Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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wohin er geschickt wurde, blindlings gehorchend, mit dem vollen Willen, alles zu tun, was man von ihm verlangen würde, aber ohne zu wissen, was er tun sollte. Zugleich mit ihm verließ Eskowo eine andere freie Seele: Wladimir Wassilitsch.

      Derselbe war viel jünger als Sascha; eine wahre Lichtgestalt, das strahlende Antlitz von langen, hellen Locken umwallt. Mit seinem Feuergeist und seiner ungebändigten Jugendkraft schien er für die Unsterblichkeit geschaffen. Seine Gedanken waren so verwegen und zündend wie Flammen, und er hätte damit am liebsten die Welt in Brand gesetzt. Er war heimlich mit Tania verlobt, das einzige Wesen, welches außer dem russischen Volke für ihn existierte. Mit den herrlichsten Gaben ausgestattet, besaß er ein Genie zum Schwärmer und Fanatiker. Es gab Zeiten, während deren der ganze Mensch eine konzentrierte Idee war: Rußland! Über Sascha herrschte er wie ein Gott, Wera scheute ihn. Sie wußte auch, daß Tania dem Dämon dieses wunderbaren Menschen rettungslos verfallen sei; für ihren Freund hingegen glaubte sie so wenig fürchten zu müssen, wie für sich selbst.

      Nun war Sascha in Moskau. Nur während des ersten Jahres erhielt Wera Briefe von ihm. Sie küßte das Papier mit der unbeholfenen Kinderschrift und bewahrte jedes Schreiben wie ein Heiligtum. Sascha lernte, weiter wußte sie nichts von ihm; es war ihr genug. Dann verstummte er und sie hätte gar nichts mehr von ihm vernommen, wenn nicht Wladimir in seinen Briefen an Tania manchmal des Genossen Erwähnung getan. Doch die Weise, in der das geschah, beunruhigte und demütigte Wera. Sie hörte, daß Sascha noch immer Student war, aber daß das russische Volk nichts von ihm zu hoffen hätte. Also lernte er nicht. Was tat er sonst? Diese angstvolle Frage, auf die sie keine Antwort erhielt, war es, welche sie während der letzten Jahre unaufhörlich beschäftigte und quälte.

      Wladimir schickte Tania allerlei Schriften, die seine Braut »vorbereiten« sollten für ihre »Mission« als das Weib eines Sohnes des »neuen« Rußlands. Dem Mädchen wurde tiefes Geheimnis geboten. Zugleich erhielt sie Befehl, alle Hefte, Zeitungen und Flugblätter Wera mitzuteilen: diese sei eine Seele, welche für das »neue« Rußland gewonnen, welche gleichfalls »vorbereitet« werden müßte. Wahrend Tania das Eintreffen jeder neuen Sendung einen wahren Todesschrecken bereitete, geriet Wera jedesmal in ein Fieber von Aufregung und Erwartung. Die kostbaren Schriften an ihren Herzen verborgen, gingen die beiden Mädchen hinaus auf die Steppe, lasen die Blätter und suchten die wilden, wirren Ergüsse zu begreifen. Beide verstanden nichts und glaubten alles; die eine: weil Wladimir alles verstand und glaubte, die andere: weil alles um der Leiden des russischen Volkes willen erdacht und geschrieben worden war. Tania wollte übrigens gar nichts verstehen, sondern nur glauben; Wera dagegen machte es tief unglücklich, daß sie nichts verstand und nur glaubte. Die Schuld lag natürlich lediglich an ihr und ihrer Unwissenheit. Wie erhaben klangen die Reden an das russische Volk, wie gewaltig tönte die Sprache der Empörung über seine Knechtung, wie machtvoll der Aufruf zur Erhebung und Befreiung. Alle Schuld lag an ihr! Sie fühlte sich unwürdig, teilzunehmen an dem großen Werke, das vor sich gehen sollte. Aber war es nicht Glück genug, daß es überhaupt vor sich ging?

      Allein trotz ihrer glühenden Hoffnung, trotz ihres unerschütterlichen Glaubens konnte sie nicht verhindern, daß allmählich ihre Augen wieder den alten traurigen Blick annahmen; konnte sie nicht verhindern, daß in Eskowo alles beim alten blieb. Sie vermochte nichts dagegen zu tun. War es doch schon eine Tat zu nennen, wenn sie bisweilen ihren Vater einen Tag lang vom Trinken abhielt. Im übrigen flickte sie mühselig die Lappen einiger verwahrloster Kinder zusammen, wusch und kämmte sie und machte ihnen begreiflich, daß in Rußland deshalb so lange Winter sei, weil Rußland – so wenig Sonnenschein habe.

      Der Herr von Eskowo, von dem sie jetzt wußte, daß er ihr Vater war, starb, Anna Pawlowna wurde Herrin, vermählte sich, lebte in Moskau oder Deutschland, oder Frankreich; und – –

      Und Sascha kam noch immer nicht zurück!

      Fünftes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Noch immer sangen sie in der Kirche. Plötzlich ward es still. Wera schreckte auf. Sie mußte sich erst auf sich und ihre Umgebung besinnen. So war sie; anstatt nach der Kohlsuppe zu sehen, saß sie und legte die Hände in den Schoß; anstatt etwas zu tun, träumte sie. So machte sie es immer.

      Hastig steckte sie die geweihten Kerzen an und setzte sie auf den Festtisch. Die Magd kam aus der Kirche zurück. Diese gute Seele hegte gegen die Wirtschaftlichkeit ihrer Herrin starkes Mißtrauen, und die Furcht vor dem Zugrundegehen der Osterleckerbissen beeinträchtigte ihre Andacht dermaßen, daß sie mitten aus dem Gottesdienst fortlief. Bei dem Anblick der eingekochten Suppe und bei angebrannten Gerste stieß sie ein Schmerzensgeheul aus, während Wera wie eine ertappte Verbrecherin daneben stand. Nachdem sich die Magd einigermaßen beruhigt, fiel derselben ein, daß der Krämer von Pokrow ihr in der Kirche einen Brief für ihre Herrin gegeben. Sie zerrte das große Schreiben zerknittert und beschmutzt hervor und begann darauf von neuem zu jammern.

      Wera war beim Anblick des Briefes erblaßt, sie zitterte heftig, vor ihren Augen ward es dunkel. Schwankend trat sie zu dem Heiligenschrein, öffnete den Brief, hielt ihn zu den Kerzen hinauf.

      Sie hatte längst gelesen und stand noch immer regungslos. Sascha kam, am Osterabend wollte er eintreffen: am Osterabend, heute – –

      Sie las wieder und wieder, zuletzt halblaut, um die Osterbotschaft auch zu hören.

      Endlich war es ihr deutlich geworden. Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen, trug ihn in ihre Kammer und verschloß ihn in ihre Truhe. Dann kam sie zurück, besprach in ihrer gewöhnlichen ernsthaften und ruhigen Art mit der Magd einige wirtschaftliche Angelegenheiten, warf ihr Tuch über den Kopf und verließ das Haus.

      Dichter Nebel füllte die Dorfgasse. Um die hell erleuchtete Kirche lagerte ein breiter Streifen rötlichen Dunstes. Wera blickte hinüber. Jetzt feierte auch sie ihr Ostern. Und sie grüßte sich selbst mit dem schönen Ostergrüße: Glückseliges Auferstehen.

      Denn sie wußte es – plötzlich wußte sie es: Nur ihretwillen kam er, um sie zu holen! Und sie würde mit ihm gehen, mit ihm lernen, mit ihm arbeiten, mit ihm etwas nützen, etwas helfen, etwas tun! Bei dem bloßen Gedanken daran war es ihr, als würden ihr Fesseln abgenommen, als strömten glühende Lebensfluten in sie ein, als fielen Hoffnungslosigkeit und Schwäche von ihr ab wie ein Gewand, das sie beiseite warf.

      Sie erreichte die Steppe. Ringsum wälzten sich die Dunstwellen, schlugen über ihr zusammen, verschlangen sie. Ihr aber war, als wandle sie auf blumigen Fluren unter einem strahlenden Sternenhimmel.

      Auf einmal tauchte es dicht vor ihr auf: riesengroß, eine graue, unheimliche Nebelgestalt. Im nächsten Augenblick war sie bei ihm.

      »Sascha! Sascha!«

      »Wera!«

      Sie standen nebeneinander auf der Landstraße, stumm und regungslos. Das Dunstmeer wälzte sich über die beiden Vereinigten.

      Wera drängte ihr Gesicht gegen das des Freundes, um so besser seine Züge zu erspähen. Aber Nacht und Nebel bedeckten Saschas Antlitz wie eine Maske.

      Langsam kam die Kibitka herbei. Das Schnaufen der ermatteten Gäule klang in der Lautlosigkeit der nächtlichen Wildnis schauerlich wie Gestöhn, Unwillkürlich horchten beide darauf. Sie ließen den Schlitten an sich vorüber und standen wiederum lauschend, bis sie nichts mehr vernahmen. Dann tastete Wera nach Saschas Hand, faßte sie, hielt sie.

      »Sechs Jahre warst du fort.«

      »Sechs Jahre.«

      Wera fuhr zusammen. Wie müde seine Stimme klang!

      Sechs Jahre, dachte Sascha verwundert. Er hatte sich die in Moskau verbrachte Zeit noch niemals vorgerechnet. Sechs Jahre, grübelte er und konnte es nicht begreifen. Sechs Jahre – seltsam!

      Und seiner Gewohnheit nach, versank er in diesen ihm vollständig neuen Gedanken, Weras Stimme weckte ihn.

      »Was hast du in den sechs Jahren getan?«

      »Getan?«

      Und