Die tückische Straße (19 Krimis). Walter Serner

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Название Die tückische Straße (19 Krimis)
Автор произведения Walter Serner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027204496



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fühle gegen die Schändlichkeiten des Lebens und seine trügerischen Verlockungen.

      All dies erstaunte zwar Eiermann leise, betrübte ihn aber nur insoferne, als es seine Befürchtungen bezüglich der von ihm gehegten Hoffnungen sattsam zu begründen geeignet war. Rasch jedoch kehrte sein Skeptizismus wieder und ließ ihn auf seine Routine und seine Reize bauen, die er, sobald es dunkler geworden war, auf unbegangeneren Wegen mit äußerster Entfaltung einzusetzen willens war. Nachdem er die erwähnten Themen etwa eine Stunde noch zu variieren gezwungen worden war, begann es zu dunkeln und er deshalb, Dédette den einsamen Pfaden um das alte Kastellet zuzuführen. Dort wählte er eine idyllisch gelegene Bank mit dem Ausblick auf den Hafen und ließ, als man saß, seine Hände gelinde um die Hüften Dédettes spielen, welche diese schwülen Attacken wie mechanisch abwies, so daß er zu ernstlicheren Handgriffen überzugehen wagte. Als sie nunmehr aber unwillig sich sträubte, überfiel er sie mit seinem hitzigen Mund und durchstürmte den ihren, lediglich seinen Lüsten dienend, zehn Minuten lang.

      Als er Dédette endlich freigab, saß sie wie benommen: wessen er sich erdreistet hatte, war ihr in Anbetracht der vorhergegangenen Konversation allzu unerwartet gekommen.

      »Habe ich Sie verletzt?« Eiermanns Unterlippe stand, ironisch und noch feucht, ein wenig vor.

      »Oui, Sie haben mich …« Dédette hielt ratlos inne, dann es aber doch für angezeigter, die Sachlage anzuerkennen und einzulenken. »Aber Sie haben mich zu viel, kaere Herre Eiermann. Vous m’avez fait un bleu. Là. C’est dégueulasse.«

      Eiermann sah gar nicht hin, schloß aber ob der letzten Vokabel grinsend die Augen: Dédette hatte, auf seine Unkenntnis ihrer Sprache sich verlassend, seinen Skeptizismus entscheidend fundiert und seinen Hoffnungen ihre Üppigkeit wiedergegeben.

      Dédette verschob angesichts dieser intransigenten Haltung und der immer dichter werdenden Dunkelheit die Restaurierung ihrer Züge, eine neuerliche Attacke überdies sowohl vorhersehend als auch bereits wünschend.

      Sie kam denn auch. Und zwar ebenso abrupt wie die erste, nur noch um ein Erkleckliches intensiver. So daß Dédette sich nicht mehr zu beherrschen vermochte und ihre Linke zitternd auf das Zentrum ihrer Erregung drückte. Als Eiermann dies sah, bereitete er sich vor, den Sieg ohne Zögern zu erzwingen. Denn wie oft war nicht so manch Eine, die im Bann der Dunkelheit und seiner Küsse ihm bereits halb erlegen war, später unter dem warnenden Eindruck des Straßenlebens zurückgewichen und seinen Klauen entschlüpft. Einmal aber völlig besiegt, stand einer unmittelbaren Wiederholung in seiner Wohnung, deren Milieu derartige Entschließungen ohnedies günstig zu beeinflussen pflegte, kein Argument mehr im Wege. So schuf denn Eiermann eine Zwangslage und opferte Aphroditen.

      Dédette hatte nicht eigentlich Widerstand geleistet. Nur so viel, daß Eiermann glauben konnte, sie sei nicht durchaus willig. Hinterher aber gehabte sie sich um so empörter: es entspreche keineswegs ihren Familienverhältnissen, auch nicht dem Bilde, das sie sich von einem guten Freund gemacht habe; ganz abgesehen von ihrem Innenleben, dem er einen schweren Stoß versetzt habe; sie werde sogleich morgen zur Beichte gehen und der Madonna von Lourdes zwei Kerzen stiften; das Leben sei voll von trügerischen Verlockungen und Eiermann ein Schändlicher.

      Dieser überhörte es resolut und schickte sich an, viel und verheißungsvoll von dem holden Wirrsal seiner Wohnung und deren parfümierten Ecken zu plaudern und, mit heuchlerischem Ernst, von seiner Absicht, sein ödes Junggesellenleben mit Hilfe einer Gefährtin zu beenden, die Ausländerin wäre und durch ihren größeren Gesichtskreis charmanter und vielseitiger als das nordische weibliche Element.

      Dédette erwies sich daraufhin schnell verändert. Sie drängte, zu Eiermanns innigem Ergötzen von ›décamper‹ sprechend, zum Aufbruch, restaurierte unter der ersten Bogenlampe der Bredgade eilig ihr arg verschmiertes Gesicht und ließ sich nach zahlreichen, wenn auch um so kürzeren Weigerungen in seine Wohnung führen.

      Daselbst verbrachte Eiermann, auf Dédettes unabänderlichen Befehl hin, den sie mit ihrer Keuschheit rechtfertigte, unter Ausschluß jeder Beleuchtung eine überaus eifrige Liebesnacht, die bis gegen fünf Uhr morgens währte, um welche Zeit man dem wohl verdienten Schlaf sich überließ.

      Um sieben Uhr erwachte Eiermann zufälliger Weise und mußte eine sehr überraschende Entdeckung machen: Dédette lag nicht mehr neben ihm. Er beruhigte sich jedoch schnell: sie hatte ihren Dienst antreten müssen und ihn nicht wecken wollen.

      Stolz und freudetrunken durchthronte er den Tag im Café Paraplyen auf dem Rathausplatz. Abends freilich, als er heimkam, wartete seiner die zweite, unliebsame Überraschung: seine Brieftasche mit achthundert Kronen, die in einem Schreibtischfach sich befunden hatte, war verschwunden, desgleichen, als er mißtrauisch geworden, kontrollierte, elf Taschentücher, ein silbernes Zigarettenetui und ein alter goldener Ring.

      Nachdem Eiermanns Gehirn eine außerordentlich turbulente Nacht hinter sich hatte, eilte er in die Grennegade, um nach Dédette zu fragen. Aber niemand im ganzen Hause, in dem überdies keine Frau von Pillingende wohnte, wußte etwas von einer Französin. Nun fuhr er in die Stampesgade zum Briefträgersaal. Der Briefträger der Grennegade erinnerte sich sehr wohl an jenen blauen Brief: er habe, nachdem er in allen Etagen mit ihm abgewiesen worden war, eine junge Dame, die ihm tagsdarauf auf der Treppe entgegenkam, gefragt, ob dieser Brief an sie gerichtet sei; denn sie habe einen Goldzahn gehabt und er deshalb angenommen, daß sie im Hause wohne, obwohl es freilich auch bloß eine Besucherin gewesen sein könnte; aber wenn ein Brief eine solche Adresse habe, könne man nicht verlangen, daß er es allzu genau nehme.

      Zwei Tage später erfolgte die dritte Überraschung: Eiermann hatte Läuse und mußte zu einer gründlichen Rasur schreiten und der ausgiebigen Verwendung von grauer Salbe. Dieser Prozedur lag er am andern Morgen eben wieder mißlaunig ob, als ihm vom Teppich her etwas entgegenglitzerte. Und alsbald hielt er eine winzige ovale Silberplaquette in der Hand, auf der als mattes Relief die Madonna von Lourdes sich abhob und die Inschrift: ›Je suis l’immaculée conception‹.

      Eiermanns nicht unsympathische Züge schmückte ein schlechthin mongolisches Grinsen, während er sich zuhöhnte: »Möglichkeiten verpflichten.«

      Die Clincher Box

       Inhaltsverzeichnis

      Whitehill kam sehr langsam zu sich. Und auch, als er die Augen schon geöffnet hatte, sah er noch nichts. Nur die Stirn brannte in kurzen schnellen Stößen. Er setzte sich mühsam auf. Und jetzt erst begann er sich zu erinnern. Er war am Abend vorher zu Broc in die Conventry Street gegangen. Der Pole Mzir sprach und die Kouropatrouska. Und dann sprach er selber. Es fiel ihm ein, daß es ihn dabei irritiert hatte, wie eigenartig Genove und die Jegera ihn gemustert hatten. Und er entsann sich ganz deutlich, daß er bald nurmehr den Eindruck gehabt hatte, man lasse ihn reden, ohne zuzuhören. Und dann plötzlich …

      Whitehill griff sich an die Stirn. Und dann war ihm plötzlich grau und dick vor den Augen geworden.

      Nun blickte er sich in dem Raum um, in dem er sich befand. Und preßte alsbald seine Schläfen: er sah genau so aus wie ein Loch im Pitcher, besaß ein kleines vergittertes Fenster, hinter dem, sehr nahe, eine dunkle Ziegelwand war, und dieselbe Einrichtung. Whitehill kam nach kurzem Überlegen zu dem Schluß, daß, während er gesprochen hatte, die Polizei geräuschlos eingedrungen war, ihn rücklings betäubt hatte und nach Newgate gebracht.

      Er stand auf und lauschte. Nichts. Er klopfte vorsichtige Worte an die Wände. Nichts. Untersuchte die Tür, den Judas: kein Schloß, kein Riegel, keine Schiene. Aber hart neben der Tür, in einer Einbuchtung der Mauer, befand sich ein Klingelknopf. Whitehill rieb sich die Wangen: den hatte es in der Zelle, in der er einmal drei Monate gesessen war, nicht gegeben. Er ging zum Fenster. Es schien ihm kein Zweifel daran möglich, daß es so gekommen war, wie er es sich vorgestellt hatte; nur daran, daß er, der mitten im Zimmer gestanden war, der erste gewesen sein sollte, der narkotisiert wurde. Da sah er den Klingelknopf, obwohl er den Blick nicht von ihm gewendet hatte. Es dauerte lange, bis er sich eingestand, daß er ja bloß klingeln wollte, es aber nicht wagte. Als er auf die Uhr sehen wollte,