Название | Gesammelte Werke |
---|---|
Автор произведения | Alfred Adler |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027241484 |
Eine junge, intelligente Frau hatte gegen den Willen ihre Eltern geheiratet. Die Abneigung der Eltern gegen die Ehe Schließung war so groß, daß alle Beziehungen zwischen Eltern und Kind abgebrochen worden waren. Im Laufe der Zei war die Frau zur Überzeugung gelangt, daß ihre Eltern an ihr nicht richtig gehandelt hatten, doch scheiterten mehrfache Versöhnungsversuche an dem Stolz und Trotz beider Teile. Durch die Eheschließung war die Frau, die aus hochangesehener Familie stammt, in ganz ärmliche Verhältnisse gekommen. Man könnte aber bei oberflächlicher Beobachtung von einer Mißheirat nichts merken und über das Schicksal der Frau beruhigt sein, wenn sich nicht seit einiger Zeit ganz eigentümliche Erscheinungen eingestellt hätten.
Sie war als Lieblingskind des Vaters aufgewachsen. Die Beziehungen der beiden waren so innig, daß es auffallen mußte, wieso es zu einem derartigen Bruch kommen konnte. In Angelegenheit ihrer Ehe nun behandelte der Vater das Mädchen außerordentlich schlecht und der Zerfall der beiden war gründlich. Selbst als ein Kind kam, waren die Eltern nicht zu bewegen, sich dasselbe zu besehen oder sich der Tochter wieder zu nähern, und die Frau, von großem Ehrgeiz beseelt, vertrug die Haltung ihrer Eltern deshalb so schlecht, weil es sie schmerzlich berührte, in einer Frage, in der sie sichtlich recht hatte, Unrecht bekommen zu haben.
Man muß sich vor Augen halten, daß die Stimmung der Frau völlig unter dem Einfluß ihres Ehrgeizes stand. Erst dieser Charakterzug erklärt, warum sie das Zerwürfnis mit den Eltern so schlecht vertrug. Ihre Mutter war eine strenge, rechtliche Frau, die sicher wertvolle Qualitäten hatte, aber dem Mädchen gegenüber eine strenge Hand bekundete. Sie verstand es auch, äußerlich wenigstens, sich dem Manne unterzuordnen, ohne dabei ihren Rang einzubüßen. Selbst diese Unterwerfung betonte sie mit einem gewissen Stolz und rühmte sich ihrer. Der Umstand, daß in der Familie auch noch ein Sohn auftauchte, der als männlicher Sproß und künftiger Erbe des angesehenen Namens eine gewisse höhere Wertung gegenüber dem Mädchen erlangte, stachelte den Ehrgeiz der letzteren noch besonders auf. Die Schwierigkeiten und die Notlage, in die das Mädchen, die so etwas bisher nie gekannt hatte, durch die Ehe geraten war, brachten es mit sich, daß sie mit immer steigendem Unmut an das Unrecht der Eltern dachte.
Eines Nachts nun, als sie noch nicht eingeschlafen war, hatte sie folgende Erscheinung: Die Tür ging auf, die Mutter Gottes trat zu ihr und sagte: »Weil ich dich so gern habe, teile ich dir mit, daß du Mitte Dezember sterben wirst; du sollst nicht unvorbereitet sein.«
Die Frau war darüber zwar nicht erschreckt, weckte aber ihren Mann, dem sie alles erzählte. Am nächsten Tag erfuhr es der Arzt. Es war eine Halluzination. Die Frau beharrte darauf, richtig gesehen und gehört zu haben. Das ist auf den ersten Blick unverständlich. Erst wenn wir unseren Schlüssel anwenden, können wir gewisse Aufschlüsse erhalten. Es besteht ein Zerwürfnis mit den Eltern, die Frau befindet sich in Not, sie ist ehrgeizig und hat, wie die Untersuchung ergibt, die Neigung, allen überlegen zu sein. Da ist es verständlich, wenn ein Mensch in seinem Streben, über die ihm gegebene Sphäre hinauszugreifen, sich der Gottheit nähert und mit ihr Zwiesprache hält. Man denke, die Mutter Gottes wäre nur in der Vorstellung geblieben, wie es bei Betenden der Fall ist. Niemand würde daran etwas Besonderes finden. Das genügt ihr daher nicht, sie braucht stärkere Argumente. Wenn wir verstehen, daß die Seele derartiger Kunststücke fähig ist, dann verliert die Angelegenheit alles Rätselhafte. Und ist nicht jeder Mensch, der träumt, in einer ähnlichen Lage? Der Unterschied ist eigentlich nur, daß diese Frau wachend träumen kann. Wir müssen hinzurechnen, daß ihr Ehrgeiz gegenwärtig durch ein Gefühl der Demütigung ganz besonders angespannt ist. Und da fällt uns auf, daß jetzt tatsächlich eine andere Mutter zu ihr kommt, und zwar jene, von der das Volk annimmt, daß sie eine gütigere Mutter sei. Diese Mütter müssen zueinander in einem gewissen Gegensatz stehen. Die Mutter Gottes ist erschienen, weil die eigene Mutter nicht gekommen ist. Die Erscheinung weist auf die mangelnde Liebe der eigenen Mutter hin. Die Frau sucht sichtlich nach einem Ausweg, wie sie ihre Eltern am besten ins Unrecht setzen könnte. Mitte Dezember ist auch nicht eine ganz bedeutungslose Zeit. Es ist die Zeit, wo sich im Leben der Menschen innigere Beziehungen ausgestalten, wo die Menschen meist wärmer werden, sich Geschenke machen u. dgl., wo auch die Möglichkeit von Versöhnungen viel näher rückt, so daß man verstehen kann, daß dieser Zeitpunkt mit einer Lebensfrage der jungen Frau in einem gewissen Zusammenhang steht.
Vorläufig befremdet nur, daß die freundliche Annäherung der Mutter Gottes von einem Mißton begleitet ist, der Verkündung des baldigen Todes. Der Umstand, daß sie ihrem Mann geradezu in freudiger Art diese Mitteilung macht, muß etwas bedeuten. Auch dringt diese Vorhersage nun gar über den Kreis der Familie hinaus und schon am nächsten Tage erfährt davon der Arzt. Nun war es leicht zu erreichen, daß die eigene Mutter zu ihr kam. Einige Tage nachher erschien aber die Mutter Gottes zum zweitenmal und wieder sprach sie dieselben Worte. Auf die Frage, wie die Begegnung mit der Mutter ausgefallen sei, erzählte die junge Frau, ihre Mutter sähe halt doch nicht ein, daß sie Unrecht getan habe. Das alte Leitmotiv taucht also wieder auf. Wieder handelt es sich darum, daß das Ziel der Überlegenheit über die Mutter noch nicht erreicht war. Nun wurde versucht, den Eltern den Sachverhalt klarzumachen, worauf eine Begegnung mit dem Vater zustande kam, die glänzend ausfiel. Es folgte eine rührende Szene. Aber noch immer war die Frau nicht befriedigt, denn sie erzählte, es sei so etwas Theatralisches im Wesen des Vaters gewesen. Und warum habe er sie denn so lange warten lassen! Die Neigung, dem andern Unrecht zu geben und selbst als Sieger dazustehen, bestand eben noch immer.
Nach dem Bisherigen können wir also sagen: Die Halluzination tritt auf in einem Moment der höchsten seelischen Anspannung, in einem Zustand, in dem der Mensch die Abdrängung von seinem Ziel fürchtet. Es ist keine Frage, daß solche Halluzinationen früher und vielleicht auch jetzt in Gegenden, wo eine rückständige Bevölkerung lebe, bedeutenden Einfluß gewinnen können. Gewisse Halluzinationen, aus Schriften von Reisenden bekannt, betreffen Erscheinungen, wie sie Wüstenwanderern begegnen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, unter Hunger, Durst, Müdigkeit, Verirrung leiden. Es ist eine Spannung der höchsten Not, die das Verstellungsvermögen des Leidenden zwingt, sich mit vollendeter Deutlichkeit aus der gegenwärtigen Bedrückung in eine erquickende Situation zu erheben. Letztere muntert den Müden auf, entzündet die Kräfte des Wankenden, macht ihn stärker oder unempfindlicher, oder wirkt wie ein Balsam, wie eine Narkose.
Wir müssen feststellen, daß die Erscheinung der Halluzination für uns eigentlich keinen neuen Vorgang bedeutet, da wir Ähnliches bereits im Wesen der Wahrnehmung, der Erinnerung und der Vorstellung gefunden haben und auch in den Träumen wiederfinden werden. Durch eine Verstärkung in der Vorstellung selbst und durch eine Ausschaltung der Kritik können derartige Leistungen leicht Zustandekommen. Wir wollen festhalten, daß immer Situationen besonderer Art die Auslösung besorgen. Solche Leistungen sind in einem Zustand der Not und unter dem Eindruck einer Machtbedrohung zustandegekommen, bei einem Menschen, der aus einem Gefühl der Schwäche heraus nach Überwindung derselben strebt. Ist die Spannung in einem solchen Zustand außerordentlich groß, dann wird auf die Gabe der Kritik nicht mehr soviel Rücksicht genommen. Dann ist es nach dem Grundsatz: »Hilf dir, wie du kannst« möglich, daß die Leistung die Vorstellung, mit der vollen Kraft des seelischen Organs dargestellt, in die Formen der Halluzination übergeht.
Mit der Halluzination verwandt ist die Illusion, die sich von der ersteren dadurch unterscheidet, daß ein äußerlicher Anknüpfungspunkt besteht, nur in eigenartiger Weise verkannt, wie z. B. in Goethes Erlkönig. Die Grundlage, nämlich der seelische Notstand, bleibt dieselbe.
Ein weiterer Fall soll zeigen, wie die schöpferische Kraft des seelischen Organs in einem Zustand der Not imstande ist, eine Halluzination oder eine Illusion zu erzeugen.
Ein Mann aus angesehener Familie, der es infolge