Название | Die böse Begierde |
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Автор произведения | Stefan Bouxsein |
Жанр | Языкознание |
Серия | Mordkommission Frankfurt |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783939362081 |
4. Auflage, 2021
1
Er war allein im Oratorium. Allein mit Gott. Seine Knie sanken auf den kalten, kahlen Boden. Seine Stirn presste sich auf den nackten Beton. Seine Hände waren gefaltet, die Arme ausgestreckt. Er spürte weder den harten Boden noch die Kälte. Er war hin- und hergerissen zwischen Schuld und Vergebung, zwischen Sünde und Buße. Er versuchte sich zu beruhigen, ging in sich, wie so oft in seinem Leben. In seinem Inneren brannte ein Feuer. Schluchzend flüsterte er sein Gebet.
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
Er fühlte sich nun in der Lage, endlich den braunen Ledereinband zu öffnen. Vor drei Tagen war dieser eingetroffen und in der Obhut des Abtes geblieben. Drei Tage Bedenkzeit hatte er vom Abt auferlegt bekommen. Drei Tage, die er mit innigem Gebet verbringen sollte. Danach musste er entscheiden, ob er den Einband in Empfang nehmen wollte oder ob der Abt das Geheimnis seiner Herkunft mit ins Grab nehmen sollte. Er hatte gebetet und gefastet. Dann hatte er seinen Entschluss gefasst.
Das Anschreiben, das auf dem braunen Ledereinband gelegen hatte, hatte er schon vor drei Tagen gelesen. So viel hatte ihm der Abt zugestanden. Es waren nur ein paar Zeilen. Zeilen, die seinen Glauben auf das Tiefste erschüttert hatten. Eine Ahnung hatte er schon immer gehabt. Eine Ahnung, die tief in ihm verankert war. Nun sollte aus der Ahnung Gewissheit werden. Er hatte die Wahrheit in den Händen und er fürchtete sich davor. Noch einmal faltete er seine Hände. »Gott steh mir bei«, flüsterte er. Dann öffnete er den braunen Ledereinband und fing an zu lesen.
Mein Leben, Wilhelmine Arenz
Heute ist der 15. Februar des Jahres 2007. Es ist mein 87. Geburtstag und es drängt mich, mein Leben niederzuschreiben. Viel Zeit habe ich nicht mehr, vielleicht noch ein halbes Jahr, vielleicht noch ein Jahr, vielleicht aber auch nur noch wenige Tage oder Wochen. Das Schreiben fällt mir schwer, die Finger gehorchen nicht mehr, es ist nicht die Gicht, die mir zu schaffen macht, es ist einfach das Alter.
Ich will nicht jammern, will mich nicht beklagen und will auch keine Anklage erheben mit der Niederschrift meines Lebens. Ich will nur ein wenig Klarheit in das Dunkel bringen, will meinen Nachkommen die Chance geben, das Schlechte zu meiden und das Gute zu leben.
Je älter ich werde, desto deutlicher erscheinen mir wieder meine Kindheit und meine frühe Jugend vor meinem geistigen Auge. Geboren wurde ich als Wilhelmine Güttlicher in einem kleinen Dorf in Ostpreußen als viertes von sechs Kindern. Das Leben zu jener Zeit war hart und voller Entbehrungen und doch war es rückblickend eine wunderbare Zeit gewesen. Eine Zeit der Unschuld und eine Zeit der Hoffnung. Es war eine Zeit der Umwälzungen, der große Krieg war vorüber, die Menschen suchten nach Orientierung und waren froh, wenn sie die hungrigen Kinder in der Familie ernähren konnten.
Seit meinem zwölften Lebensjahr war ich das Arbeiten vom frühen Morgen bis in die Abendstunden gewöhnt. Als ich älter wurde, wuchs mein Verlangen, das Haus, den Hof und meine Familie zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Mein eigenes Leben.
Ich war 16 Jahre alt, als ich Fritz kennen lernte. Fritz war zwei Jahre älter als ich und kam aus dem Nachbardorf. Sein erster zärtlicher Kuss begleitete mich nächtelang in meinen Träumen. Ich konnte es kaum erwarten, meine kindliche Unschuld zu verlieren. Meine Hoffnungen auf ein neues glückliches Leben an der Seite von Fritz wuchsen mit jedem geträumten Traum.
Im Mai 1938 gab ich Fritz das Versprechen, ihm treu zu sein bis in den Tod. Ich war neunzehn und sah in den strahlenden Augen meines Bräutigams eine rosige Zukunft. Auch ein anderer Mann nährte meine Hoffnung auf ein besseres Leben. Adolf Hitler ging in großen Schritten voran und wir folgten ihm bedingungslos.
20. Dezember 2007, 11:55 Uhr
Siebels saß rauchend hinter dem Steuer und fuhr auf der Friedensbrücke über den Main. Zu seiner Linken ragten die gläsernen Bankentürme in den klaren blauen Himmel. Sein Kollege Till saß neben ihm und faselte etwas von Glühwein und Weihnachtsmarkt, aber Siebels hörte nur mit halbem Ohr zu. Eigentlich wäre heute sein erster Urlaubstag gewesen und eine Fahrt mit Sabine in die Rhön stand auf dem Programm. Eine Woche Urlaub abseits der Stadt, vielleicht mit etwas Schnee, war durch den Anruf von Staatsanwalt Jensen vor einer halben Stunde zunichtegemacht worden. Till hatte zur gleichen Zeit mit seiner Freundin Johanna vor dem Computer gesessen und sich die Last-Minute-Angebote für einen Trip auf die Kanarischen Inseln angeschaut. Jetzt saßen beide missmutig nebeneinander. Siebels schwieg eisern und Till versuchte die Situation mit Galgenhumor zu meistern.
»Klären wir halt schnell noch einen Mord auf, kippen uns anschließend auf dem Weihnachtsmarkt ein paar Becher Glühwein rein und hauen dann ab, ich zum Strand und du in die Rhön.«
Siebels fuhr Richtung Commerzbank-Arena und bog dann auf der Kennedyallee links ab. Sein Ziel war die Villa Liebig, deren Einfahrt er gerade passierte. Zwischen der Einfahrt und der Villa lag noch ein weitläufiges, parkähnliches Grundstück. Am Eingang der Villa standen zahlreiche Streifenwagen. Polizisten warteten dort und tranken heißen Tee aus Thermoskannen. Weiß-rote Absperrbänder waren rings um die Villa angebracht, ein Leichenwagen stand mit geöffneter Heckklappe auf der Zufahrt. Siebels brachte seinen BMW zwischen zwei Streifenwagen zum Stehen und betrachtete sich die Szenerie, bevor er endlich seinen optimistischen Beifahrer eines Besseren belehrte.
»Erstens: Wenn Jensen uns in allerletzter Sekunde aus dem Urlaub zurückpfeift, handelt es sich wieder mal um einen ganz heiklen Fall. Zweitens: Leiche in Villa bedeutet Ermitteln mit Fingerspitzengefühl. Das wird uns Meister Jensen bestimmt gleich höchstpersönlich erörtern. Und drittens: Sowie das Ding aufgeklärt ist, buche ich mit Sabine was Nettes auf Kuba oder Jamaika. In der Rhön sind wir nämlich auf keinen Fall sicher genug vor Jensen und neuen Fällen.«
Die beiden stiegen aus dem Wagen, zeigten den frierenden Polizisten ihre Ausweise und gingen Richtung Villa, von wo ihnen plötzlich Jensen entgegeneilte.
»Da sind Sie ja endlich meine Herren. Es tut mir leid, dass aus Ihrem Urlaub jetzt nix geworden ist, aber hier handelt es sich wirklich um einen sehr heiklen Fall. Da kann ich unmöglich auf meine besten Leute verzichten.«
Siebels und Till tauschten einen vielsagenden Blick aus.
»Was ist denn passiert?«, brummte Siebels.
»Ein Mord!«, entfuhr es Jensen.
»Wie schrecklich«, amüsierte sich Siebels. »Daher haben Sie uns herbestellt, weil wir von der Mordkommission sind. Und ich habe mir schon wer weiß was gedacht.«
Siebels erntete einen bösen Blick vom Staatsanwalt. »Was da drin passiert ist, das ist eine böse Sauerei. Die Lage ist ernst und Sie sollten es auch sein. Bevor Sie reingehen, schlüpfen Sie aber in die Überzieher. Die Kollegen von der Spurensicherung sind noch mit der Sicherung von Spuren beschäftigt.«
Siebels verkniff sich jeden weiteren Kommentar, was ihm nicht leichtfiel, und ließ sich die Plastikhüllen reichen, die er und Till sich über die Schuhe zogen, bevor sie die Villa betraten.
»Die Leiche liegt im ersten Stock«, klärte Jensen sie auf. »Bevor Sie sich das anschauen, lassen Sie sich besser erst mal von dem Gerichtsmediziner erklären, was passiert ist. Oben wimmelt es noch von Kriminaltechnikern