aber der Zustand unserer Zivilisation ist gleichfalls für den einzelnen etwas Unabänderliches; übrigens erklärt dieses Moment bei seiner Allgemeingültigkeit für die Mitglieder derselben Gesellschaft niemals die Tatsache der Auswahl bei der Erkrankung. Der nicht neurasthenische Arzt steht ja unter demselben Einflüsse der angeblich unheilvollen Zivilisation wie der neurasthenische Kranke, den er behandeln soll. – Die Bedeutung erschöpfender Einflüsse bleibt mit der oben gegebenen Einschränkung bestehen. Aber mit dem Momente der »Überarbeitung«, das die Ärzte so gerne ihren Patienten als Ursache ihrer Neurose gelten lassen, wird übermäßig viel Mißbrauch getrieben. Es ist ganz richtig, daß jeder, der sich durch sexuelle Schädlichkeiten zur Neurasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals wird jemand durch Arbeit oder durch Aufregung allein neurotisch. Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen neurasthenische Erkrankung; gerade die ausdauerndsten intellektuellen Arbeiter bleiben von der Neurasthenie verschont, und was die Neurastheniker als »krank machende Überarbeitung« anklagen, das verdient in der Regel weder der Qualität noch dem Ausmaße nach als »geistige Arbeit« anerkannt zu werden. Die Ärzte werden sich wohl gewöhnen müssen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau »überangestrengt«, oder der Hausfrau, der ihr Hauswesen zu schwer geworden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt sind, weil sie versucht haben, ihre für ein zivilisiertes Gehirn eigentlich leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie währenddessen ihr Sexualleben gröblich vernachlässigt und verdorben haben.

      24 Nur die sexuelle Ätiologie ermöglicht uns ferner das Verständnis aller Einzelheiten der Krankengeschichten bei Neurasthenikern, der rätselhaften Besserungen mitten im Krankheitsverlaufe und der ebenso unbegreiflichen Verschlimmerungen, die von Ärzten und Kranken dann gewöhnlich mit der eingeschlagenen Therapie in Beziehung gebracht werden. In meiner mehr als zweihundert Fälle umfassenden Sammlung ist z. B. die Geschichte eines Mannes verzeichnet, der, nachdem ihm die hausärztliche Behandlung nichts genützt hatte, zu Pfarrer Kneipp ging und von dieser Kur an ein Jahr von außerordentlicher Besserung mitten in seinen Leiden zu verzeichnen hatte. Als aber ein Jahr später die Beschwerden sich wieder verstärkten und er neuerdings Hilfe in Wörishofen suchte, blieb der Erfolg dieser zweiten Kur aus. Ein Blick in die Familienchronik dieses Patienten löst das zweifache Rätsel auf: sechseinhalb Monate nach der ersten Rückkehr aus Wörishofen wurde dem Kranken von seiner Frau ein Kind geboren; er hatte sie also zu Beginn einer noch unerkannten Gravidität verlassen und durfte nach seiner Wiederkunft natürlichen Verkehr mit ihr pflegen. Als nach Ablauf dieser für ihn heilsamen Zeit seine Neurose durch neuerlichen coitus interruptus wieder angefacht war, mußte sich die zweite Kur erfolglos erweisen, da jene oben erwähnte Gravidität die letzte blieb.

      Ein ähnlicher Fall, in dem gleichfalls eine unerwartete Einwirkung der Therapie zu erklären war, gestaltete sich noch lehrreicher, indem er eine rätselhafte Abwechslung in den Symptomen der Neurose enthielt. Ein jugendlicher Nervöser war von seinem Arzte in eine wohlgeleitete Wasserheilanstalt wegen typischer Neurasthenie geschickt worden. Dort besserte sich sein Zustand anfänglich immer mehr, so daß alle Aussicht vorhanden war, den Patienten als dankbaren Anhänger der Hydrotherapie zu entlassen. Da trat in der sechsten Woche ein Umschlag ein; der Kranke »vertrug das Wasser nicht mehr«, wurde immer nervöser und verließ endlich nach zwei weiteren Wochen ungeheilt und unzufrieden die Anstalt. Als er sich bei mir über diesen Trug der Therapie beklagte, erkundigte ich mich ein wenig nach den Symptomen, die ihn mitten in der Kur befallen hatten. Merkwürdigerweise hatte sich darin ein Wandel vollzogen. Er war mit Kopfdruck, Müdigkeit und Dyspepsie in die Anstalt gegangen; was ihn in der Behandlung gestört hatte, 25 waren: Aufgeregtheit, Anfälle von Beklemmung, Schwindel im Gehen und Schlafstörung gewesen. Nun konnte ich dem Kranken sagen: »Sie tun der Hydrotherapie unrecht. Sie sind, wie Sie selbst sehr wohl gewußt haben, infolge von lange fortgesetzter Masturbation erkrankt. In der Anstalt haben Sie diese Art der Befriedigung aufgegeben und sich darum rasch erholt. Als