Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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ihr die hübschen Kleider zu schenken!

      Aber Wera wollte sie nicht behalten. Mit zitternden Händen entledigte sie sich des fremden Putzes, schlüpfte in ihre alten Kleider, schlich fort, lief in den Birkenwald, warf sich auf den Boden, weinte und schluchzte. Als sie sich wieder aufrichtete, stand Sascha vor ihr mit so verstörten Mienen, so wildem Blick, daß Wera vor Schreck laut aufschrie.

      Sascha hatte im Dorfe erfahren, daß Wera zur Herrin geholt worden und war ihr gefolgt. Durch das Gesinde hatte er alles, was im Salon geschehen, gehört.

      »Laß uns beide nur erst groß geworden sein,« war alles, was er hervorbringen konnte und mit zitternder Stimme immer von neuem sagte.

      Er war damals siebzehn Jahre alt, ein langer, hagerer, ungelenker Mensch mit den Augen und der Seele eines Kindes, so daß er wirklich erst »groß« werden mußte.

      Dann aber hatte Wera eine innige Freude: ihrem Vater wurde die Knute abgenommen, und der größte Trunkenbold des Dorfes zum Starosten von Eskowo gemacht. Das hatten alle Leute erwartet. Der neue Starost, der seit dem Tode der Herrin sich äußerst ergeben gegen seine Tochter benahm, gewöhnte sich ihr gegenüber mehr und mehr ein demütiges Wesen an, worunter das Mädchen mehr litt, als früher unter den Brutalitäten ihres Väterchens. Übrigens ließ er sich nur dann vor ihr sehen, wenn er noch nüchtern genug war, um auf seinen Füßen zu stehen. So bekam sie ihn denn nicht oft zu erblicken.

      Trotz ihres »unklugen« Benehmens stand Wera bei Anna Pawlowna in hoher Gunst. Diese schickte häufig nach ihr, was Sascha jedesmal außer sich brachte. Seine kleine Freundin konnte ihn dann kaum durch die Versicherung beruhigen, daß man sie gut behandelte, was übrigens wahr war, und daß Boris Alexeiwitsch nie mehr im Salon anwesend sei – was sie um Saschas willen log, und was ihr schwerer fiel, als hätte sie sich für ihn prügeln lassen.

      Sie hatte gebeten, in ihren eigenen Kleidern bleiben zu dürfen, was man ihr, da sie in dem groben Kostüm immer ungemein sauber aussah, gnädig gestattete. Auch quälte die Herrin sie nicht mehr, Tee zu trinken und Honigfrüchte zu essen. Die Frau des Verwalters war wieder ganz Zärtlichkeit und Freundschaft, während die Zwergin sie haßte und die Amme fortfuhr, über die »Ähnlichkeit« laute Seufzer auszustoßen. Madame Henri redete sie zuweilen französisch an und Herr Lehmann hätte ihr für sein Leben gern das Walzen beigebracht, der einzige Liebesdienst, den diese gute Seele der Menschheit zu leisten vermochte.

      Die Reitpeitsche bekam sie nicht wieder zu fühlen, aber so oft Boris Alexeiwitsch das »freche Geschöpf« sah, begannen seine Nasenflügel zu zucken, und seine schönen, müden Augen nahmen einen bösen und grausamen Blick an. Beide schienen sich nicht um einander zu kümmern, und doch wußte jeder, daß der andere sein Feind war.

      So oft Wera sich bei Anna Pawlowna befand, besuchte Paul Gregorowitsch den Salon seiner Tochter, bei der er dann stets eine Zeitlang verweilte und zerstreut über das leibeigene Bauernkind hinwegsah.

      Zuweilen durfte Wera den Lektionen beiwohnen, die der russische Lehrer Anna Pawlowna erteilte: Geschichte, Geographie, Himmelskunde, alles durcheinander. Das Mädchen hatte dann ihren Platz in einem Winkel, wo sie, aus Furcht fortgeschickt zu werden, nicht wagte, sich zu rühren. Hätte sie nur besser verstehen können! Es fiel ihr alles so schwer, jeder Gedanke kostete ihr Mühe. Der Lehrer sagte etwas, das sie nicht begriff, sie sann darüber nach und sie sann noch, wenn die Stunde längst vorbei war.

      Die glückliche Anna Pawlowna! Glücklich, weil sie lernen konnte. Wozu sie übrigens lernte? Sie wußte alles. Wera fing an, sie zu beneiden, ein Gefühl, das sie unsäglich angstvoll und unglücklich machte.

      War Anna Pawlowna bei besonders guter Laune, so befahl sie, daß der Lehrer Wera eine Frage vorlegen sollte. Zitternd vor Erregung, stand diese auf und sagte mit stockendem Atem, aber heiligem Ernst, als ob es sich um Tod und Leben handle, was sie von der Sache wußte. Gewöhnlich lachte Anna Pawlowna hell auf, worauf dann der ganze Hofstaat mitlachte, und gewöhnlich fand der Lehrer im geheimen, daß Weras Antwort durchaus nicht lächerlich sei.

      Jede dieser Stunden bildete in Weras Leben ein Ereignis. Wurde sie einmal nicht durch das Bewußtsein ihrer Unwissenheit beschämt und gänzlich entmutigt, so schwelgte sie in der Empfindung, etwas gelernt zu haben. Mit geröteten Wangen und strahlenden Augen suchte sie sogleich ihren Freund Sascha auf, dem sie von jedem Wort strenge Rechenschaft ablegte. Sie konnte dann ganz beredt sein und von einer Zukunft schwärmen, wo Sascha – an sich dachte sie niemals – lernen würde, viel, viel lernen! Der gute, träge Junge fuhr jedesmal tief aufseufzend mit beiden mächtigen Händen über sein breites Gesicht und durch sein struppiges Haar. Seine Einbildungskraft konnte sich wohl bis zu den unglaublichsten Geschichten, den wunderbarsten Märchen versteigen; aber niemals in eine Region, in welcher der Sohn eines russischen Bauern Geschichte und Geographie lernte. Wera jedoch teilte fortan die Menschen nicht mehr ein in Herren und Leibeigene, in Geschlagene und Schlagende, Betrunkene und Nichtbetrunkene, sondern in Leute, die vieles, und solche, die nichts wußten.

      Als Kind waren ihr von Saschas guter, aber durch Mangel und Fronarbeit halb blödsinniger Mutter einige Gebete gelehrt worden, mit der Weisung, daß man, wenn man dieselben unablässig, recht eifrig hersage, von den guten Heiligen alles, um was man bete, geschenkt erhielt. Also betete die kleine Wera eifrig, daß Saschas Vater aus den Bergwerken zurückkommen, daß keiner mehr betrunken sein möge, keiner mehr geschlagen würde und daß die Kinder von ihren Müttern gewaschen und gekämmt würden. Jeden Abend freute sich das Kind: morgen kommt Saschas lieber Vater zurück, morgen wird die garstige Knute verbrannt und der böse Branntwein in den Fluß geschüttet, morgen sind alle Kinder gewaschen und gekämmt – morgen! Doch keines dieser Wunder wollte sich in Eskowo zutragen, und Saschas Vater starb in den Bergwerken. Da bekamen Weras Augen allmählich jenen schwermütigen Ausdruck, der sich von nun an selten veränderte.

      Gar zu gern hätte sie, nachdem sie das menschliche Spielzeug Anna Pawlownas geworden, morgens und abends eifrig, eifrig gebetet, daß die Heiligen die Leute recht viel lernen lassen möchten; sie war jedoch gegen den guten Willen der Himmlischen etwas mißtrauisch geworden.

      Da geschah in Eskowo das Unerhörte: auch Anna Pawlownas Vater gab seine Bauern frei. Die toten Seelen sollten auferstehen.

      Auf der Dorfstraße umarmte und küßte sich jung und alt. Es war wie zu Ostern. Acht Tage lang war in Eskowo alles betrunken, auch die Frauen – selbst die Kinder. Der Pope und der Starost lagen beide wie im Starrkrampf. Auch in den nächsten Wochen war es kaum besser. Prügeleien kamen jetzt sogar im nüchternen Zustande vor; die Männer prügelten ihre Frauen und umgekehrt; sie waren ja frei! Das währte so eine Zeitlang; dann gab es hundert Werst im Umkreise keinen Branntwein mehr, dann bekam man die Freiheit überdrüssig. Viele begannen zu murren. Noch einige Zeit später und die »freien« Seelen von Eskowo schickten mitten im Winter eine Deputation nach Moskau zu ihrem Herrn: »Das Väterchen möchte doch so gnädig sein, alles beim alten zu lassen.« Niedergeschlagen kehrten die Leute wieder zurück: »Es sollte in Rußland alles neu werden.« Dagegen war nichts zu machen. In Eskowo fing man an, die neue Zeit zu hassen.

      So blieben denn die freien Seelen in Gottes Namen frei, ein Begriff, der ihnen in Gottes Namen dunkel blieb.

      Wera glich einer Verzückten. Sie war neunzehn Jahre alt, groß und schön. Und auch glücklich. Durch die Welt und ihre Seele zog es wie Frühlingshauch, wie der göttliche Odem einer geistigen Auferstehung. Hand in Hand mit Sascha ging sie hinaus auf die Steppe, durch deren Blumenfelder der vom Eise befreite Strom mit ungestümen gelben Fluten dahinbrauste, die Dämme zerbrechend, über seine Ufer tosend, weit ins Land hinein. Zum erstenmal empfand Wera die furchtbare Große einer entfesselten Naturgewalt. Doch sie erschrak nicht davor. Es war eine Kraft, furchtbar und zerstörend, aber doch voll mächtigsten Lebens. Dieselbe Macht hatte auch in den Seelen der Menschen geschlummert: in der Seele des russischen Volles. Und jetzt war sie erwacht.

      Ihr junges, begeistertes Haupt wie eine Seherin erhoben, kündigte sie ihrem Freunde an, daß er fort müsse: nach Moskau und dort lernen, lernen, lernen! Dann zurückkehren und lehren, lehren, lehren! Denn jetzt käme eine neue Zeit, eine Zeit, wo in Rußland den Steinen gepredigt werden müßte: das russische Volk ist frei!

      Als die beiden auf der frühlingsgrünen