Название | Vineta |
---|---|
Автор произведения | Oskar Loerke |
Жанр | Зарубежная классика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная классика |
Год выпуска | 0 |
isbn |
„Da wir im Ansehen sind,“ lachte Dagott, beugte sich steif, die Fersen schließend, und kniff sie dabei in die Nase, „wollen wir schnell mit dir das ganze Haus durchgehen.“ Sie strauchelte nun (halb absichtlich) über mehrere Schwellen wie zum Tode und mußte in unheimlich stille Zimmer sehen. Die ganze Zeit fühlte sie ihre Hand noch gefaßt, die doch längst frei herabhing, und spürte Schnee in die Haare fallen, die sich stellenweise etwas juckend aufzurichten schienen. Auch die Treppe mußte sie hinaufgehen und wurde in einen großen Raum geführt, wo viele alte Waffen an den Wänden auf ihren Schatten schliefen. Dort sollte sie später hausen. O, wie sehr wollte sie dann weinen!
„Aber nun schnell essen!“ mahnte Dagott. Man setzte sich um den Abendbrottisch.
Hermine verwunderte sich über das Würzige und Schmackhafte in den Speisen. Sie wurde aber die Bilder der Schlittenfahrt nicht los. Da keine wirkliche Grundlage sie unterstützte, veränderten sie sich weiter ins Düstere und führten Hermine tiefer in wehes Staunen. Sie sah dabei ihre Nachbarn lange mit verlorenem Blicke der großen dunklen Augen an. Man kam eifrig ins Gespräch und scherzte viel. Sie konnte es nicht begreifen: sie war allein. Aber wenn man sie ansah, verzog sie auch den Mund zum Lachen. Selbst die Mutter war heute so gesprächig; warum nur? In ihr scholl plötzlich im grell leiernden Schulstubenton der Choral: Wenn ich einmal soll scheiden. Die Gesichter und Bewegungen der Anwesenden wurden ihr unverständlich, sie entbehrten jeden Sinnes, wie die großer Gelenkpuppen; das Lachen war das aufgemalte, irrsinnige Puppenlachen. Beschäftigt, etwas auseinanderzusetzen, heftete Dagott den Blick auf sie: nun mußte er doch wahrnehmen, daß sie sich fürchtete? Nein, er sah wieder weg und pfiff gar eine lustige Figur. O! – O! – Sie erhob sich leise und sagte mit so schwärmerischer, weltferner Versunkenheit und vor Tränen blinden Augen: „Mutter, ich möchte schlafen gehen,“ daß alle erschraken. Frau Katharina legte die Hände vor das gesenkte Gesicht, Dagott stand auf und fragte, wie mit dem Besen gescheucht, trocken: „Was ist denn?“ Karp flüsterte in die Lampe: „Das ist nicht Heimweh.“
Die Mutter führte Hermine in die Schlafstube, wo das Kind noch allerhand Haß, Verachtung und Schwermut wie Wackensteine in sich herumwälzte und oft gewaltsam keuchte, ehe sein Atmen friedlich tönend gleich dem letzten Echo erlösender Träume auf- und abstieg.
Die Tür anlehnend, sagte Frau Katharina: „Sie ist ein Maulwurf, der sich schwarze Gänge gräbt, wohl ab und zu ein Stückchen in der Sonne läuft, doch dann wieder ins Dunkle taucht. Ich habe sie drüben nicht ändern können. Hoffentlich ziehen wir drei sie hier für immer ins Licht.“
Sie redeten noch lange über Hermine, und ihre Schatten schlüpften durch die langsam aufknarrende Tür über das Bett der Schlummernden.
Zweites Kapitel
Bald konnte sich Frau Dagott freuen, daß Hermine wirklich ihr düsteres Wesen abzulegen schien. Der Maulwurf fand in Elisabeth Pfeiffer ein Hermelin, mit dem er die ganzen Tage in der Sonne lief. Es begann eine Zeit, in der das ernste, plumpe Kaufmannshaus am Marktplatz und der große Garten dahinter vom heitersten und herzlichsten Kinderlachen widerhallte. Am Morgen, ehe Lehrer Karp in die Schule mußte, und nachmittags, wenn er frei war, kamen die beiden Mädchen in die große Oberstube gestürmt zum Privatunterricht und blieben nach den Stunden zum Geschichtenerzählen zusammen und zum Spiel mit den alten, auf Dagott durch viele Geschlechter vererbten Waffen, die man im Hause nicht schicklicher hatte unterbringen können. Frau Katharina hielt Karp für einen trefflichen Lehrer, weil just die zwei von ihm unterrichteten Mädchen so traulich zusammenhielten und alle ihre Lust beieinander fanden, während wenigstens Hermine sich an eine andere Altersgenossin überhaupt nicht anschloß. Karp mußte darum nun täglich am Mittagsmahle der Dagottschen Familie teilnehmen. – Auch ihrem oft wenngleich gezwungen heiteren Manne wußte sie klüglich ein Stückchen Einfluß zuzuteilen, und sie lebte halbwegs zufrieden, obwohl die Ehe von manchem kleinen Zwiste durchbrochen wurde. Sie hatte eben eine andere Natur als ihr Mann und hoffte eine innigere Vereinigung, wenn das Kind, das sie unter dem Herzen spürte, eine Hand um ihren Hals und eine um den des Vaters legen könnte. Ganz glücklich hatte sie mit ihrem ersten Manne, in dem ihr viel von Hermines Wesen, nur gut verstaut, gelegen zu haben schien, auch nicht gelebt, und der Wunsch, die Tochter ins Mildere zu lenken, war ja erfüllt.
Oder? Manchmal am Abend, wenn der Mond recht groß und klar über zwei Scheiben lag, wagte sie zu zweifeln und zu sorgen, denn aus dem Verkehre mit der Tochter wehte sie leicht eine unerklärliche augenblickliche Kälte an. Hermine schien Scheu zu haben sich hinzugeben.
Wirklich fühlte sich Hermine in ihrem jetzigen Kreise oft abgestoßen. Trotz ihrer Freundschaft mit Elisabeth waren in ihr die leidenschaftlich verworrenen Empfindungen des Einzugsabends nicht untergegangen. Zwar erschien ihr schon am nächsten Tage alles anders, als sie es anfangs gefaßt, aber sie empfand jedesmal einen angenehmen Reiz, wenn sie daran zurück dachte. Sie wußte eine Sage von einer Prinzessin, die alle Mitternacht ihr Kästchen öffnete und kniend die blutroten Steine und die Schierlingssiegel an ihren vielen Ringen herzte. So ging es ihr. Nun wünschte sie zwar keineswegs, wieder etwas zu erleben, das ihr Gemüt ähnlich in Düsternis hüllte: unbewußt beschwor ihre Seele immerfort Schatten, und die Welt, in der sie damals gebangt, umgab sie darum auch jetzt, wenngleich blasser. Sie wehrte leise noch immer alles ab, was sie am ersten Abend abgelehnt hatte, nur daß es damals, je neuer und unerwarteter es sie umringte, um so viel heftiger geschah. Nichts liebte sie, nicht Mutter und Stiefvater, nicht ihren Lehrer, nicht ihre Stadt und deren Bewohnerschaft, nur die einzige Elisabeth.
Elisabeth war sanfter als Hermine und schien bestimmt, nichts als Einflüsse zu empfangen. Ihr Gemüt bewegte sich ätherisch weich, und weil alles, was auf dasselbe wirkte, immer aus einer Tiefe widerstrahlte, machte es den Eindruck der Unergründlichkeit. Ein Himmel, der eine weiße Mittagssonne aufnimmt oder eine rote Abendsonne oder den blauen Mond oder die gelben Flimmerpunkte des Schwans und des Bären und seine Farbe nach ihrer Leuchtkraft wechselt vom Blau der Alpenrose zum Blau des Indigos und zum Schwarzblau der Waldbeeren – ein Gleichnis ihrer Freundschaft.
Wie eine schenkende Stellung zu einem Menschen so kostbar in Hermine zu sein schien, verwahrte sie sich gegen andere durch Verschmähen und heftete ihre Abneigung am festesten