Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Alfred Adler |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027241484 |
In diesem Fall kann man nicht mehr von einem Gespenst, von einer Halluzination sprechen, denn die Gestalt hatte ganz reale Fäuste gehabt. Die Erklärung ist leicht zu geben: Sonst halluzinierte er, die Probe machte er aber an einem wirklichen Menschen. Es ergab sich, daß der Mann trotz Befreiung vom Alkohol nach seiner Entlassung aus dem Spital, weitergesunken war. Er hatte seine Stelle verloren, war von zu Hause verstoßen worden und brachte sich nun durch Erdarbeiten fort, die sowohl er, wie auch seine Angehörigen als niedrigste Beschäftigung einschätzten. Die seelische Spannung, in der er gelebt hatte, war nicht gewichen. Vom Alkohol befreit, war er trotz dieses ungeheuren Vorteils eigentlich um eine Tröstung ärmer geworden. Seinen ersten Beruf konnte er erledigen, indem er sich auf das Trinken verlegte. Wenn zu Hause Vorwürfe laut wurden, daß er es zu nichts bringen könne, schien ihm der Hinweis auf seinen Alkoholismus weniger schmerzlich, als der auf seine Unfähigkeit. Nach seiner Heilung stand er wieder der Wirklichkeit gegenüber und einer Situation, die nicht weniger schwer und drückend war als die frühere. Sollte er es nun wieder zu nichts bringen, dann hatte er nicht einmal die Ausrede des Alkohols. In dieser seelischen Not tauchen nun wieder Halluzinationen auf. Er hatte sich in seine frühere Situation wieder eingelebt, er betrachtete die Dinge so, als ob er noch immer ein Säufer wäre und sagte damit eigentlich, er habe sein ganzes Leben durch das Trinken geschädigt, es könne nun nicht mehr besser werden. Als Kranker konnte er hoffen, von seinem neuen, wenig geachteten und ihm daher widerwärtigen Beruf befreit, enthoben zu werden, ohne selbst einen Entschluß fassen zu müssen. Und so kam es, daß die obige Erscheinung länger anhielt, bis Abhilfe kam und er wieder ins Krankenhaus ging. Nun konnte er sich tröstend sagen, er hätte viel mehr erreichen können, wenn nicht das Unglück des Trunkes über ihn hereingebrochen wäre. Dadurch konnte er sein Persönlichkeitsgefühl immer noch hochhalten. Dieses nicht sinken zu lassen, die Überzeugung festhalten zu können, daß er zu größeren Leistungen geeignet wäre, wenn ihn dieses Unglück nicht getroffen hätte, war für ihn viel wichtiger als die Arbeit selbst. Damit hatte er die Machtlinie erreicht und konnte feststellen, daß die andern nicht besser seien als er, sondern daß eine Schwierigkeit im Weg war, die sich nicht wegräumen ließ. In dieser Stimmung, bei der er eine tröstende Entschuldigung suchte, erwuchs ihm wie eine Rettung die Erscheinung des grinsenden Mannes.
3. Phantasie
Eine weitere künstlerische Leistung des seelischen Organs ist die Phantasie. Spuren derselben kann man in allen Erscheinungen finden, die bereits behandelt wurden. Es ist ein ähnlicher wie bei jenen Leistungen der Seele, wo bestimmte Erinnerungen in den Vordergrund geschoben oder Vorstellungen aufgebaut werden. Einen wesentlichen Bestandteil bildet auch bei der Phantasie wieder jene Voraussicht, die ein in Bewegung befindlicher Organismus mit Naturnotwendigkeit in sich tragen muß. Auch die Phantasie ist an die Beweglichkeit des Organismus gebunden und ist selbst nichts anderes als eine Form dieses Voraussehens. Wenn man bei Phantasien von Kindern und Erwachsenen — auch Tagträume genannt — Luftschlösser vor sich hat, so handelt es sich immer um Vorstellungen, die die Zukunft betreffen, zu der sich der Mensch hinbewegt und die er, in seiner Weise voraussehend, auszubauen versucht.
Bei der Prüfung von Kinderphantasien erweist sich, daß bei ihnen als wesentlicher Faktor das Spiel der Macht einen weiten Raum einnimmt, daß es immer Ziele des Ehrgeizes sind, die sich wiederspiegeln. Die meisten Phantasien beginnen mit Worten wie: »wenn ich einmal groß sein werde« und ähnlichen. Es gibt auch Erwachsene, die noch immer so leben, als ob sie erst einmal groß sein müßten. Die deutliche Ausprägung der Machtlinie weist wieder darauf hin, daß ein Seelenleben sich nur entwickeln kann, wenn vorher die Zielsetzung erfolgt ist. In der menschlichen Kultur ist dieses Ziel ein Ziel der Geltung. Bei neutralen Zielen bleibt es fast nie, denn das gemeinsame Leben der Menschen ist von einem fortwährenden Sich-Messen begleitet, wobei die Sehnsucht nach Überlegenheit entsteht und das Verlangen, die Konkurrenz siegreich zu bestehen. Es ist daher erklärlich, daß jene Formen der Voraussicht, wie wir sie in den Phantasien der Kinder finden, regelmäßig Machtvorstellungen sind.
Für den Umfang dieser Vorstellungen, für die Größe der Phantasie lassen sich keine Regeln aufstellen oder mit anderen Worten: Man darf auch hier nicht in den Fehler verfallen zu generalisieren. Das oben Gesagte gilt für eine große Anzahl von Fällen, kann sich aber in einzelnen Fällen auch als anders geartet feststellen lassen. Es ist naheliegend, daß jene Kinder ihre Phantasie stärker entwickeln werden, die das Leben mit feindlichen Augen betrachten, mit welcher Einstellung gewöhnlich auch eine stärkere Anspannung der Vorsicht verbunden ist. So haben schwächliche Kinder, denen das Leben so manches Üble bietet, eine verstärkte Phantasie und die Neigung, sich mit Phantasien zu beschäftigen. In weiterer Folge tritt oft ein Entwicklungsstadium ein, in dem die Phantasie zuhilfe genommen wird, um sich aus dem realen Leben herauszuschleichen, also die Phantasie gleichsam für die Verurteilung des realen Lebens benutzt erscheint. Sie ist dann der Machtrausch eines Menschen, der sich über die Niedrigkeit des Lebens erhoben hat.
Nicht nur die Machtlinie allein ist es, die man in den Phantasien feststellen kann, auch das Gemeinschaftsgefühl spielt in ihnen eine große Rolle. Die Kinderphantasien sehen fast nie so aus, daß nur die Macht des Kindes darin zur Geltung kommt, sondern diese Macht erscheint irgendwie als zum Nutzen anderer mitverwendet. Das ist z. B. der Fall bei Phantasien, deren Inhalt darin gipfelt, ein Retter zu sein, ein Helfer, ein Sieger über ein den Menschen schädliches Ungetüm u. dgl. Häufig vorzufinden ist die Phantasie, nicht aus der Familie zu sein, in der man aufwächst. Eine Menge Kinder hält den Gedanken fest, daß sie eigentlich aus einer andern Familie stammen, daß sich eines Tages die Wahrheit zeigen und der wirkliche Vater (immer irgendeine hohe Persönlichkeit) kommen und sie abholen werde. Dies ist meist bei Kindern der Fall, die ein starkes Minderwertigkeitsgefühl haben, die Entbehrungen ausgesetzt sind, Zurücksetzungen zu erdulden haben oder die mit der Zärtlichkeit ihrer Umgebung unzufrieden sind. Oft verraten sich solche Größenideen schon in der äußeren Haltung der Kinder, die so tun, als ob sie schon erwachsen wären. Beinahe krankhafte Ausartungen der Phantasie findet man in der Form, daß z. B. ein Kind eine besondere Vorliebe für steife Hüte oder für Zigarrenspitzen empfindet, oder wenn Mädchen sich vornehmen ein Mann zu werden. Es gibt viele Mädchen, die eine Haltung oder Kleidung vorziehen, die eher für Knaben passen würde.
Es gibt auch Menschen, von denen geklagt wird, sie hätten zu wenig Phantasie. Das ist sicher ein Fehlschluß. Entweder äußern sich solche Kinder nicht oder es liegen andere Gründe vor, aus denen sie sogar dazu gelangen können, einen Kampf gegen das Auftauchen von Phantasien zu führen. Es kann sein, daß ein Kind darin ein Stärkegefühl empfindet. In einem krampfhaften Bestreben, sich der Wirklichkeit anzupassen, erscheint diesen Kindern die Phantasie als unmännlich oder kindisch und wird von ihnen abgelehnt. Es gibt Fälle, bei denen diese Ablehnung zu weit geht und die Phantasie fast vollkommen zu fehlen scheint.
4. Träume (allgemeines)