Die Ökonomie der Hexerei. David Signer

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aber eine soziale. Als Praxis tendiert sie dazu, das zu produzieren, was sie voraussetzt, eine Wirklichkeit zu schaffen, die ihre eigenen Prämissen bestätigt, im Sinne einer zirkulären self-fulfilling prophecy. „Hexerei“ (als Befund, als verbaler performativer Akt von Wahrsagern, Féticheuren, Marabouts u. a.) ist eine nachträgliche Interpretation eines Übels, „Semiologie“, wie Augé sagt. Diese deutenden Aussagen (als eigentliches Medium, in dem „Hexerei“ soziale, d. h. kommunikative Realität besitzt) können ihr Gewicht aber nur aus der Tatsache beziehen, dass für viele AfrikanerInnen (oder für die „heidnische Logik“) die Welt an sich primär durch ihre Uneindeutigkeit, ihre Interpretationsbedürftigkeit charakterisiert ist. In gewisser Hinsicht ist die „heidnische Logik“ konstruktivistisch: Das Wirkliche ist nie gegeben, evident, sondern muss immer erschlossen, gelesen, rekonstruiert werden, und zwar im Umweg über das Abwesende, „Surreale“, Geheime, Unsichtbare. Dieses Andere ist aber nicht ein Transzendentes, Metaphysisches im abendländischen Sinne, sondern primär sozial bestimmt: So wie der andere als Patron, grand-frère oder allgemein Mächtiger/Reicher über mein Wohlergehen entscheidet, so ist es auch die Interpretationsfigur des „anderen“ in Form des Hexers, der für mein Unglück, mein Misslingen, meine Krankheit verantwortlich ist. Es handelt sich also um eine eher heteronome als autonome Auffassung der Persönlichkeit; entsprechend arbeiten die Heilerinnen gewissermassen eher mit einem systemischen bzw. gruppenpsychologischen (synchrone Analyse der Relationen und Kommunikationen) als individualpsychologischen (diachrone Analyse des Innerpsychischen) Ansatz. In diesen Zusammenhang gehört auch das „additive“ (im Gegensatz zum synthetisierenden) Denken: Die afrikanische Religion ist auch ohne die Versatzstücke von Christentum und Islam, „per se“, synkretistisch (und in diesem Sinne nie ethnisch-kulturell „rein“), sie rechnet immer mit dem „anderen“ (dem anderen Menschen, Geist, Gott, der anderen Wahrheit) und fügt ihn der eigenen Liste hinzu. In diesem Sinne ist vielleicht auch die Unterscheidung wahr/unwahr oder wirklich/unwirklich ungeeignet, sich dem Weltbild der afrikanischen Heilerinnen zu nähern. („Kein Antagonismus von Glauben und Wissen“, nach Augé.) „Wer heilt, hat Recht“, sagen sie in einer pragmatischen Wirklichkeits- und Wahrheitsauffassung.

      Eine erste, persönliche Annäherung

      Die Geisterpriesterin

      September 1994, Abengourou.

      An der Fassade des Umweltministeriums prangten zwei unübersehbar schöne Malereien. Das eine zeigte den Agni-König Nanan Bonzou II. in feierlichem Gewand, unter einem immensen Sonnenschirm, von einem Diener getragen, mit seinem Hofstaat und den goldenen Reliquien seiner Macht. Das andere Mauergemälde stellte eine tanzende Zauberin mit ihren Gehilfinnen dar, an einem Fluss, an dem soeben ein Schaf geopfert wird. Diese Frau auf dem Bild mit dem weißen Rock, dem roten Hut und dem kaolingepuderten Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hätte in diesem Moment, als ich mir überlegte, ob ich das verschlafene Gebäude betreten sollte, nicht zu hoffen gewagt, dass ich sie persönlich kennen lernen sollte und dass mir dann auch wieder in den Sinn kommen sollte, woher ich ihr Gesicht kannte.

      Eine Stunde später saßen wir im staubigen Büro des Regionalen Delegierten des Ministeriums, Monsieur Gbogou Gaba Mathurin, und waren in ein faszinierendes Gespräch vertieft. Diese Frau an der Hausmauer, erklärte er uns, sei Ahissia, die berühmte Fetischpriesterin und Meisterin der Schule für angehende Priesterinnen in Tengouélan. Etwa 250 Heilerinnen seien dort im Laufe der Jahre schon ausgebildet worden, die heute in der ganzen Elfenbeinküste verstreut praktizierten. Die meisten wurden in die Geheimnisse der afrikanischen Tradition von Akoua Mandodja eingeweiht, der Vorgängerin von Ahissia, die 1991 verstarb. Damals, im Oktober, kamen alle ihre ehemaligen Schülerinnen zu ihrem Begräbnis und tanzten eine Woche lang.

      „Ahissia hat Kontakt mit 120 Geistern, die sie über alles unterrichten. Dank ihnen kann sie alles erfahren, sogar was jetzt gerade in der Schweiz passiert.“

      „Könnte ich sie auch konsultieren?“

      „Sicher. Leute aus dem ganzen Land pilgern zu ihr.“

      „Was muss man machen, wenn man ihre Hilfe will?“

      „Man muss ihr Gin mitbringen. Damit lockt sie die Geister an.“

      Ich hatte mir alles viel komplizierter vorgestellt. Aber tatsächlich: Warum nicht einfach die Heilerin persönlich aufsuchen, anstatt die andern über sie auszufragen?!

      Am übernächsten Morgen gingen wir mit Mathurin in einen Laden in Abengourou, und er zeigte uns, welcher Gin es sein musste: der kleine aus Holland in der eckigen, grünen Flasche. Ich bemerkte, es sei eigentlich seltsam, dass die Geister hier nicht den afrikanischen Gin bevorzugten.

      „Auch die Geister“, sagte er, „bevorzugen das Fremde“.

      Wir fuhren mit dem Buschtaxi nach Agnibilékrou, und von dort brachte uns ein anderer Fahrer nach Tengouélan. Nichts wies auf die Besonderheit dieses Dorfes und dieses Hofes hin, zu dem uns Mathurin nun führte.

      Nur ein paar Kinder balgten herum. Wir setzten uns auf einen Baumstrunk.

      „Die Leute sind noch in der Kirche“, sagte Mathurin, „wir müssen ein bisschen warten“.

      Es war Sonntag, und die Fetischpriesterin empfing also möglicherweise gerade eine Hostie vom christlichen Priester.

      Mathurin zeigte auf den großen Hof.

      „Hier finden jeweils die großen Zeremonien statt. Wenn es ein gewichtiges Problem gibt, bei dem viele Leute involviert sind, dann wird das große Ritual durchgeführt. Das kostet etwa 40 000 CFA (etwa 100 Schweizerfranken). Beispielsweise bei Familienstreitigkeiten, die mehrere Leute im Dorf betreffen. Dann wird auch getanzt und getrommelt. Was wir jetzt machen, ist eine ‚kleine Konsultation‘, aber du könntest im Prinzip auch eine große bestellen.“

      Nach und nach setzten sich einige Kinder und Frauen zu uns. Eine Zwergwüchsige begann ausgiebig ihr Kind einzuseifen, um es anschließend so aufmerksam abzuschrubben, als müsste jede Pore einzeln gereinigt werden.

      Zwischen Mathurin und einer Alten entspann sich ein Gespräch in Agni.

      Er fragte, ob sie sich nicht an seinen letzten Besuch erinnern könne, als er mit dem Fotografen an der großen Zeremonie teilnahm.

      Sie konnte nicht. Jetzt entrollte er endlich das Papier, das er schon den ganzen Tag sorgsam mit sich getragen hatte.

      Es war das Fotoposter der tanzenden Ahissia, die Vorlage für das Bild an der Mauer des Ministeriums in Abengourou.

      Mathurin erklärte, dass er das Plakat in hoher Auflage drucken und in den Verkehrs-, Fremden- und Tourismusbüros des ganzen Landes aushängen lassen wolle, als Werbung für Ahissia und die Kultur des Agnilandes. Jetzt kamen mehr Leute hinzu; sie drängten sich, um das Plakat zu sehen, und ob sie auch noch irgendwo selber im Hintergrund erkennbar seien. Jemand brachte ein Fotoalbum mit Bildern vom Begräbnis Akoua Mandodjas, der „Großmutter“ Ahissias, wie sie sie nannten, der Gründerin der hiesigen Schule und berühmtesten Heilerin der Elfenbeinküste aller Zeiten. Auf einem Bild war sie auf dem Totenbett zu sehen, prunkvoll umgeben von all den Reliquien, die inzwischen auf Ahissia übergegangen waren.

      Als alle die Fotos bewundert hatten und eine kleine Pause entstand, übergab Mathurin seine Geschenkrolle feierlich der Alten und sagte:

      „Schick Deinen Sohn damit in die Stadt. Er soll ein Glas kaufen und es rahmen lassen. Dann hängt es an einem schattigen Ort auf, damit es nicht verdirbt.“

      Und dann erschien Ahissia selbst, die Fetischpriesterin. Ich wäre nicht auf sie aufmerksam geworden, hätte mir Mathurin sie nicht vorgestellt. Sie hatte sich erst eine Weile zwischen die andern Frauen gesetzt und das Plakat, das ja ihr galt, am teilnahmslosesten von allen angeschaut. Sie schien geistesabwesend, verschlafen, verträumt. Ein bisschen „in einer anderen Welt“, aber das sage ich natürlich jetzt, nachträglich, mit all dem Wissen um ihre Person. Sie war eine Weile da, dann begrüßten wir uns, sie war noch eine Weile da, und verschwand dann wieder. Ihre ganze