Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht

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Umstieg auf Konservengemüse, für andere dagegen »nur« der Verzicht auf einen Restaurantbesuch oder eine bescheidenere Urlaubsplanung sein, Otto Normalverdiener spürt, dass die Teuerung an seinem Lebensstandard zehrt, und ist sauer. Und da wir uns im Wahljahr befinden, hat die Schröder-Koalition beschlossen, diese Säuernis zu teilen. So offenbart Eichel der entsetzten Nation, dass er sich seine Eiskugel in Reichstagsnähe bald nicht mehr leisten kann, Schröder ruft dazu auf, Preistreiber mit Kaufverachtung zu strafen, und Frau Künast nimmt sich mitten im Nitrofen-Stress die Zeit, einen »Anti-Teuro-Gipfel« zu veranstalten.

      Scheinbar viel Trara um nichts, denn die offizielle Inflation lag im Mai bei 1,2 Prozent und damit so niedrig, wie lange nicht mehr. Allerdings haben auch die Ökonomen begriffen, dass eine derartige Kluft zwischen Alltagserfahrung und Statistik die Gefahr birgt, dass ihr Zahlenwerk und ihre Rechenspiele bald von niemandem mehr ernst genommen werden. (Die herrschende Wirtschaftslehre besteht zwar zu wesentlichen Teilen darin, den Leuten ein X für ein U zu verkaufen; aber es ist nie ratsam, Mehrheitsmeinungen einfach für verrückt zu erklären.) Also wurde flugs ein neuer Begriff erfunden und ist seither in aller Munde: der Begriff der »gefühlten Inflation«. Die Grundidee stammt aus der Wetterforschung. Dort wird seit einigen Jahren neben der realen auch die »Fühltemperatur« ermittelt. Es gibt wissenschaftlich nachvollziehbare Gründe, weshalb die Leute 5° C unter gewissen Umständen wärmer und unter anderen kälter finden. Gefühlte Inflation soll in Analogie dazu heißen: Wir, die Ökonomen, verstehen, warum ihr alle den Eindruck habt, die Preise würden steigen. Wir können sogar messen, wie stark dieser Eindruck ist. Aber so, wie die reale Temperatur selbstverständlich von der »gefühlten« unabhängig ist – 5° C sind genau 5° C, nicht mehr und nicht weniger –, so entspricht die reale Preisentwicklung der offiziell ermittelten Rate und nicht etwa den »Fühlwerten«.

      Die Frage ist von Belang, denn die Inflationsrate ist nicht irgendeine statistische Zahl, sondern ein einflussreicher Parameter, an dem verteilungspolitische Entscheidungen hängen. Fürs erste Quartal 2002 wurde eine »gefühlte Inflation« von 4,8 Prozent ermittelt. So sehr man sich hüten mag, den heutigen Gewerkschaftsoberen etwas nicht zuzutrauen: Erstreikte Tarifabschlüsse mit einer 3 vor dem Komma wären bei einer offiziellen Inflationsrate von 4,8 Prozent schwer vorstellbar. Normalerweise entstünde bei derartiger Teuerung auch ein Druck, soziale Leistungen und Renten wenigstens partiell anzupassen. »Gefühlte« Werte dagegen sind irrelevant.

      Nun soll nicht behauptet werden, dass genau die 4,8 Prozent die reale Preisentwicklung widerspiegeln. Das Problem ist vielmehr, dass – anders als bei der Lufttemperatur, zu deren Messung man einfach ein Thermometer in den Wind hält – für die Preisentwicklung einer Volkswirtschaft kein wirklich objektives Maß existiert. Darin besteht die Lüge der Wetter-Analogie. Die bundesdeutsche Inflationsstatistik etwa nimmt einen Warenkorb zum Ausgangspunkt, der 750 Güter und Dienstleistungen in unterschiedlicher Gewichtung enthält und alle fünf Jahre angepasst wird. Er soll in seiner Zusammensetzung den durchschnittlichen Konsum eines Durchschnittshaushalts repräsentieren.

      Aber einen solchen Durchschnittshaushalt gibt es nicht. Der Konsumkorb eines Langzeitarbeitslosen und der eines renommierten Wirtschaftsanwalts haben kaum etwas gemein. Nicht wenige der 750 Güter, die in die Inflationsrechnung eingehen, finden sich im Einkaufsbeutel des unteren Bevölkerungsfünftels überhaupt nie. Wenn, wie derzeit, die Preise für Grundbedarfsgüter kräftig anziehen, die langlebiger Gebrauchsgüter und Markentextilien dagegen teilweise sogar sinken, dann bluten eben die am meisten, deren Einkommen nur den Grundbedarf deckt. Wird Brot um 20 Prozent teurer und werden Spülmaschinen um 20 Prozent billiger, ergibt das, bei gleicher Gewichtung, eine Inflationsrate von Null. Nur was nützt das dem, der keine Spülmaschine kauft, sei es, weil er sie sich eh nicht leisten kann, sei es, weil er gerade wegen der höheren Brotpreise auf größere Anschaffungen verzichtet? Für ihn liegt die Teuerung bei 20 Prozent und keinen Deut drunter.

      Die Inflationsrate – und zwar die reale, keineswegs bloß eine »gefühlte« – differiert somit erheblich mit der Einkommensklasse, zu der jemand zählt. Auch solche Differenzen ließen sich wissenschaftlich abschätzen. Das freilich war auf Künasts »Teuro-Gipfel« ebenso wenig Thema wie die Ursachen steigender Preise, die keineswegs in der neuen Währung als solcher liegen.

      8. Juni 2002

      Der große Bluff

      Manchmal haben auch Leitartikler im Handelsblatt lichte Momente. »War der amerikanische Boom in den neunziger Jahren nur ein großer Bluff?« – mit dieser Frage rang einer von ihnen kürzlich eine Drittel Zeitungsseite lang, ehe er die bejahende Antwort wagte. Über zehn Jahre galten die USA als das Erfolgsmodell schlechthin: Jährliche Wachstumsraten nahe fünf Prozent, Preisstabilität, sinkende Arbeitslosigkeit – alles Wünschenswerte schien beisammen. Die letzten zwei Jahre haben das Bild getrübt, inzwischen wird es fleißig aufpoliert. Ifo prognostiziert für 2002 ein Wachstum von 2,3 Prozent; der US-Finanzminister protzt gar mit möglichen 3,5 Prozent. Wie realistisch solche Prognosen sind, sei dahingestellt. Interessanter ist die Frage, die auch den Handelsblättler umtrieb: was die Statistiker mit Kennziffern wie der Wachstumsrate heute tatsächlich messen.

      Die Einsicht, dass die Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) nur bedingt als Wohlstandsindikator taugen, ist nicht neu. Eine bekannte Kritik hebt hervor, dass die VGR rein quantitative Größen erfasst: Eine Wirtschaft, die jährlich zehn Millionen Regenschirme erzeugt, deren Stoff sich nach dem zweiten Regen von den Speichen löst, erscheint nach VGR-Maßstab wohlhabender als eine, deren Schirme über Jahre halten und die gerade deshalb weniger von ihnen produziert. Oder: Das Bruttosozialprodukt wächst, wenn die Zahl der pillenschluckenden Kranken zunimmt oder Raubbau an der Umwelt den Aufwand zur Beseitigung der Schäden erhöht.

      So berechtigt allerdings diese Kritik ist, sie thematisiert nur einen Teil der Seltsamkeiten. Quantitäten sind immerhin eine empirisch noch irgendwie relevante Größe. Heutzutage von den Statistikern gezählt und gemessen wird dagegen zu weiten Teilen einfach – nichts. Nach dem Platzen der Internet-Blase hat es sich für diesen Bereich herumgesprochen: Anstelle mancher Dotcom-Firma hätte man ebenso gut Nießbrauchsrechte an den globalen Endlagern für Atommüll oder Anteile an den Wasserreservoiren des Monds verkaufen können. Solange Anleger bereit sind, ihr Geld für derartige Papiere zu verschleudern, gelten die daraus resultierenden Einnahmen von Banken und Brokerhäusern als Wertschöpfung. Auch in der inzwischen wieder hochgeschätzten Old Economy entstammt ein Teil der Gewinne reinen Luftbuchungen. Teils unbewussten, sofern die Konzerne, statt dröge Güter zu produzieren, die die Leute mit ihren niedrigen Löhnen eh nicht kaufen können, mit ihrem Kapital in Aktien, Devisen und Derivaten herumspielen und daraus resultierende Erlöse als Gewinn verbuchen. Teils sehr bewussten, sofern nämlich Konzernbilanzen den wirklichen Unternehmenszustand in etwa so lebensnah widerspiegeln wie Vorabendserien die reale Welt. Dass sich Enron auf kreative Buchhaltung verstand, ist inzwischen ein Gemeinplatz. Man sollte allerdings davon ausgehen, dass der Unterschied zwischen Enron und anderen Großunternehmen in erster Linie darin liegt, dass Herr Lay Pech hatte und sich verspekulierte. Im Normalfall läuft die Sache unauffällig und einträglich: für das Unternehmen, für die mitverdienenden »Wirtschaftsprüfer«, oft genug auch für Behörden. Nach der Enron-Pleite waren auch IBM und General Electric wegen Verdachts auf Bilanzfälschung ins Visier der Fahnder geraten. Kurze Zeit später wurden die Ermittlungen »wegen Mangel an Beweisen« eingestellt. Lediglich der Konzern CMS Energy musste zugeben, dass etwa drei Viertel (!) seines Handelsvolumens Scheingeschäften entstammten.

      Dabei werden Bilanzen nicht in jedem Fall geschönt. Ist der Adressat das Finanzamt, kann auch Armut vorgegaukelt werden. Ein beliebtes, in beide Richtungen einsetzbares Täuschungsmanöver besteht im »Parken« von Gewinnen und Verlusten bei nichtkonsolidierten Tochtergesellschaften. Enron hatte 900 davon. Zur Bilanzkosmetik gehören ferner die Auf- oder Abwertung von Vorräten und Variationen bei den Abschreibungen. Weit verbreitet und durchaus nicht illegal sind Pro-Forma-Ergebnisse: Ertragszahlen, die um »außergewöhnliche Einflüsse« bereinigt sind. Was außergewöhnlich ist, entscheidet das Unternehmen. Der Internetdienst SmartStockInvestor.com hat errechnet, dass die im Nasdaq notierten Unternehmen in ihren Pressemitteilungen für die ersten drei Quartale 2001 einen Pro-Forma-Gewinn von insgesamt 19,1 Mrd. Dollar auswiesen, während sie an die amerikanische Finanzaufsicht SEC für den gleichen Zeitraum einen Verlust von 82,3 Mrd.