Die Ökonomie der Hexerei. David Signer

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abermals die Budgetgrenzen überschritten, übertreten hatten, entgegen allen eisernen Vorsätzen. Es schien da Kräfte zu geben, denen kaum zu widerstehen war, ein Sog von Erwartungen, Verführung, Vampirismus ... Es war wie verhext.

      Gegen Ende unseres Aufenthaltes, das Geld war schon bedenklich knapp geworden und wir waren noch tausend Kilometer von zu Hause entfernt, besuchten wir einen mit Coulibaly befreundeten Féticheur in seinem Dorf. Normalerweise ließen wir uns in so einem Fall die Kaurimuscheln werfen oder ließen uns die Zukunft durch Zeichnungen im Sand voraussagen. Neben Erfreulichem zeigte sich dann meist auch Beunruhigendes am Horizont, das allerdings durch das Opfern eines Huhns oder auch mal eines Schafes abgewendet werden konnte. Sich solchermaßen gleich als Klient bei einem Heiler einzuführen hatte sich als adäquat und spannend erwiesen. An diesem Tag jedoch sagte ich zu Coulibaly, bevor wir das Haus des Heilers betraten:

      „Dieses Mal werden wir uns keine Konsultation geben lassen. Wir haben zu wenig Geld. Wir werden bloß ein wenig plaudern. C’est bien compris?“

      „Kein Problem.“

      Wir begrüßten den Mann, setzten uns, Coulibaly wechselte ein paar Worte in Bambara mit ihm, dann holte der Wahrsager die Kauris aus seinem Zaubersack.

      Ich sagte laut und entschieden:

      „Wir machen keine Konsultation!“

      Wieder ein Wortwechsel in Bambara, dann begann der Mann die Kauris zu werfen.

      Ich packte Coulibaly am Arm.

      „Hör mal, ich habe gesagt: keine Konsulation. Ich werde nichts zahlen. Nichts!“

      „Kein Problem.»

      Der Féticheur begutachtete den Orakelwurf und sagte zu Coulibaly:

      „Am Tag, als David bei dir angekommen ist, ging es dir nicht gut. Du warst auf dem Polizeirevier. Du wärst fast im Gefängnis gelandet, wegen einer Frau, die eines Tages im Morgengrauen zu dir kam. Sie gab dir Geld, du hast gedacht, das ist das Glück, aber es kam ganz anders.

      Nur dank eines alten Mannes, der für dich bürgte, bist du freigekommen.“

      Ich schaute zu Coulibaly, ich war immer noch wütend, aber jetzt konnte ich nichts mehr sagen. Denn Coulibaly hatte zu weinen begonnen. Er sagte zu mir:

      „Es ist unglaublich. Er hat alles gesehen. Erinnerst du dich, als du angekommen bist? Ich sagte dir, ich habe noch ein Problem zu regeln. Dann wurde es Abend, ich kam nicht. Schließlich bekamst du den Anruf von der Polizei. Ich konnte dir nicht sagen, was passiert war. Aber genau so, wie der Féticheur sagt, hat es sich zugetragen.“

      Am Ende mussten wir ein Zicklein opfern, um diese unerfreuliche Geschichte wieder auf die richtige Bahn zu bringen. Ich winkte ab. Aber Coulibaly war so gerührt von dieser Wahrheit. Ein Hin und Her, peinlich, denn man kann nicht A sagen ohne B, die Vorhersage bekommen ohne nachher die Opfer zu machen. Aber wenn wir dieses Zicklein kauften, würde das Geld nicht reichen für die Heimreise. Was machten wir dann, pleite, irgendwo im Busch? Schließlich gab ich dem Mann 10 Franken Abfindung und wir machten uns – beschämt – aus dem Staub.

      Die Heimreise wurde schwierig. Am Zoll wurde gestreikt, wir konnten die Grenze nicht passieren. Es hieß, der Streik könne noch zwei Tage dauern. So lange würde das Geld nicht reichen.

      Ich sagte: „Siehst du? Ich habe dir gesagt, wir haben fast kein Geld mehr – aber du warst ja so sorglos. Du wolltest noch ein Zicklein opfern! Du bist sehr großzügig – mit meinem Geld. Wer bringt uns nach Hause, wenn uns das Geld ausgeht – dein Fetisch?“

      Er entgegnete: „Alle diese Schwierigkeiten rühren nur daher, dass wir nicht alle vorgeschriebenen Opfer gemacht haben. Man kann nicht eine Konsultation machen und dann die Opfer weglassen. Man hat uns gesagt, es würde Schwierigkeiten geben. Voilà.“

      „Du hättest also mit dem letzten Geld das Opfer bezahlt, im Vertrauen, dass das Geld dann schon vom Himmel fällt?“

      „Es ist das Geld, das Geld bringt. Gegebenes Geld ruft Geld.“

      Schließlich brachten uns zwei Jungen gegen eine kleine Entschädigung mit ihren Mopeds über die grüne Grenze, und wir erwischten einen Bus nach Abidjan, den wir mit dem letzten Sou gerade noch bezahlen konnten.

      Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass wir keine einzige Nacht in Coulibalys Dorf verbracht haben. Wie zufällig ergab es sich immer, dass wir am Abend gerade irgendwo anders waren und keine Gelegenheit mehr hatten zurückzukehren. Die Nacht ist die Zeit der Hexen. Die Hexen, von denen man sagt, dass sie dein Fleisch und deine Seele essen. Nun, ich verstehe Coulibaly. Ich weiß nicht, ob ich diese Reise noch einmal machen würde. Die Enteignung, das Ausnehmen, Aussaugen. Wie leer, ausgelaugt, ausgeraubt fühlte ich mich oft. Genau so, wie die Effekte der Hexerei beschrieben werden.

      Aber auf der anderen Seite: Coulibalys Vertrauen in die Kraft dieser seltsamen Ökonomie. Geld geben bringt Geld. Exzess, Verausgabung, Potlatch. Das Opfer, das dich an den Rand des Ruins bringt, wird dich reich machen.30 Auf dieser Reise habe ich die Frustration dessen erlebt, der es zu etwas gebracht hat, und den man zu Hause bis aufs Hemd auszieht; aber auch, dass es jemandem wie Coulibaly ernst ist. Wer gibt, bekommt. Der Geizige wird am Ende verhext und verliert alles. Man muss ein Risiko eingehen, man muss mit hohen Einsätzen spielen – und nicht nur so tun als ob – um zu gewinnen. Das gilt für die „heidnische Ökonomie“, aber auch für eine Feldforschung.

      Der Ethnologe Michael Oppitz, der viele Jahre bei den Schamanen in Nepal verbracht hat, gab mir vor meiner Abreise den Rat: „Bleiben Sie in Afrika, bis Sie eine Neurose kriegen!“

      Ich verstehe das als Aufforderung, sich der mentalen Dekonstruktion auszuliefern, oder, psychoanalytisch ausgedrückt: sich derart zum Objekt von Übertragungen machen zu lassen, dass man zu Übertretungen verführt oder gedrängt wird. „Let’s get lost.“ Zeit zur nachträglichen Reflexion und Rekonstruktion des Dekonstruierten bleibt dann noch alleweil.

      Ich habe einmal mit Elisabeth Hsü, einer Ethnologin, die lange Feldforschungen in China betrieben hat (und zwar über das Thema, wie ein Heiler sein Wissen auf einen Schüler übermitteln, übertragen kann) die Frage diskutiert, wie man eigentlich in einer Feldforschung etwas Fremdes wahrnehmen kann, das heißt etwas, das im eigenen System nicht vorgesehen ist, sondern das eigene System modifiziert, überschreitet. Und sie gab mir eine Antwort, die ich nicht erwartete, eine auf den ersten Blick ganz unepistemologische, unmethodologische Antwort. Sie sagte nämlich: „Es gibt eine Möglichkeit: Indem du dich verliebst.“

      Sich verlieben, sich verführen lassen. Paradox: Gerade die Extremform von Übertragung und Irrationalität als Erkenntnisinstrument, als Möglichkeit, die eigenen ewigen Übertragungen zu überschreiten und etwas Neues zu sehen. Sich verlieben als Aufweichung des Eigenen, das dem Nicht-Eigenen den Eintritt ermöglicht. Sich verlieben, nicht nur in eine Frau oder in einen Mann, sondern in eine ganze neue Welt. Sich verausgaben, sich ausliefern, nicht aus Schwäche, sondern als Stärke, wie der heidnische Bischof, der sich verschenkt, wie der Agronomiestudent, der sich verwickeln ließ ohne es eigentlich zu wollen, einfach indem er da war. Teilnehmende, Anteil nehmende Beobachtung.

      Coulibaly pflegte gerne zu sagen: „Pour gagner des connaissances et des secrets, il faut se déplacer.“ Mir gefällt das Wort „deplatzieren“, weil es Assoziationen wachruft an (inneres und äußeres) Deplatziert-Sein, Fehl-am-Platz-Sein, Durcheinanderbringen, Versetzung, Versetzt-Werden oder sogar Entsetzen. Es erinnert daran, dass Erkenntnis immer auch etwas mit Umbau zu tun hat und nicht ohne eine Phase der Bewegung, des Bröckelns, des Schlitterns, ja des Chaos oder der Zerstörung eintreten kann. Kurz: Dass keine Verschiebung im Übertragungsgefüge (ein bescheideneres Wort für Erkenntnis), kein Übergang, kein Übertritt ohne Übertretung, ohne Fehler, ohne faux pas eintritt. Insofern muss man aus Übertragung und Übertretung nicht eine eigene Methode machen. Übertragungen und Übertretungen ergeben sich, sobald eine Beziehung da ist, sie sind die