Die Ökonomie der Hexerei. David Signer

Читать онлайн.



Скачать книгу

wir zurückkamen, sagte er:

      „Ich habe den ganzen Nachmittag gearbeitet. Ich war im Wald. Mit deiner Mutter bin ich noch nicht fertig. Es war sehr hart. Ich muss nachher noch einmal in den Wald gehen.“

      Ich fragte ihn, was er für meine Mutter getan habe.

      „Ich habe das weiße Tuch an einem Baum aufgespannt, um das Böse von ihr wegzuziehen und aufzufangen. Das Tuch werde ich vergraben, aber es ist noch nicht fertig. Mit ihr ist es eine schwierige Arbeit. Es ist ein dringender Fall, wir konnten nicht mehr warten. Ich werde das Tuch vergraben; der Baum wird sterben, aber sie wird gesund werden.“

      Seine Holzfigur stand jetzt nicht mehr im Hintergrund, sondern bei den Medizinen, die er hergestellt hatte. Die „Arbeit“ machte er mit seinem Fetisch, beziehungsweise mithilfe des Geistes, den er verkörperte.

      Nadja gab er eine Plastikflasche mit einer bräunlichen Flüssigkeit gegen den Diabetes.

      „Du musst jeden Tag dreimal einen Esslöffel davon nehmen.“

      Sie blickte etwas misstrauisch und fragte, ob da vielleicht auch Blut drin sei.

      „Nein, nur Kräuter“, sagte er, und zum Beweis, dass es sich um nichts Giftiges handle, nahm er demonstrativ selber einen Schluck davon.

      Ebenfalls überreichte er ihr hundert magisch bearbeitete Kauris, die sie auf einem Gestell in ihrem Zimmer aufstellten sollte. Auch die Goldkette für die fortune hatte er zauberkräftig gemacht.

      Mir übergab er den Tontopf gefüllt mit Wurzelstückchen, Blättern und Hühnerfedern.

      „Das musst du mit Wasser aufkochen, dann abkühlen lassen und sieben Tage lang täglich ein Glas davon trinken.“

      „Das ist schwierig, weil ich die nächste Zeit kaum je eine Woche am selben Ort sein werde. Soll ich es auch in eine Flasche abfüllen?“

      „Nein, dann wartest du, bis du zu Hause bist und trinkst es dort.“

      Er gab mir eine Plastiktüte und wir verschnürten das Ganze sorgsam.

      Dann überreichte er mir zu meinem Schutz den Silberring und ein Päckchen, in Zeitungspapier gewickelt.

      „Geh damit zu einem Schuster auf dem Markt und lass es dir in Leder einnähen. Diesen Talisman und den Ring trägst du dann immer auf dir. Sie werden jeden Angreifer abwehren.“

      Als Letztes reichte er mir ein Ei, auf das mit Filzstift Figuren und Linien gezeichnet waren, unter anderem dieselben, unter die wir unsere Namen gesetzt hatten. Dieses Ei sollte ich, wie gesagt, um 18 Uhr mit abgewandtem Blick auf einer Hauptstraße fallen lassen.

      Wir unterhielten uns noch ein wenig. Er erzählte uns, dass seine Sehergabe von seinem Vater auf ihn übertragen worden sei; dass alle meine Gedanken, die ich im Kopf hatte, während ich in die Muscheln sprach, nachher „in den Muscheln waren“, während er sie warf; dass der Bruder von Nadja wahrscheinlich durch Hexerei gestorben war; dass er bis zum Ende der Wahlen hier bleiben werde (Frühling ’95). Dann musste er gehen, „in den Wald“, um weiter das Böse von meiner Mutter wegzuziehen und im Tuch zu fangen. Später erfuhren wir, dass er noch bis halb zehn Uhr nachts damit gerungen hatte.

      Wir gingen in unser Zimmer zurück. Ich wartete auf den Sonnenuntergang, dann ging ich mit Mathurin zur Hauptstraße hinunter, wartete, bis niemand schaute, überquerte sie und ließ in der Mitte das Ei fallen. Mathurin ging voraus, damit auch er nichts sah. Ich hörte, dass das Ei nicht zerbrochen war, sondern an den Strassenrand rollte. Ich fragte Mathurin, ob ich es noch einmal fallen lassen solle. Er sagte:

      „Nein, schau auf keinen Fall zurück. Geh einfach weiter. Es ist schon gut so.“

      Ich fragte mich damals, ob dieses Ritual nicht eigentlich der schwarzen Magie zugerechnet werden müsse, dass mit dem Ei mein Widersacher zerbrochen werden sollte. Heute glaube ich eher, dass das Ei anstelle von mir zerbrochen wurde; es stand für meine Fragilität gegenüber den bösen Absichten meines Widersachers; seine Schädigungen sollten das Ei anstatt mich treffen.

      Wie gesagt teilte mir meine Mutter nach der Rückkehr mit, sie hätte geträumt, ihr Vater sei gestorben, während Coulibaly ja ebendies – als Realität – geweissagt hatte. Insofern hat Coulibaly nicht die Realität, also die Außenwelt, sondern die Innenwelt beschrieben, die Traumwelt, oder das Unbewusste. Das würde allerdings voraussetzen, dass eine Übertragung des Unbewussten von meiner Mutter auf mich und von mir auf Coulibaly stattgefunden hätte. Coulibaly hätte dann nichts anderes getan als – psychoanalytisch ausgedrückt – in sich eine Gegenübertragung wahrgenommen, die von meiner Mutter herrührte und für die ich als Überträger oder Transmitter figurierte. Seine Fähigkeit würde dann nicht darin bestehen, Äußeres zu „sehen“, sondern „Inneres“, so wie er sagte: Alles was ich vor der Séance dachte (auch „unbewusst dachte“), als ich in die Muscheln sprach, ist jetzt dort drin und wird von ihrer Anordnung beim Wurf wieder ausgedrückt.

      Bei Freud findet sich eine Überlegung, die in ebendiese Richtung weist:

      „Ich habe eine ganze Reihe von solchen Prophezeiungen gesammelt und von allen den Eindruck gewonnen, dass der Wahrsager nur die Gedanken der ihn befragenden Personen und ganz besonders ihre geheimen Wünsche zum Ausdruck gebracht hatte, dass man also berechtigt war, solche Prophezeiungen zu analysieren, als wären es subjektive Produktionen, Phantasien oder Träume der Betreffenden.“25

      Wenn man nun daran denkt, dass die Wahrsager ja selber von sich sagen, dass sich ihre Aussagen auf die unsichtbare Gegenwelt von Doubles, Hexen, Seelenfressern usw. beziehen, die sich paradigmatisch in Träumen äußert (wie die Geister, die meine Hülle und. Nadjas Träume benützen, um mit ihr zu schlafen), dann lässt sich diese „andere Realität“ wohl zwangslos mit dem in Verbindung bringen, was wir das Unbewusste nennen, dessen Wirksamkeit in Übertragung und Gegenübertragung als Spur zu lesen ist. Hexerei, die meist als unbewusster, rein psychischer, nicht vorsätzlicher Vorgang gedacht wird, wäre demnach nichts anderes als eine destruktive Übertragung.

      Wir „wollen der Erwartung nachgehen“, schreibt Freud, „dass die Anwendung der Psychoanalyse einiges Licht auf andere, okkult geheißene Tatbestände werfen kann. Da ist z.B. das Phänomen der Induktion oder Gedankenübertragung, das der Telepathie sehr nahe steht. Es besagt, dass seelische Vorgänge in einer Person, Vorstellungen, Erregungszustände, Willensimpulse sich durch den freien Raum auf eine andere Person übertragen können, ohne die bekannten Wege der Mitteilung durch Worte und Zeichen zu gebrauchen.“26

      Von dieser „Gedankenübertragung“, die ja dann in Freuds Beispielen eher eine „Emotionenübertragung“ ist, ist es nur ein kleiner Schritt zur (Gegen-)Übertragung im psychoanalytischen Sinn. Insbesondere die postulierte Übertragung von „Willensimpulsen“ würde der Hexerei im afrikanischen Sinne sehr nahe kommen, die auch auf eine gewisse Unbewusstheit auf Seiten des Opfers (und vielleicht auch des Täters) angewiesen ist, um wirken zu können. Die Tätigkeit des Analytikers, der diese Übertragungen aufdeckt (insbesondere die vergangenen in der Beziehung vom Kind zu den Eltern, die sich jetzt auf den Analytiker übertragen) wäre dann der Identifizierung von Hexen durch den afrikanischen Heiler vergleichbar.

      Zur Illustration noch die folgende Episode, die Mathurin eines Abends erzählte:

      „Einmal waren drei Europäer hier. Wir saßen zusammen, tranken etwas und diskutierten. Auf einmal sagte ein Afrikaner, von dem bekannt war, dass er die Sehergabe (den doppelten Blick) hatte, zur jungen Frau: ‚In diesem Moment bist du nach Belgien geflogen, hast deinen Vater angegriffen und bist wieder zurückgekommen.‘ Sie reagierte empört und aufgebracht. Am nächsten Tag kam ein Telegramm; ihr Vater hatte genau zu jener Stunde einen Herzinfarkt erlitten. Sie reiste gleich ab. Es gibt überall Hexerei, auch in Europa.“

      Wieder zurück in der Schweiz öffnete ich meinen Tontopf. Das Grünzeug war inzwischen etwas angeschimmelt. Ich begoss es mit Wasser und versuchte es auf dem Feuer zum Kochen zu bringen, was seltsamerweise nicht gelang. Schließlich stellte ich den Topf in einer wassergefüllten Pfanne auf eine Herdplatte. Ich heizte und