Название | Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher |
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Автор произведения | Стендаль |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026824862 |
Als der einzige Diener dem Kanonikus den Namen der Gräfin Pietranera meldete, wurde er so erregt, daß er fast nicht sprechen konnte; er vergaß sogar, seinen sehr einfachen Morgenanzug etwas zu ordnen.
»Führen Sie die Dame herein und gehen Sie!« sagte er mit erstickter Stimme.
Die Gräfin trat ein. Borda warf sich auf die Kniee.
»Nur in dieser Stellung darf ein unglücklicher Tor Ihre Befehle entgegennehmen!« sagte er zur Gräfin, die an jenem Morgen in ihrem leichten Kleid, ein wenig vermummt, von unwiderstehlichem Reiz war. Ihr tiefer Schmerz über Fabrizzios Verbannung, der starke Wille, mit dem sie sich überwand, einen Mann aufzusuchen, der sich ihr gegenüber heimtückisch benommen hatte, – alles wirkte zusammen, ihrem Blick einen unbeschreiblichen Glanz zu geben.
»Nur in dieser Stellung will ich Ihre Befehle entgegennehmen,« rief der Kanonikus, »denn offenbar wollen Sie mich um einen Dienst bitten, sonst hätten Sie das armselige Haus eines unglücklichen Narren nie mit Ihrer Gegenwart beehrt. Ich habe damals, verleitet von Liebe und Eifersucht, gemein gegen Sie gehandelt, als ich sah, daß ich Ihnen nicht zu gefallen vermochte.«
Diese Worte waren aufrichtig und um so edler, als der Kanonikus sich jetzt großer Macht erfreute. Die Gräfin war darüber bis zu Tränen gerührt. Demütigung und Angst hatten ihre Seele erstarrt; im Nu vertrieben Rührung und leise Hoffnung diese Empfindungen. Aus einem tief unglücklichen Zustand geriet sie blitzschnell beinahe ins Glück.
»Küsse mir die Hand«, sagte sie zum Kanonikus, indem sie ihm die Rechte reichte, »und steh auf!« (Man muß wissen, daß das Duzen in Italien ebenso offene und ehrliche Freundschaft wie ein zärtlicheres Gefühl bedeutet.) »Ich wollte dich bitten, dich für meinen Neffen Fabrizzio einzusetzen. Was du hörst, ist die reine Wahrheit, wie man sie einem alten Freunde sagt. Er ist sechzehn und ein halbes Jahr alt und hat soeben eine großartige Tat begangen. Wir waren im Schlosse Grianta am Comer See. Eines Abends um sieben Uhr erfahren wir durch eine Barke von Como die Landung des Kaisers im Golf von Juan. Am anderen Morgen schmuggelt sich Fabrizzio nach Frankreich hinüber, mit dem Paß eines seiner Freunde aus dem Volke, eines Barometerhändlers, namens Vasi. Da er nicht gerade wie ein Hausierer aussieht, ist er keine zehn Meilen drinnen in Frankreich, als man ihn bereits einsperrt; seine überschwenglichen Schwärmereien in schlechtem Französisch hatten Verdacht erweckt. Nach geraumer Zeit ist er wieder entwischt und nach Genf geflohen. Wir haben ihn in Lugano abholen lassen …«
»Das heißt in Genf«, unterbrach sie der Kanonikus lächelnd.
Die Gräfin führte ihre Erzählung zu Ende.
»Ich werde das Menschenmögliche für Sie tun«, erwiderte der Kanonikus herzlich. »Ich stehe Ihnen ganz zu Diensten. Ich will sogar Unvorsichtigkeiten begehen«, fügte er hinzu. »Sagen Sie mir, was ich zu tun habe in dem Augenblick, da dieses ärmliche Zimmer wieder leer ist von der himmlischen Erscheinung, die in der Geschichte meines Daseins ein großes Erlebnis bedeutet!«
»Sie müssen zum Baron Binder gehen und ihm sagen, daß Sie Fabrizzio von der Wiege an liebten, daß Sie zur Zeit seiner Geburt in unserem Hause verkehrt hätten. Bitten Sie ihn, er möge aus Freundschaft für Sie alle seine Spione in Bewegung setzen, um klarzustellen, ob Fabrizzio vor seiner Abreise nach der Schweiz irgendwie in Verbindung mit einem jener Liberalen gestanden hat, die er überwachen läßt. Wenn der Baron nur im geringsten gut bedient wird, so muß er sehen, daß es sich hier lediglich um eine echte Jugendeselei handelt. Wie Sie wissen, hatte ich in meiner schönen Wohnung im Palazzo Dugnani Stiche von den siegreichen Schlachten Napoleons. An den Unterschriften dieser Stiche hat mein Neffe das Lesen gelernt. Von seinem fünften Jahre an wurden ihm von meinem armen Mann jene Siege erklärt. Wir setzten ihm den Helm meines Mannes auf, und der Junge schlepte seinen langen Säbel. Dann, eines schönen Tages, erfährt er, daß der Abgott meines Mannes, daß der Kaiser nach Frankreich zurückgekehrt ist. Er will zu ihm in seiner jugendlichen Unbesonnenheit, aber es gelingt ihm nicht. Fragen Sie Ihren Baron, mit welcher Strafe diese Torheit gesühnt werden soll!«
»Ich habe etwas vergessen«, rief der Kanonikus. »Sie werden sehen, daß ich der Verzeihung, die Sie mir gewähren, nicht unwürdig bin. Hier,« sagte er, unter seinen Akten auf dem Schreibtisch suchend, »sehen Sie, ist die Denunziation jenes niederträchtigen Heuchlers, unterzeichnet mit Ascanio Valserra del Dongo. Damit hat die ganze Geschichte angefangen. Ich habe das Aktenstück gestern abend im Polizeiamt an mich genommen und bin in die Scala gegangen, in der Hoffnung, irgendeinem Freund Ihrer Loge zu begegnen, durch den ich es Ihnen hätte zustellen können. Eine Abschrift dieses Schreibens befindet sich schon längst in Wien. Da haben Sie den Feind, den wir bekämpfen müssen!«
Der Kanonikus las die Anzeige zusammen mit der Gräfin durch, und man kam überein, daß ihr im Laufe des Tages durch eine sichere Person eine Abschrift davon zugehen sollte. Voller Freude kehrte die Gräfin in den Palazzo del Dongo zurück.
»Unmöglich kann man mehr galantuomo sein als dieser ehemalige Bösewicht«, berichtete sie der Marchesa. »Wir werden heute abend in der Scala, wenn die Theateruhr drei Viertel elf zeigt, jedermann aus unserer Loge hinausschicken, die Lichter auslöschen und die Tür schließen. Um elf Uhr will der Kanonikus persönlich kommen und uns mitteilen, was er hat tun können. Auf diese Weise ist die Geschichte am wenigsten gefährlich für ihn.«
Der Kanonikus war kein Dummkopf. Er hütete sich, das Stelldichein zu versäumen, und benahm sich dabei so vollendet liebenswürdig und wirklich offenherzig, wie man das nur in einem Lande findet, wo die Eitelkeit nicht der Gefühle höchstes ist. Daß er die Gräfin ihrem Manne, dem General Piettanera, verraten, hatte ihn beständig gepeinigt, und hier bot sich ein Mittel, es wieder gut zu machen.
Er war von seiner Leidenschaft noch keineswegs geheilt; am Vormittag, als die Gräfin ihn verlassen, hatte er sich voll Bitternis gesagt: ›Sie hat mit ihrem Neffen ein Liebesverhältnis. Wie käme diese stolze Frau sonst in mein Haus? Beim Tode des armen Pietranera hat sie voller Abscheu meine Dienste zurückgewiesen, so höflich ich sie ihr durch den damaligen Oberst Scotti, einen früheren Verehrer von ihr, anbieten ließ. Die schöne Pietranera und mit fünfzehnhundert Franken auskommen!‹ sagte der Kanonikus, erregt auf und ab gehend. ›Und dann im Schloß Grianta mit einem abscheulichen Griesgram, diesem Marchese del Dongo, zusammen hausen! Jetzt wird mir alles klar! Warum auch nicht? Dieser junge Fabrizzio ist voll Geist und Anmut, groß, wohlgebaut, immer heiter, und mehr noch,‹ fuhr er bitter fort, ›in seinen Augen liegt süße Wollust. Er hat ein Correggio-Gesicht. Und der Unterschied im Alter ist nicht zu groß. Fabrizzio ist nach dem Einmarsch der Franzosen geboren, um 1798, wenn ich mich nicht irre. Die Gräfin mag sieben-oder achtundzwanzig sein. Hübscher, anbetungswürdiger zu sein, ist unmöglich. In diesem schönheitsreichen Lande kommt ihr keine gleich; die Marini, die Gherardi, die Ruga, die Arese, die Pietragrua, keine; sie überragt alle diese Frauen. Sie lebten in glücklicher Verborgenheit am schönen Comer See, als der junge Mann zu Napoleon wollte. Es gibt doch noch große Seelen in Italien, man mag sie noch so unterdrücken! Teures Vaterland!‹
›Nein,‹ fuhr dieses vor Eifersucht flammende Herz fort, ›anders läßt sich ihr entsagungsvolles Stilleben auf dem Lande unmöglich erklären. Tag für Tag, Mahlzeit für Mahlzeit das scheußliche Gesicht des Marchese del Dongo und dazu die niederträchtige Heuchlerfratze des Marchesino Ascanio, die noch schlimmer ist als die des Alten! Trotz alledem, ich will ihr offen und ehrlich dienen! Zum mindesten habe ich das Vergnügen, sie nicht mehr nur durch mein Opernglas zu sehen.‹
In der Scala legte der Kanonikus den Damen die Sachlage klar und deutlich auseinander. Im Grunde war Binder gar nicht ungünstig gesinnt. Es war ihm recht lieb, daß sich