SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze. Tim Curran

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Название SKIN MEDICINE - Die letzte Grenze
Автор произведения Tim Curran
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958350298



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ein Glücksspieler und ein Frauenheld, und die meisten wussten das. Trotzdem ging er diskret damit um. Denn tagsüber war er ein respektabler Geschäftsmann, und er hatte keinen Bedarf, dass Moss Geschichten über die Teenagermädchen verbreitete, die Caleb mit in die Leichenhalle brachte, oder darüber, was er mit ihnen in den Räumen darüber anstellte.

      Es gab Dinge, die besser geheim blieben.

      Wie zum Beispiel die Vergangenheit der Callister-Brüder.

      Keiner in der Stadt wusste viel über sie. Wie alle anderen auch hatten sie sich hertreiben lassen wie Blätter von einem scharfen Herbstwind. Es wehte sie herein und sie eröffneten eine Tischlerei. Dann starb der örtliche Bestatter, also entschied Hiram, auch bei diesem Geschäft dabei zu sein, denn die meisten Tischler waren ohnehin gleichzeitig als Bestatter tätig.

      Das taten die beiden, und in einer Stadt mit einer so hohen Sterblichkeitsrate wie Whisper Lake erwies sich das als sehr lukratives Geschäft. Sogar extrem lukrativ. Später, mit freundlicher Unterstützung des Bevölkerungsbooms, stellten die Callisters die Möbelproduktion ein und konzentrierten sich darauf, Särge herzustellen und Leichen zu vergraben. Und das war alles, was die Leute über die Callister-Brüder wussten, ein paar Gerüchte und Klatsch und Tratsch nicht eingerechnet.

      Sie wussten nicht, dass sie aus Logansport im westlichen Louisiana stammten, und dass ihr Vater Tischler gewesen war und dessen Vater ebenso. Sie hatten keine Ahnung, wie es war, bei einem Mann aufzuwachsen, den das Leben hart und die jahrelange körperliche Arbeit überlegen stark gemacht hatten. Bei einem Mann, der gerne trank und seine Familie schlug. Caleb selbst hatte das bei zahlreichen Gelegenheiten zu spüren bekommen, Hiram ebenso. Und dieses eine Mal, als der alte Mann Hiram in der Scheune erwischt hatte, wie er diese ekelhaften Sachen mit einem anderen Jungen anstellte, hatte er ihn beinahe zu Tode geprügelt.

      Nur Calebs Eingreifen hatte ihm das Leben gerettet.

      Und manchmal fragte sich Caleb, warum er sich überhaupt eingemischt hatte, denn wie der alte Mann sagte, war Hiram »berührt worden, und zwar nicht von der Hand des Herrn«. Hiram war ein seltsamer Junge, plump und streberhaft. Er rannte und spielte nicht mit den anderen Kindern. Stattdessen sammelte er Käfer und Frösche und alles, was tot war. Er mochte es, die toten Tiere in der Sonne zu trocknen und dabei zuzuschauen. Caleb fand das abstoßend, aber Hiram war sein Bruder, also was sollte er tun, außer ihn zu beschützen? Nur, dass Hiram mit zunehmendem Alter immer sonderbarer wurde. Und es war Caleb, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag, der diesem einen Jungen Geld geben musste, nach dem, was Hiram mit ihm gemacht hatte. Und das war nicht das erste Mal gewesen. Denn Hiram war ein Perverser mit einer Vorliebe für Kinder, besonders für Jungen. Aber Caleb beschützte ihn und bewahrte sein Geheimnis, obwohl er manchmal in der Nacht aufwachte und Gänsehaut bekam beim Gedanken an das, was er gesehen hatte.

      Aber das war ein Geheimnis.

      Die Callisters konnten gut mit Geheimnissen umgehen. Auch der alte Mann hatte das eine oder andere gehabt. Mit fünfzehn war Caleb schon mehrfach im örtlichen Bordell gewesen, um sich mit einigen der Mädchen anzufreunden, die meisten kaum älter als er. Sie hatten ihm anvertraut, dass sein Vater betrunken hereinzukommen pflegte, mit Geld um sich warf und dann eines der Mädchen mit nach oben nahm. Dass er gerne seinen Gürtel bei ihnen zum Einsatz brachte. Das war eines seiner Geheimnisse. Ein weiteres betraf ihre Mutter. Der alte Mann dachte, die Jungs wüssten von nichts, aber sie wussten es, ohne Zweifel. Dass ihre Mutter einfach so abgehauen war, glaubten sie nicht. Sie wussten, dass der alte Mann eines Abends besoffen und in Rage nach Hause gekommen war, stinkend nach dem Parfüm der Nutten, und dass ihre Mutter diese Tatsache erwähnt hatte. Und der alte Mann hatte wie ein Berserker auf sie eingeprügelt. Hatte sie noch geschlagen, als sie schon lange bewusstlos war, drosch immer wieder mit diesen riesigen Fäusten auf ihren Schädel ein, bis sie an einer Hirnblutung gestorben war. Und dass der alte Mann ihre Leiche in einen verlassenen Brunnen geworfen hatte … wo ihre Knochen noch immer lagen. Ja, die Jungs wussten davon, aber sie hielten es geheim.

      Geheimnisse, Geheimnisse.

      Zum Beispiel, dass der alte Mann es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Hiram regelmäßig zu verprügeln, weil er sich für »diesen schwulen kleinen Bastard« krank schämte. Trotzdem war Hiram zu Hause wohnen geblieben, als Caleb schon längst ausgezogen war. Mochte der Ärger auch auf sich warten lassen – irgendwann kam er doppelt und dreifach. Letzten Endes tat er das auch. Caleb war nach drei guten Tagen voller Ausschweifungen nach Hause gekommen und hatte Hiram gefunden. Nackt und blutverschmiert stand er mit einem Beil in der Hand über der Leiche ihres alten Herrn. Hiram hatte beinahe den Kopf abgetrennt. So wurde ein weiteres Geheimnis geboren. Sie wickelten den alten Mann zusammen mit Steinen in Sackleinen und versenkten ihn in den Tiefen des Sabine River, wo er die Ewigkeit mit seiner eigenen Art verbringen konnte – Alligatoren und Wasserschlangen und all die anderen schleimigen, sich windenden Albträume, die diese dunklen Tiefen ihr Heim nannten. Kurz darauf, nachdem der alte Mann problemlos für tot erklärt worden war – er war einfach verschwunden, und ihn mochte sowieso niemand – verkauften sie das Geschäft und gingen nach Westen.

      Die Bewohner von Whisper Lake wussten nichts davon.

      Noch weniger ahnten sie, was Hiram mit den Leichen der toten Huren machte, die in die Leichenhalle gebracht wurden. Oder dass Caleb seinen Bruder eines Abends beim Sex mit einer von ihnen erwischt hatte. An diesem Punkt hatte Caleb die Nase gestrichen voll davon, für dieses gottverdammte entartete Schwein alles unter der Decke zu halten, auch wenn er sein großer Bruder war. Und so war es für Caleb tatsächlich ein Segen gewesen, Hiram tot aufzufinden – Selbstmord, hatte der Coroner gesagt, obwohl beide wussten, dass das weit von der Wahrheit entfernt war. Ein wirklicher Segen war es, denn früher oder später wäre Hiram bei etwas Unappetitlichem erwischt worden, und das hätte alles zerstört, wofür Caleb gearbeitet hatte. Und als Hiram begraben wurde, wurden eine Menge Geheimnisse mit ihm vergraben.

      Aber es gab Geheimnisse, die selbst Caleb nicht kannte.

      Zum Beispiel, wie es für Hiram in dieser einen Nacht gewesen war, als schwarze, übelwollende Stimmen in seinem Kopf auftauchten und ihn Dinge fühlen und hören ließen, die einfach nur grauenhaft waren. Oder wie er James Lee Cobbs Sarg geöffnet hatte und Cobb wach darin lag, ihn anstarrte, ihn mit seinem einzigen Auge, das leuchtete wie ein Stück glühende Kohle im Schmelzofen, anstarrte und das Blutopfer nahm, das er ihm darbot. Oder wie Hiram wahnsinnig wurde, als Cobb ihn an der Kehle packte und er zu schreien versuchte, aber keine Stimme fand, und wie sein Herz letztlich aufgab in dem Wissen, dass nichts wie Cobb aussehen und lebendig sein konnte.

      Caleb wusste davon nichts, ahnte aber manchmal, dass schreckliche Wahrheiten dahinter standen.

      Die Bewohner von Whisper Lake konnten von all diesen Dingen nichts wissen. Und ganz sicher wollten sie das auch nicht. So wussten sie nicht, dass Caleb Callister Mormonen hasste und Teil einer sogenannten Bürgerwehr war, die eher an den Ku-Klux-Klan erinnerte und nicht weniger als zwölf von ihnen ermordet hatte. Oder wie allmächtig er sich fühlte, wenn er die weiße Kapuze überstreifte und zur Tat schritt. Und sie wussten nichts von den beiden Mormonenmädchen, die von den Männern beim Beerenpflücken überrascht worden waren. Sie hatten sie wieder und wieder vergewaltigt, bis das Blut kam, und ihnen dann die weichen, weißen Kehlen durchgeschnitten und sie in namenlosen Gräbern verscharrt, die niemand je finden würde. Oder wie die Männer gelacht hatten, als ein paar abtrünnige Indianer für das Verschwinden der Mädchen verantwortlich gemacht wurden. Niemand wusste davon. Noch wusste jemand, dass sie bei allen Überfällen auf die Camps und Siedlungen der Mormonen, die über die Berge und Täler verstreut waren, einen Ort namens Deliverance mieden. Sogar die Mormonen machten einen großen Bogen darum, denn alles, was dort geschah, war das Werk des Teufels.

      Und jenseits von alldem ahnte überhaupt niemand, dass das Verschwinden von James Lee Cobbs‘ Leiche und der abscheuliche Verfall von Deliverance von einer gottesfürchtigen Mormonenstadt zu einem Platz der finsteren, namenlosen Riten kein Zufall war, sondern absolut miteinander verbunden.

      Wie bei den Callisters waren diese Geheimnisse gut verborgen in den einsamen Abschnitten der zwielichtigen Seele der Stadt.

      2-7

      Obwohl