Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud.

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Название Ausgewählte Werke über die Sexualität von Sigmund Freud
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isbn 9788027207282



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Spaziergänge in der Nähe der Anstalt gaben Ihnen gute Gelegenheit dazu. An diesem Verhältnisse sind Sie von neuem erkrankt, nicht an einer plötzlich aufgetretenen Intoleranz gegen die Hydrotherapie. Aus Ihrem gegenwärtigen Befinden schließe ich übrigens, daß Sie dasselbe Verhältnis auch in der Stadt fortsetzen.« Ich kann versichern, daß der Kranke mich dann Punkt für Punkt bestätigt hat.

      Die gegenwärtige Therapie der Neurasthenie, wie sie wohl am günstigsten in den Wasserheilanstalten geübt wird, setzt sich das Ziel, die Besserung des nervösen Zustandes durch zwei Momente: Schonung und Stärkung des Patienten zu erreichen. Ich wüßte nichts anderes gegen diese Therapie vorzubringen, als daß sie den sexuellen Bedingungen des Falles keine Rechnung trägt. Nach meiner Erfahrung ist es höchst wünschenswert, daß die ärztlichen Leiter solcher Anstalten sich genügend klarmachen, daß sie es nicht mit Opfern der Zivilisation oder der Heredität, sondern – sit venia verbo – mit Sexualitätskrüppeln zu tun haben. Sie würden sich dann einerseits ihre Erfolge wie ihre Mißerfolge leichter erklären, anderseits aber neue Erfolge erzielen, die bis jetzt dem Zufalle oder dem unbeeinflußten Verhalten des Kranken anheimgegeben sind. Wenn man eine ängstlich-neurasthenische Frau von ihrem Hause weg in die Wasserheilanstalt schickt, sie dort, aller Pflichten ledig, baden, turnen und sich reichlich ernähren läßt, so wird man gewiß geneigt sein, die oft glänzende Besserung, die so in einigen Wochen oder Monaten erreicht wird, auf Rechnung der Ruhe, welche die Kranke genossen hat, und der Stärkung, die ihr die Hydrotherapie gebracht hat, zu setzen. Das mag so sein; man übersieht aber dabei, daß mit der Entfernung vom Hause für die Patientin auch eine Unterbrechung des ehelichen Verkehrs gegeben ist und daß erst diese zeitweilige Ausschaltung der krank machenden Ursache ihr die Möglichkeit gibt, sich bei zweckmäßiger Therapie zu erholen. Die Vernachlässigung dieses ätiologischen Gesichtspunktes rächt sich nachträglich, indem der scheinbar so 26 befriedigende Heilerfolg sich als sehr flüchtig erweist. Kurze Zeit nachdem der Patient in seine Lebensverhältnisse zurückgekehrt ist, stellen sich die Symptome des Leidens wieder ein und nötigen ihn, entweder immer von Zeit zu Zeit einen Teil seiner Existenz unproduktiv in solchen Anstalten zu verbringen, oder veranlassen ihn, seine Hoffnungen auf Heilung anderswohin zu richten. Es ist also klar, daß die therapeutischen Aufgaben bei der Neurasthenie nicht in den Wasserheilanstalten, sondern innerhalb der Lebensverhältnisse der Kranken in Angriff zu nehmen sind.

      Bei anderen Fällen kann unsere ätiologische Lehre dem Anstaltsarzte Aufklärung über die Quelle von Mißerfolgen geben, die sich noch in der Anstalt selbst ereignen, und ihm nahelegen, wie solche zu vermeiden sind. Die Masturbation ist bei erwachsenen Mädchen und reifen Männern weit häufiger, als man anzunehmen pflegt, und wirkt als Schädlichkeit nicht nur durch die Erzeugung der neurasthenischen Symptome, sondern auch, indem sie die Kranken unter dem Drucke eines als schändlich empfundenen Geheimnisses erhält. Der Arzt, der nicht gewohnt ist, Neurasthenie in Masturbation zu übersetzen, gibt sich für den Krankheitszustand Rechenschaft, indem er sich auf ein Schlagwort wie Anämie, Unterernährung, Überarbeitung usw. bezieht, und erwartet nun bei Anwendung der dagegen ausgearbeiteten Therapie die Heilung seines Kranken. Zu seinem Erstaunen wechseln aber beim Kranken Zeiten von Besserung mit anderen ab, in denen unter schwerer Verstimmung alle Symptome sich verschlimmern. Der Ausgang einer solchen Behandlung ist im allgemeinen zweifelhaft. Wüßte der Arzt, daß der Kranke die ganze Zeit über mit seiner sexuellen Angewöhnung kämpft, daß er in Verzweiflung verfallen ist, weil er ihr wieder einmal unterliegen mußte, verstünde er, dem Kranken sein Geheimnis abzunehmen, dessen Schwere in seinen Augen zu entwerten und ihn bei seinem Abgewöhnungskampfe zu unterstützen, so würde der Erfolg der therapeutischen Bemühung hiedurch wohl gesichert.

      Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der neuen therapeutischen Aufgaben, welche dem Arzte aus der Berücksichtigung der sexuellen Ätiologie erwachsen, und diese Aufgabe gerade scheint wie jede andere Abgewöhnung nur in einer Krankenanstalt und unter beständiger Aufsicht des Arztes lösbar. Sich selbst überlassen, pflegt der Masturbant bei jeder verstimmenden Einwirkung auf die ihm bequeme Befriedigung zurückzugreifen. Die ärztliche Behandlung kann sich hier kein anderes Ziel stecken, als den wieder gekräftigten Neurastheniker dem normalen Geschlechtsverkehre zuzuführen, denn das einmal geweckte und durch eine geraume Zeit befriedigte Sexualbedürfnis läßt sich nicht mehr zum Schweigen bringen, sondern bloß auf einen anderen Weg verschieben. Eine ganz analoge Bemerkung gilt übrigens auch für alle anderen Abstinenzkuren, die so lange nur scheinbar gelingen werden, solange sich der Arzt damit begnügt, dem Kranken das narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um die Quelle zu kümmern, aus welcher das imperative Bedürfnis nach einem solchen entspringt. »Gewöhnung« ist eine bloße Redensart ohne aufklärenden Wert; nicht jedermann, der eine Zeitlang Morphium, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen Gelegenheit hat, erwirbt hiedurch die »Sucht« nach diesen Dingen. Genauere Untersuchung weist in der Regel nach, daß diese Narkotika zum Ersatze – direkt oder auf Umwegen – des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und wo sich normales Sexualleben nicht mehr herstellen läßt, da darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten.

      Die andere Aufgabe wird dem Arzte durch die Ätiologie der Angstneurose gestellt und besteht darin, den Kranken zum Verlassen aller schädlichen Arten des Sexualverkehrs und zur Aufnahme normaler sexueller Beziehungen zu veranlassen. Wie begreiflich, fällt diese Pflicht vor allem dem ärztlichen Vertrauensmanne des Kranken, dem Hausarzte, zu, der seine Klienten schwer schädigt, wenn er sich zu vornehm hält, um in diese Sphäre einzugreifen.

      Da es sich hiebei zumeist um Ehepaare handelt, stößt das Bemühen des Arztes alsbald mit den malthusianischen Tendenzen, die Anzahl der Konzeptionen in der Ehe einzuschränken, zusammen. Es scheint mir unzweifelhaft, daß diese Vorsätze in unserem Mittelstande immer mehr an Ausbreitung gewinnen; ich bin Ehepaaren begegnet, die schon nach dem ersten Kinde die Verhütung der Konzeption durchzuführen begannen, und anderen, deren sexueller Verkehr von der Hochzeitsnacht an diesem Vorsatze Rechnung tragen wollte. Das Problem des Malthusianismus ist weitläufig und kompliziert; ich habe nicht die Absicht, es hier erschöpfend zu behandeln, wie es für die Therapie der Neurosen eigentlich erforderlich wäre. Ich gedenke nur zu erörtern, welche 28 Stellung der Arzt, der die sexuelle Ätiologie der Neurosen anerkennt, zu diesem Problem am besten einnehmen kann.

      Das Verkehrteste ist es offenbar, wenn er dasselbe – unter welchen Vorwänden immer – ignorieren will. Was notwendig ist, kann nicht unter meiner ärztlichen Würde sein, und es ist notwendig, einem Ehepaare, das an die Einschränkung der Kinderzeugung denkt, mit ärztlichem Rate beizustehen, wenn man nicht einen Teil oder beide der Neurose aussetzen will. Es läßt sich nicht bestreiten, daß malthusianische Vorkehrungen irgend einmal in einer Ehe zur Notwendigkeit werden, und theoretisch wäre es einer der größten Triumphe der Menschheit, eine der fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange, dem unser Geschlecht unterworfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben und ihn von der Verquickung mit der notwendigen Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen.

      Der einsichtsvolle Arzt wird es also auf sich nehmen zu entscheiden, unter welchen Verhältnissen die Anwendung von Maßregeln zur Verhütung der Konzeption gerechtfertigt ist, und wird die schädlichen unter diesen Hilfsmitteln von den harmlosen zu sondern haben. Schädlich ist alles, was das Zustandekommen der Befriedigung hindert; bekanntlich besitzen wir aber derzeit kein Schutzmittel gegen die Konzeption, welches allen berechtigten Anforderungen genügen würde, d. h. sicher, bequem ist, der Lustempfindung beim Koitus nicht Eintrag tut und das Feingefühl der Frau nicht verletzt. Hier ist den Ärzten eine praktische Aufgabe gestellt, an deren Lösung sie ihre Kräfte dankbringend setzen können. Wer jene Lücke in unserer ärztlichen Technik ausfüllt, der hat Unzähligen den Lebensgenuß erhalten und die Gesundheit bewahrt, freilich dabei auch eine tief einschneidende Veränderung in unseren gesellschaftlichen Zuständen angebahnt.

      Hiemit sind die Anregungen nicht erschöpft, die aus der Erkenntnis einer sexuellen Ätiologie der Neurosen fließen. Die Hauptleistung, die uns zugunsten der Neurastheniker möglich ist, fällt in die Prophylaxis. Wenn die Masturbation die Ursache der Neurasthenie in der Jugend ist und späterhin durch die von ihr geschaffene Verminderung der Potenz auch zu ätiologischer Bedeutung für die Angstneurose gelangt, so ist die Verhütung der Masturbation bei beiden Geschlechtern eine Aufgabe, die mehr Beachtung verdient,