Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Fluten

      »Auftragsflut in Sicht«, titelte dieser Tage das Handelsblatt. Gegenstand des Artikels ist nicht eine der üblichen Schönwettermeldungen eines um Schröders Wahlsieg besorgten Hofökonomen – so dick lügen angesichts der realen Lage selbst die nicht mehr – sondern die nüchterne Empfehlung, Aktien der Baubranche zu ordern. Auch Baumärkte, Einrichtungshäuser, Möbelläden und Teppichausstatter zählten zu den Firmen, die »am Großreinemachen verdienen«. Die Rede ist von den Folgen der Hochwasserkatastrophe. Analysten werden zitiert, Rechnungen aufgemacht, Profitchancen durchkalkuliert. Es ist eben alles eine Frage der Sichtweise. Was für viele ein Albtraum und der Ruin von Zukunft und Hoffnung, ist für andere eine nützliche Belebung der seit Jahren lahmenden Baukonjunktur.

      Es hat keinen Sinn, sich über Zynismus zu beklagen. Zeit seiner Existenz lebt Kapital in dem Widerspruch, sich nur um den Preis strangulierter Massenkaufkraft optimal zu verwerten und sich andererseits nicht verwerten zu können, wenn keiner da ist, der ihm den produzierten Kram abnimmt. Kriege und Naturkatastrophen, deren Zerstörungskraft Nachfrage erzwingt, sind in diesem Zusammenhang ausgesprochen hilfreich. Allerdings existiert auch hier das Problem, dass irgendwer seinen Geldbeutel öffnen und zahlen muss. Dies war nach den marktwirtschaftlichen »Befreiungskriegen« in Bosnien und im Kosovo der Fall, als US- und EU-Steuergelder als Kredite flossen, ebenso in Kuweit nach dem ersten Golfkrieg. In Afghanistan rinnt das Geld schon spärlicher, wohl weil der Krieg zwar inzwischen weniger beachtet, aber noch lange nicht beendet ist. Und in vielen hunger- und bürgerkriegsgeschüttelten Dauerkatastrophengebieten dieses Planeten ist schlicht gar nichts zu holen. Die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Fluten in Bangladesch mit Zigtausenden Toten interessieren keinen Bauunternehmer und keinen Aktienanalysten. Anders in Dresden. Obschon auch die öffentliche Hand in Deutschland sich in den letzten Jahren erfolgreich arm reformiert hat, stand von Beginn an fest, dass die zerstörte Infrastruktur wiederaufgebaut und den Betroffenen wenigstens eine minimale Entschädigung gezahlt werden muss. Offen war einzig, wessen Portemonnaie dafür herhalten sollte. Und der Zank darüber begann, noch während das Wasser durch die Dämme schwappte. Wäre nicht gerade Wahlkampf, hätte die Lösung vermutlich in einem Flutopfersondersolidaritätszuschlag bestanden, oder – sozial noch ein bisschen grausamer – in einer neuen Verbrauchssteuer auf irgendein schwer vermeidbares Konsumgut. Vielleicht würden wir dann künftig nicht nur für die Rente tanken und für Schilys Polizeistaat rauchen, sondern auch für Sachsens Straßen trinken. Solche Ideen verboten sich allerdings vier Wochen vor dem Urnengang. Schließlich hat Stoiber in diesem Wahlkampf schon mehrfach bewiesen, dass er sich auch aufs Ziehen der populistischen »Mein-Herz-gehört-dem-kleinen-Mann«-Karte versteht. Inzwischen ist beschlossen: Es gibt keine Steuererhöhungen, aber die zweite Stufe der Steuerreform wird um (mindestens?) ein Jahr verschoben und geschätzte 6,3 Milliarden Zusatzeinnahmen, die daraus resultieren, fließen in die Elbregionen.

      Nun ist Schröders Steuerreform zu Recht alles andere als ein Objekt linker Sympathie, und die seinerzeitige Zustimmung der PDS im Bundesrat gehört zu jenen unverzeihlichen Sündenfällen, deren Summe sich heute in mageren Umfragewerten rächt. Dennoch: Was da um ein Jahr verschoben wurde, ist in erster Linie jener einzige kleine Teil des unsäglichen Projekts, den man guten Gewissens noch rechtfertigen konnte. Aufgeschoben ist zwar auch die weitere Senkung des Spitzensteuersatzes um 1,5 Prozent, der übergroße Teil der geplanten Einnahmen aber rührt daher, dass die versprochene Senkung des Eingangssteuersatzes um knapp 3 Prozent nicht stattfindet und die Freibeträge nicht, wie beabsichtigt, angehoben werden. Beides trifft vor allem Gering- und Mittelverdiener. Die bereits in Kraft getretene Senkung der Spitzensteuern um insgesamt 4,5 Prozent wird dagegen ebenso wenig zurückgenommen wie das milliardenschwere Geschenkpaket an die deutsche Wirtschaftselite, das seit 2001 dem Fiskus in bestimmten Bereichen die Hände bindet.

      Um welche Beträge es bei letzterem geht, zeigt die Entwicklung der Körperschaftssteuer. Hatte diese Steuer dem Staat im Jahr 2000 noch 23 Milliarden Euro Einnahmen gebracht, wies sie 2001 erstmals in der bundesdeutschen Geschichte ein negatives Ergebnis aus: Während jedem Kleinverdiener Monat für Monat sein Obolus vom Gehaltszettel abgezogen wird, überwiesen die Finanzämter der Dax-Aristokratie per Saldo 425 Millionen Euro. Aus der Steuer war eine versteckte Subvention geworden, und das keineswegs als einmaliger Ausrutscher. Für die ersten sechs Monaten diesen Jahres liegt der Negativsaldo bereits bei 1,3 Milliarden Euro. Im Juli kamen weitere 563 Millionen dazu. Ursache dieser seltsamen Verkehrung im Steuergeldfluss sind spezielle Regelungen in Eichels Meisterwerk, die es den Kapitalgesellschaften gestatten, sich in den Jahren vor der Reform zu den alten Sätzen gezahlte Steuern zurückzuholen. Nach offizieller Schätzung beträgt das Polster, das sich auf diese Weise versilbern lässt, etwa 30 Milliarden Euro. Vielleicht sind es auch mehr, keiner weiß es genau, und keiner will es genau wissen. In jedem Fall gehen viele Steuerschätzer inzwischen davon aus, dass die öffentliche Hand aus edlen Konzernzentralen auf absehbare Zeit kaum einen müden Euro mehr bekommt. Weder für die Flutopfer, noch für sonst irgendwas. Der 1,5-prozentige Zuschlag zur Körperschaftssteuer, den Schröder – witzigerweise auf Druck der Union – am Ende noch in das Wiederaufbau-Finanzierungspaket aufgenommen hat, wirkt in diesem Kontext wie ein trüber Scherz, und das Theater der Wirtschaftsverbände riecht nach Inszenierung. Es ist wie immer: Otto Normalverbraucher zahlt die Zeche; und damit zum Schaden auch der Spott nicht fehlt, wird er sich demnächst im Handelsblatt wieder für seine Konsumunlust getadelt finden.

      31. August 2002

      Der Boss und sein Kanzler

      »Der Boss und sein Kanzler«, hatte das Handelsblatt am 6. Juli die Klassenverhältnisse in einer Bildunterschrift auf den Punkt gebracht. Die Photomontage, unter der der zitierte Satz steht, zeigt einen selbstbewussten Eon-Chef Hartmann; neben ihm, klein und in Demutshaltung, Gerhard Schröder. Tags zuvor hatte Staatssekretär Tacke die Übernahme der Ruhrgas AG durch Eon per Ministererlaubnis bewilligt. Ausgekungelt hatten Hartmann und Schröder den Deal spätestens im Oktober 2001. Was folgte, war eine halbjährige Aufführung absurden Theaters. Das Bundeskartellamt lehnte die Fusion, die fast zwei Drittel des deutschen Gasmarktes einem einzigen Unternehmen übereignen wird, erwartungsgemäß ab. Es hätte die mit dem Sachverhalt befassten Ökonomen aber ebenso gut zum Golfspiel auf die grüne Wiese schicken können; noch während sie prüften, wurde die Ministererlaubnis in Aussicht gestellt. Die in diesem Verfahren zu hörende Monopolkommission teilte gleichfalls mit, sie sähe keinen einzigen Grund, weshalb Eons Übermacht dem Allgemeinwohl dienen sollte, – die Bedingung einer Ministererlaubnis. Am 29. Mai wurde dem Gesetz Genüge getan, das Für und Wider in öffentlicher Anhörung abzuwägen. Der mit der Ministererlaubnis betraute Tacke war gar nicht erst erschienen, Hartmann verschwand, nachdem er sein Statement verlesen hatte. Unterdessen verhandelten beide ungestört von Öffentlichkeit über Auflagen, die Eon nicht schmerzen und Tackes Gesicht wahren würden. Der einzig ernstzunehmende Konkurrent RWE wurde durch versprochenen Zugriff auf die noch in Eon-Besitz befindliche Gelsenwasser AG in den Handel eingebunden.

      Ergebnis der Kungelrunden war eine Aufteilung des deutschen Energiemarktes, wie sie perfekter nicht sein konnte: An Eon fällt das faktische Gasmonopol, an RWE das nicht minder renditeträchtige der Wassersparte; das Ölgeschäft überlassen beide den in diesem Bereich ohnehin überlegenen Konzernen Shell und BP; im Strommarkt, den Eon und RWE gemeinsam zu annähernd drei Vierteln kontrollieren, müssen sie weiterhin miteinander auskommen. Die Intensität ihrer Konkurrenz lässt sich anhand ihrer Bilanz ermessen: RWE hat sein Betriebsergebnis im Stromgeschäft im ersten Halbjahr 2002 um 46 Prozent gesteigert, Eon um 62 Prozent.

      Der Deal war lange festgezurrt, als eine Unbill auftrat, mit der offenbar keiner gerechnet hatte: Ein Richter am OLG Düsseldorf hatte noch nicht ganz vergessen, dass ihm im Oberseminar einst gelehrt wurde: Liberalisierung – und sinnigerweise läuft die Schieberei ja unter diesem Namen – habe etwas mit Wettbewerb zu tun. Er gab der Klage der Fusionsgegner – vor allem Energiehändler und kleine Stadtwerke – per einstweiliger Verfügung statt; Verfahrensmängel der allzu selbstsicheren Dealer machten die Begründung leicht. Seither folgt des absurden Stückes zweiter Teil. Donnerstag letzter Woche wurde zu einer neuen öffentlichen Anhörung geladen. Die gleiche Gesellschaft lauschte zum zweiten Mal den gleichen Argumenten. Im Unterschied zum Mai harrte Hartmann diesmal höflich bis zum Ende aus, und Tacke war nicht nur anwesend,