Die Ökonomie der Hexerei. David Signer

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      Heute lässt sich einerseits feststellen, dass Hexerei – zumindest in Afrika – ein Phänomen ist, das relativ ubiquitär, unabhängig von spezifischen Konstellationen, auftaucht8, dass es andererseits aber sehr wohl über gewisse gemeinsame Charakteristika verfügt und sich mit andern Kulturelementen verbindet und so ein System bildet, das man mit dem Begriff „Hexereikomplex“ umreißen könnte (um anzudeuten, dass sich die einzelne Teile gegenseitig stützen, ohne dass man in diesem Ganzen die Hexerei als bloßen Effekt etwa von ökonomischen Gegebenheiten beschreiben könnte).

      Das Ziel der vorliegenden Studie besteht also darin, das Phänomen Hexerei in der Elfenbeinküste (und Nachbarländern) mit all seinen psychischen, sozialen, religiösen, politischen und ökonomischen Implikationen auszuleuchten und herauszuarbeiten, inwiefern sich aufgrund dieser Befunde ein „harter Kern“ von Vorstellungen und sozialen Praktiken umreißen lässt, dessen Vorkommen sich mehr oder weniger über die ganze Region erstreckt.

      Wenn die Verbreitung dieser spezifisch afrikanischen Hexereivorstellungen relativ unabhängig von sozialen, kulturellen, ökologischen und politischen Unterschieden ist9, stellt sich die Frage, ob und wie sich ein solches Phänomen erklären oder verstehen lässt – ein Phänomen, das uns in vieler Hinsicht als irrational, dysfunktional, anachronistisch oder entwicklungshemmend erscheint.

      Die Hypothese lautet, dass sich nicht nur ein solcher formulierbarer kleinster gemeinsamer Nenner finden lässt, sondern dass die Hexerei das Kernstück eines ganzen Ensembles von Vorstellungen und Praktiken ausmacht, die zusammengehören und jenes System bilden, das Marc Augé den „Geist des Heidentums“10 nennt.

      Das Theorie-Kapitel „Die Ökonomie der Hexerei“ interpretiert den Hexereiglauben in diesem Kontext vor allem als Angst vor lebensgefährlichen Neidern. Wie schon angetönt, geht es um folgende Überlegung: Wenn man, um es einmal etwas salopp auszudrücken, jedes hungrige Maul in der Familie stopfen muss (und die afrikanischen Familien dehnen sich tendenziell ins Unendliche aus, also findet sich immer irgendwo ein „Cousin“ mit Hungerbauch), weil man sonst fürchten muss, vom Zukurzgekommenen verhext zu werden, kommt man eigentlich nie dazu, etwas auf die hohe Kante zu legen. (Wer anhäuft, macht sich geradezu verdächtig.) Wie soll man so akkumulieren, investieren, längerfristig anlegen, planen, aufbauen? Was bedeutet so ein Sozial- und Ökonomiesystem – die Hexerei ist aus dieser Perspektive vor allem ein wirtschaftlicher Mechanismus – für eine kapitalistische Entwicklung, für die Modernisierung, für den Einzelnen, der es „zu etwas bringen will“? Das scheinen mir ganz nahe liegende Fragen zu sein. Sie wurden mir jedoch zum Teil übel genommen, bezeichnenderweise vor allem von gebildeten, linken Weißen. Sie witterten Neokolonialismus oder eine Art kulturellen Neorassismus. Die Afrikaner haben weniger Mühe damit. Die meisten, vor allem die Jungen, möchten sowieso bloß weg. Für sie steht es außer Frage, dass man es in Afrika auf keinen grünen Zweig bringt (wenn man nicht schon drauf sitzt). „On te laisse pas grandir“ – „Man lässt dich nicht wachsen.“

      Im Kapitel „Opfer und Gewalt“ geht um es die Frage, warum eigentlich ausgerechnet eine Opfergabe gegen Verhexung wirksam sein soll. Hält man sich vor Augen, dass das (potenzielle) Hexereiopfer vor allem jemand ist, der Neid auf sich zieht (weil er – relativ – viel hat und wenig gibt), so ist es nur logisch, dass sich die Situation beruhigt, wenn er gibt (das Opfer ist die Gabe par excellence, für niemanden und alle). Das Opfer hat daneben aber auch noch einen aggressiveren Aspekt, beispielsweise wenn einer Ziege alles Böse aufgeladen wird, bevor man ihr den Hals durchschneidet. Auch die Hexe hat diesen Aspekt des Sündenbocks, der für alles Übel stellvertretend den Kopf hinhalten muss. Anhand eines Hexereiverdachts in einem Dorf an der liberianischen Grenze wird gezeigt, wie infolge der Allgegenwart des Neides (der geradezu die Normalform des Wunsches zu sein scheint) sehr rasch praktisch jeder in den Ruf einer Hexe oder eines Hexers kommen kann. Tatsächlich zeichnen die Schilderungen von Eingeweihten (also von Leuten, die die Fähigkeit erworben haben, Hexen oder Geister zu „sehen“) das Bild einer gewissermaßen kannibalischen Gesellschaft, in der sich die Menschen unaufhörlich gegenseitig verletzen, krank machen, töten, verkaufen und „auffressen“. Der Sündenbock (als Opfer oder als Hexe) dient dazu, diese omnipräsente Gewalt zumindest einzugrenzen.

      „Hexerei als Teil der afrikanischen Kultur“ folgt in den Grundzügen dem Werk L’Afrique a-t-elle besoin d’un programme d’ajustement culturel?, in dem der kamerunische Ökonom Etounga Manguelle die These vertritt, der wirtschaftliche und technische Entwicklungsrückstand des subsaharischen Afrikas hänge mit einem Gefüge von kulturellen Eigenheiten zusammen, das, wenn man es der vielleicht etwas polemisch und essentialistisch anmutenden Verwendung des Wortes „Afrika“ entkleidet und mehr als Idealtypus fasst, einiges gemeinsam hat mit Augés „heidnischer Logik“ und dem, was ich hier als Hexereikomplex bezeichne. Durch eine solche Einbettung in ein modellhaftes kulturelles System („modellhaft“ heißt: in der Realität werden kaum je alle diese sich gegenseitig stützenden Elemente in toto auftreten), versuche ich zu zeigen, dass Hexerei ein fait social total ist, das in alle Aspekte der Gesellschaft hineinreicht und kaum von heute auf morgen verschwinden dürfte, eher im Gegenteil in der Konfrontation von konservativ-traditionellen und modern-kapitalistischen Ausrichtungen sich noch verschärfen wird.

      Diese Sichtweise steht etwas quer zur gegenwärtigen ethnologischen Diskurslandschaft.

      Erstens sind Verallgemeinerungen, die über zwei oder drei Ethnien hinausgehen, verpönt (man kommt dann leicht in den Ruch eines Essentialisten), zweitens macht man sich bei Mutmaßungen über das Verhältnis von Kultur und Entwicklung sowohl bei den Entwicklungssoziologen verdächtig (nämlich als Kulturalist), als auch bei den Ethnologen (Religionsethnologen wollen normalerweise nichts mit so profanen Themen wie ökonomischer Entwicklung zu tun zu haben, schon gar nicht in Zusammenhang mit ihrer eigenen Domäne). Auch ist drittens das Betonen von Unterschieden heikel geworden (man macht sich verdächtig, othering zu praktizieren). Schließlich gilt das Kennzeichnen von kulturellen Praktiken als dysfunktional und entwicklungshemmend durch kulturell Außenstehende prinzipiell als politisch unkorrekt.

      Nun, ich kann diese Einwände niemandem übel nehmen.

      Ich selber war nämlich auch schockiert, als ich bei meinem ersten Aufenthalt im Agniland den von mir verehrten Ethnologen Jean-Paul Eschlimann kennen lernte, der von so tiefem Verständnis für die Agni zeugende Bücher geschrieben hatte, und er mir, als ich irgendwas von faszinierenden, fremden Denkformen redete, ziemlich barsch zu verstehen gab, dass die meisten Agni ihren Hexenglauben liebend gerne los würden, wenn sie nur könnten, weil er ihnen mehr Angst und kollektive Lähmung bereite als irgendwelche Einsichten in „andere Welten“. Und als ich etwas von „Entzauberung der Welt“ sagte, meinte er bloß: „Exotismus eines Neulings.“

      Inzwischen gebe ich ihm völlig Recht. Man kann die magischen Denkformen faszinierend finden und soll versuchen, sie aus ihrer eigenen Sinnwelt heraus zu beschreiben, aber warum soll man, was ihre Konsequenzen beispielsweise für das ökonomische oder wissenschaftliche Leben betrifft, nicht genau so klar und kompromisslos sein, wie man es bei einer Analyse von gewissen Elementen der eigenen Gesellschaft wäre?

      Wenn man mit Gellner11 davon ausgeht, dass sich soziale und logische Kohärenz umgekehrt proportional verhalten (was uns zugleich eine Möglichkeit zur Hand gibt, „soziale“ und „kognitive“ Herangehensweisen zu verknüpfen), dann sind Gesellschaften mit einem ausgeprägten Hexereikomplex solche, in denen soziale Kohärenz fast alles und logische Kohärenz fast nichts gilt. Jeder Ethnologe würde eine solche Gesellschaft in seinem Erdteil ohne Zögern als totalitär bezeichnen. Wer hingegen in bezug auf das traditionelle Afrika solche Ausdrücke verwendet, wird selber als totalitär gebrandmarkt. Das ist, gelinde gesagt, inkonsequent.

      Wenn man nun versucht, gewissermaßen einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu formulieren, so könnte man folgendes Phantombild der Hexe zeichnen, das vermutlich (das bleibt noch genauer zu überprüfen) mehr oder weniger für das ganze subsaharische Afrika gelten könnte12:

      Die Hexe kann beiderlei Geschlechts sein; häufiger ist sie eine Frau. Sie verlässt nachts ihren Körper (oft in Form eines Vogels oder eines andern Tieres) und trifft sich mit andern