Vorhang zu!. André Storm

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Название Vorhang zu!
Автор произведения André Storm
Жанр Языкознание
Серия Ben Pruss
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783954415298



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von der Leine zu lassen. Kai lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und wirkte mit dem Wodka Lemon in der Hand so zackig wie eine Bundesdienstflagge bei Flaute. Sollten seine letzten Kräfte ihn verlassen, und Ben hatte die leise Ahnung, dass das nicht mehr lange dauerte, würde er in dieser Position sanft auf die Tanzfläche rutschen.

      Unvermittelt begann er zu kichern. »Klient! Ich schrei mich weg! Jetzt bist du nicht mehr der große Mumpitz, sondern Sherlock Humbug …«

      »Mann, Kai«, unterbrach ihn Ben scharf. »Sei mal ruhig, ich bin hier schließlich undercover.«

      Kais Lachflash wurde noch heftiger. Er rappelte sich auf, stellte sein Getränk auf die Theke und hielt theatralisch seinen Bauch. »Undercover! Ich halt’s nicht mehr aus!«

      »Ich sehe, ihr habt Spaß, dann war die Show wohl nicht so schlecht, oder?« Pedro Möller war bei ihnen angelangt.

      »Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es war super.« Ben schaute peinlich berührt in Kais Richtung, der zwar nicht mehr laut lachte, doch immer noch fröhlich in sich hineinkicherte. »Sie müssen entschuldigen. Kai hat heute seinen Fall abgeschlossen, und das feiert er jetzt.«

      »Ja, ich hab meinen Fall abgeschlossen! Gelöst!« Er brüllte wieder los. Ben war klar, dass sie an einem Punkt angekommen waren, an dem er sagen konnte, was er wollte. Kai würde alles witzig finden. Glücklicherweise ergriff Pedro Möller das Wort. »Na! Genauso muss das sein. Ordentlich mal einen nehmen, was?« Er klopfte Kai anerkennend auf die Schulter und sagte zum Barkeeper gewandt: »Klaus, machst du mir auch mal so einen?«

      Es blitzte, und Ben bemerkte den Fotografen, der plötzlich vor ihnen stand und wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Seine Kleidung war komplett schwarz, und er hatte einen runden Kopf mit wenig Haaren sowie eine Statur, die Ben als »kompakt« bezeichnet hätte. Recht klein, dafür etwas mehr Breite.

      »Ah, Gerold! Sehr gut. Komm gleich mal her.« Pedro Möller legte den Arm um den Mann und zog ihn näher zu sich, Ben und Kai heran. »Das hier ist Gerold Schottner. Unser Fotograf. Liefert immer top Arbeit. Hat alle Bilder für die aktuelle Show gemacht.« Pflichtbewusst lächelte Gerold Schottner, senkte die stattliche Spiegelreflexkamera in seiner linken Hand und streckte Ben seine rechte entgegen. »Und das hier«, sprach Pedro Möller weiter, »ist Ben Pruss und sein Freund Kai … äh …«

      »Siebert«, antworteten Ben und Kai gleichzeitig.

      »Richtig. Siebert. Ben arbeitet seit heute bei uns. Masseur. Weißt ja, die Damen und Herren müssen bei Laune gehalten werden.« Er zwinkerte dem Fotografen verschwörerisch zu, der lächelnd sagte: »Der ist doch wohl nicht nur für die Bühnenheinis da, oder? Ich hab schließlich eine Fotografenschulter.« Er verzog unter gespielten Qualen das Gesicht und griff mit seiner linken Hand theatralisch an die gegenüberliegende Schulter.

      Alle vier lachten. »Na, ob ich da noch was machen kann? Das sieht ziemlich aussichtslos aus«, gab Ben zur Antwort und spürte, wie sein Mund trocken wurde.

      Alle lachten wieder. Der Fotograf nutzte die Gelegenheit, seine Kamera ans Auge zu heben und die Dreiergruppe zu fotografieren. Ben spürte sein Handy in der Hosentasche vibrieren, er kramte es hervor. Die Rufnummernerkennung zeigte den Namen einer Person, die Ben noch weniger sprechen wollte, als heute Nachmittag seine Mutter und seine Vermieterin.

      »Hey, deine Frau ruft an.« Ben streckte Kai das Handy entgegen, der keine Anstalten machte es entgegenzunehmen.

      »Nee. Lass einfach klingeln. Keine Lust«, winkte Kai ab. Er sah jetzt nicht mehr lustig aus. Dann drehte er sich zur Bar und bestellte einen weiteren Wodka Lemon. Die Kamera blitzte nach wie vor munter drauflos, nun in andere Richtungen, denn der Saal hatte sich mehr und mehr gefüllt.

      »Stress mit der Frau?«, fragte Pedro Möller an Ben gewandt und nickte in Kais Richtung.

      »Ein bisschen. Wird schon wieder«, gab Ben zurück, der sich schuldig fühlte, weil er den Anruf nicht angenommen hatte. Er mochte Steffi, und er wusste, dass sie, was Kai anbetraf, nicht ganz im Unrecht war. Auf der anderen Seite fand Ben es, in Anbetracht seines eigenen Lebenswandels, nicht angebracht, seinen Freund in dieser Hinsicht zu belehren. Pedro Möller schien bemerkt zu haben, dass das Stimmungsbarometer tief in den Bereich »wechselhaft« abgesunken war. Dass gerade der Jongleur Giulio Elmo und der Einradkünstler Franjo Hirsch den Saal betraten, schien für ihn die passende Gelegenheit zu sein, sich rasch zu verabschieden und zu verschwinden.

      Ben hatte das Gefühl, es könne besser sein, Kai erst mal in Ruhe zu lassen. Dieser hatte sich gerade einen Barhocker gegriffen und saß nun, Ellenbogen auf der Theke abgestützt und das Kinn auf den Fäusten abgestellt, reglos vor seinen Getränken. Zu dem halbleeren Wodka-Lemon hatte sich ein Ramazotti gesellt. Ben schüttelte es innerlich beim Anblick dieser Kombination. Er ließ seinen Blick durch den Saal streifen. Was machte er eigentlich hier?, fragte er sich beklommen. Überall standen Menschen in zahlreichen kleinen oder größeren Grüppchen zusammen. Sie lachten, redeten, gestikulierten, tranken. Waren das alles Verdächtige? Wie sollte er bei so vielen Angestellten den Überblick behalten? Womit um Himmels willen, sollte er überhaupt anfangen? Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ein echter Ermittler an die Sache herangehen würde. Gleichzeitig war ihm klar, dass er gleich jetzt anfangen sollte. Es war die perfekte Gelegenheit, heute Abend einige Leute kennenzulernen. Sein Mund war staubtrocken. Er hatte noch gar nichts zu trinken. »Das ist doch mal ein Anfang«, sagte er leise zu sich selbst und bestellte ein alkoholfreies Bier. Fast jeder hier hielt ein alkoholisches Getränk in der Hand, und Ben fand, es könne nicht schaden, wenn seine vermeintlichen Kollegen annahmen, er würde ebenfalls etwas Alkoholisches trinken. Er stellte sich, stolz auf seine Finte, lässig mit dem Rücken an die Bar. In einer Hand sein Bier, die Ellenbogen hinter dem Körper auf der Theke abgelegt. Niemand schenkte ihm Beachtung. Gleich würde er sich irgendwo einklinken und seine Ohren offenhalten. Hier und da ein bisschen Smalltalk … gleich. Jeden Moment. Erst noch einmal aufs Klo vielleicht. Er sah sich nach einer Tür um oder einem Schild. Beides fand er nicht, aber draußen im Gang hatte er ein Toilettenschild gesehen, wenn ihn nicht alles täuschte. Er stellte sein Bier auf die Theke und verließ den Saal durch den Haupteingang.

      Unten fand Ben keine Toilette. Vom Gang zweigten zwar drei Türen ab, diese waren aber allesamt unbeschriftet. Er lief die verwaiste Treppe zum Foyer entlang und entdeckte ein WC-Schild an einer Tür zwischen Bar und Kassenhäuschen. Er erkannte, dass es sich um die Örtlichkeit handeln musste, in der der Wasseranschlag passiert war. Ihm fiel zum ersten Mal der neue Teppich im Foyer auf, und er erkannte im Fußbereich der Mauer feuchte Stellen im Putz. Zum Glück war die Tür geöffnet und der Sanitärbereich beleuchtet. Ben hasste Pissoirs, da er immer das Gefühl hatte, das ihm daraus die Bakterien direkt in die offene Hose sprangen. Also suchte er eine der Kabinen aus, die ihm nach einer Sichtprüfung am saubersten erschien, schloss die Tür und urinierte im Angesicht eines laminierten Bitte im sitzen pinkeln-Schildes im Stehen.

      Wieder auf der Treppe zum Saal, überholte ihn Frank Pracht, der Moderator der Show. Dieser wirkte nervös und abwesend, als registrierte er Bens Anwesenheit überhaupt nicht. Ben vernahm eine satte Schweißfahne und atmete flach in den Kragen seiner Lederjacke. Er registrierte, dass Franks Bühnenschminke zerlaufen war, als hätte er sich mit den Fingerknöcheln durch die Augen gerieben. Frank stieß die Tür zum Saal einen Spalt auf und glitt hinein. Mit einem Rums fiel sie, direkt vor Bens Nase, zurück ins Schloss.

      Wieder im Saal, beobachtete Ben, wie Frank grußlos an allen anderen Gästen zur Bar eilte, einen Jägermeister bestellte und diesen hastig hinunterkippte. Dann ließ er sich auf einen Barhocker sinken und saß einen Moment regungslos, mit geschlossenen Augen da. Es dauerte keine halbe Minute, dann sprach ihn die Frau mit der Hundedressur-Nummer (Ben hatte ihren Namen vergessen) an, die bis dahin alleine an einem der Stehtische verweilt und an einem bunten Cocktail geschlürft hatte. Ben hörte nicht, was die beiden sprachen, doch aufgrund der Bla-bla-bla-Lächeln-Bla-bla-bla-Lächeln-Verteilung tippte er auf Smalltalk. Frank wirkte angestrengt, doch sein Gegenüber schien das nicht zu bemerken.

      Ben entschied sich, für heute Schluss zu machen und nach Hause zu fahren. Er fühlte sich nicht mutig genug, zu einem der Grüppchen zu gehen und sich bei den Kollegen bekannt zu machen. Pedro Möller hatte vor einer Traube Menschen