Vorhang zu!. André Storm

Читать онлайн.
Название Vorhang zu!
Автор произведения André Storm
Жанр Языкознание
Серия Ben Pruss
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954415298



Скачать книгу

Bühne für ihn gab – hier genoss er offensichtlich seinen Auftritt.

      Ben trank einen Schluck von seinem Bier und fragte sich, ob er diesen Tag schon in Rechnung stellen sollte? Besser nicht. Der Geschmack in seinem Mund war schal und bitter. Ein paar Meter neben ihm krachte es, und Ben blickte instinktiv in die Richtung des Geräuschs. »Das ist jetzt nicht wahr!«, grummelte er, dann lief er zu Kai, der vom Barhocker gerutscht war und weiterhin selig schlafend auf dem Parkettboden lag. Das Gemurmel ringsum verstummte und scheinbar jeder gaffte auf die unbekannte Person zu ihren Füßen. Manche wirkten erschrocken, manche peinlich berührt, einige lachten und deuteten mit dem Finger auf Kai.

      Ben kniete sich neben ihn, griff ihn mit der linken Hand am Kragen und gab ihm mit der anderen Hand rechts und links ein paar schallende Ohrfeigen. Das fühlte sich gut an. »Alter! Geht’s noch? Wach auf!«, rief er, wohl wissend, nun das Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein.

      Kai rührte sich nicht. Sein Kopf hing nutzlos zur Seite, und seine Zunge hing schlapp aus dem Mund. Vermutlich hätte Ben Kais Kopf an dieser Stelle wieder sacht auf dem Boden abgelegt, wäre zur Bar gegangen, hätte sich ein Glas Wasser besorgt, und dieses, zum Amüsement der umstehenden Gäste, Kai ins Gesicht gekippt – doch es sollte anders kommen.

      Ben bemerkte den Aufruhr an einer Seite des Saals. Hektisches Treiben, laute Stimmen. Zuerst glaubte er, dass es wegen Kai sein müsse. Immer noch neben seinem Freund kniend blickte er auf. Nein, etwas anderes war da im Gange. Eine in die Wand eingelassene und mit Samt eingefasste Tür, war für die Gäste ins Zentrum des Interesses gerückt. Der Jongleur Giulio Elmo stand zusammen mit Gerold Schottner davor. Beide hatten ein Ohr an das Türblatt gelegt und lauschten. Schottners rechte Hand lag auf der in die Tür eingelassenen Klinke, doch da er die Tür nicht öffnete, nahm Ben an, dass sie verschlossen sei. »Hallo!«, schrie er, und klopfte mit der Faust, während er mit der anderen Hand eine Geste machte, die das Publikum ringsherum zum Schweigen brachte. »Wer ist da?«

      Ben wusste nicht, ob Gerold Schottner eine Antwort bekommen hatte oder nicht, denn die Musik verebbte erst in diesem Moment.

      »Wir müssen diese Tür aufmachen! Wer hat einen Schlüssel?«, schrie Pedro Möller in den Saal.

      »Vielleicht ist es einer von denen. Die Tür wurde schon seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet«, rief der Barkeeper, der eilig mit einem Schlüsselbund hinter der Theke hervorkam.

      Ben war unbewusst näher zur Tür gerückt, und mit ihm die meisten weiteren Gäste im Saal. Giulio Elmo griff den Schlüsselbund, suchte den erstbesten Schlüssel aus und versuchte ihn in das Schloss zu stecken. Bis auf das Geklimper der Schlüssel war alles still. Doch nicht lange. Die Stille schaffte Platz für die Geräusche hinter der Tür. Ben, der noch näher herangerückt war, hörte ein gedämpftes, dringliches Klopfen auf der anderen Seite, untermalt von einem anderen Geräusch. Ben konnte es nicht gleich zuordnen. War es ein Schreien? Nein, eher war es ein Keuchen.

      »Der passt«, rief Giulio Elmo und riss die Tür auf. Der Kellergang wurde sichtbar – nackte Wände aus Backsteinen, diffuses, gelbes Licht. Feuchter Kellergeruch machte sich breit und jahrealter Staub rieselte von der Tür in den Saal. Graue Spinnweben. Niemand war auf der anderen Seite zu sehen. Die vier Personen, die direkt vor der Tür standen, gaben scheinbar gleichzeitig einen Ausruf des Schreckens von sich und traten einen Schritt zurück. Ben erkannte eine Gestalt, die auf dem Boden lag. Er hörte wieder dieses Keuchen. Nicht mehr durch die dicke Eisentür gedämpft, ließ es eine Gänsehaut auf seinem Kopf sprießen. Es hörte sich an, als ob jemand heftig keuchend und röchelnd bemüht wäre, Luft in seine Lungen zu saugen.

       Chhhhhh … Chhhhhh …

      Die Gäste im Saal schienen sich kollektiv weiter von der Tür wegzubewegen oder erstarrt zu sein. Ben spürte den Drang, sich umzudrehen und wegzulaufen, doch er zwang sich zu handeln. »Lasst mich durch! Ich bin Masseur!«, schrie er der Menschengruppe vor der Tür zu, die sich vor ihm teilte und den Blick auf die Gestalt am Boden gänzlich freigab.

      »Das ist Lily!«, schrie ein Mann. Plötzlich war Bewegung im Saal. Ben erreichte die Frau, zog sie weiter in den Saal und drehte sie auf den Rücken. Giulio Elmo, oder vielleicht Gerold Schottner, half ihm dabei. Jetzt erkannte er, dass es sich um die Schlangenfrau handelte. Lily Polley starrte ihn aus hervortretenden, panischen Augen an. Ihr Mund weit aufgerissen, die milchig schimmernde Zunge nach vorne aus dem Mund gestreckt. Die Haut nass glänzend vor Schweiß. Aufgedunsen, kalkweiß. Adern traten ihr pochend aus Stirn und Schläfe. Wieder ein Röcheln. Ein verzweifelter, sinnloser Versuch, Luft in die Lungen zu bekommen. Ben würde dieses Geräusch sein Leben lang nicht mehr vergessen.

      Lily Polley griff in Panik nach seinem Revers, versuchte, sich an ihm hochzuziehen. Er musste einen Luftröhrenschnitt machen, dachte Ben mit einem Grausen und ohne den blassesten Schimmer, wie das praktisch vonstattengehen sollte. Er hörte die anderen um ihn herum schreien, rufen, durcheinanderreden.

      Sie würde hier und jetzt sterben, das war Ben klar. Doch noch starb sie nicht. Sie bäumte sich auf, drehte sich auf den Bauch und robbte auf allen vieren einige Meter weiter. Mit aufgerissenen, flehenden Augen blickte sie ihre Kollegen an, die vor ihr zurückwichen, als wollte sie sie mit einer ansteckenden, tödlichen Krankheit infizieren. Ein langer, kehliger Laut, mehr tot als lebendig, löste sich aus ihrer Lunge, dann brach sie zusammen. Der Kampf war vorüber, und Ben wusste mit vollkommener Sicherheit, dass es nichts brachte, was er als Nächstes tat. Er drehte ihren Körper auf den Rücken und begann eine Herz-Lungen Massage. Von irgendwoher flammte in seinem Kopf das Wissen auf, wie das ging. Fest, mit durchgedrückten Armen, zum Beat von Yellow Submarine. »Nimmt jemand den Notarzt in Empfang?«, schrie er in die glotzende Menge.

      »Pedro ist oben«, antwortete irgendwer.

      Ben sah auf Lily Polley, deren tote Augen ins Leere starrten. Ihr Körper bebte unter seinen sinnlosen Stößen. Er erkannte, woran sie gestorben war, und eine weitere Dosis Adrenalin durchfuhr seinen Körper. »Schnell! Macht sofort die Tür zu! Schnell, die Tür zu!«, schrie er panisch in den Saal.

       KAPITEL 3

      Das Kapitel, in dem Ben sich gerade noch rausreden kann und am Schluss ein wohliges Gefühl in der Herzgegend verspürt.

      Jemand knallte die Tür mit einem Krachen ins Schloss.

      »Sie ist von einer Schlange gebissen worden«, schrie Ben. Seine Kräfte ließen nach. Er pumpte weiter Blut durch Lilys Herz, ohne den Glauben, sie damit zurück ins Leben holen zu können. Er ließ erst von ihr ab, als er endlich die zwei Rettungssanitäter sah, die in den Saal gestürmt kamen. Er unterrichtete die Helfer darüber, dass er eine Bissspur an Lily Polleys Unterarm gefunden habe. Pedro Möller war ebenfalls herbeigekommen und ergänzte, dass es sich entweder um den Biss einer Kobra oder den einer Klapperschlange handeln müsse. Ben bezweifelte, dass das noch irgendeine Relevanz für die Schlangenfrau hatte.

      Nassgeschwitzt ging er zurück zur Theke und setzte sich schwer atmend auf einen der freien Barhocker. Er fröstelte. Die umstehenden Gäste beobachteten entsetzt die vergeblichen Versuche der Sanitäter, das Leben ihrer Kollegin zu retten.

      »Was ist denn mit dem da?«, fragte einer der Rettungsassistenten an Pedro Möller gewandt, und zeigte auf den am Boden schlafenden Kai. Ben hatte ihn vollkommen vergessen.

      »Der ist nur besoffen«, antwortete er stellvertretend für Schottner und ging zu Kai hinüber.

      Mann, dachte Ben, das eben hätte er auch lieber verpennt. Er gab seinem Freund kraftlose drei Ohrfeigen, die Kai mit nichts als ein paar tiefen Schnarchgeräuschen quittierte, zog ihn zur nächsten Wand und lehnte ihn dort aufrecht sitzend ab. Sein Kopf fiel dabei ungesund zur rechten Seite. Bestimmt würde er morgen zusätzlich zu seinem Kater noch prächtige Nackenschmerzen haben. Wenigstens konnte er so nicht an seinem Erbrochenen ersticken, was früher oder später todsicher aus ihm herausbrechen würde.

      Die Helfer gaben auf. Einer von ihnen griff zu seinem Handy und erklärte dem Notarzt, der noch unterwegs war, dass er sich nicht mehr beeilen müsse. Danach rief er bei der Polizei an und meldete den Vorfall.