Vineta. Oskar Loerke

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Название Vineta
Автор произведения Oskar Loerke
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
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      Vineta

      Erstes Kapitel

      Als Hermine Johannes gerade am Ostersonntage geboren wurde, vergaß ihr Vater all seinen Ernst und seine Schweigsamkeit, wollte die Sonne wirklich in drei Sprüngen aufgehen gesehen haben und deutete aus der Wichtigkeit des Tages für das Kind alles Glück heraus. Seine gebogene Nase soll nach der Großmutter Behauptung recht anzuschauen gewesen sein wie der Haken eines Ankers, der tief in der Zukunft steckt. Die Mutter zweifelte und sagte ganz leise, daß die bevorzugten Sonntagskinder nur in Märchen zu finden wären. Weil Herr Johannes nun andern Tages krank wurde und bald starb, meinten alte weise Frauen, die von seinem veränderten Wesen bei Hermines Geburt gehört hatten, ihm habe sich der Himmel geöffnet, und dann müsse man dahin.

      Aber die Mutter blieb bei ihrem Sinn und stimmte gleich und willig zu, als man sie nach Jahren darauf aufmerksam machen wollte, daß die Augen ihres Kindes trauriger seien als die eines sterbenden Rehes: „So lange sie lebt, war oft Regenwetter; sie hat die Welt zu selten froh und glänzend gesehen.“ Hinter diesen scherzenden Worten prüfte sie sich streng, ob ihr stilles Herz wohl die Ursache der Traurigkeit sein möchte, achtete seitdem eine Zeitlang sorgfältig auf alle frohen Stunden Hermines und atmete jedesmal erleichtert auf, wenn eine kam. Watete Hermine mit ihrem älteren Spielgefährten und Getreuen Edwin Maßholder im Wasser nach Kaulquappen oder stürmte mit ihm die Dorfstraße nach Maikäfern hinab, ja dann waren ihre Augen klarer als die dort hinten in der Sonne gleißenden Scheiben. Und ein Tag kam, da strahlten sie vollends wie ein Wunder. Eine Komödiantentruppe mit allerhand fremden Tieren zog vorüber. Der Tanzzottelbär und besonders der Drehorgel spielende Elefant gefielen Hermine so sehr, daß sie mit Edwin den Ausländern bis Abend Gefolgschaft leistete und Frau Katharina, besorgt um die Tochter, ihre Milch über den Rand der Schüsseln goß. Schließlich hüpften die beiden kleinen Vagabunden Hand in Hand durch die Tür. Da betrachtete Frau Johannes Hermine und sagte: „Du hast doch Augen wie – wie ein —“  „wie ein Sonntagskind,“ ergänzte Edwin altklug. Frau Katharina lachte laut mit den Kindern, und ein abendlicher Lichtstrom verklärte die blanken Zahngatter der fröhlichen drei, denn eben lugte die Sonne, die schon tief im Storchneste des Scheunendaches saß, durch blaue Wolkenschleier. „Sie scheint dich wirklich als Patenkind anzuerkennen,“ nickte Frau Johannes freundlich nach dem roten Viertelkreis hinüber. – Gleichwohl war Hermine fast alle Tage ihr Sorgenkind, und wenn sie solcher kleinen Zufälle einmal gedachte, senkte sich ihr Bitternis in die Seele, weil sie in ihnen einen Hohn des Schicksals erblickte. Ihr Kind erschien unter der Dorfjugend durch manche Seltsamkeiten wie ein weißer Rabe unter lauter schwarzen. Bei einem Gewitter schweifte Hermine herum, während die Mutter sich ängstigte, stieg bei Nachbaren in die Krone eines hohen Birnbaumes und konnte nicht widerstehen, in Regen und Donner ein süßes Mahl zu halten. Noch ehe das Wetter vorüber war, holte sie bleich vor Schrecken ihre Geburtstagspfennige, in der Absicht, die gestohlenen Früchte zu bezahlen. Zwar hätte sie sich entsetzlich gefürchtet, aber die tags zuvor in der Schule gelernte Geschichte von der Sintflut erproben wollen. Ein andermal beunruhigte sie nachts die Mutter dadurch, daß sie schlaflos ihr Deckbett wieder und wieder wendete, seufzte, stöhnte und sich gebärdete wie eine Kranke. Sie hatte von dem Volksaberglauben gehört, man könne um Mitternacht in den Augen eines einsam heulenden Hofhundes, wenn man ihm die Ohren rückwärts zerre, vorüberschwirrende Geister gespiegelt erblicken, und sie schwankte, ob sie einen Versuch wagen sollte.

      Durch solcherlei Eigenheiten ihrer Natur wurde sie die wahre Ursache der zweiten Heirat ihrer Mutter. Diese lernte einen entfernten Verwandten der befreundeten Familie Maßholder kennen, des Nachbarstädtchens reichsten Kaufmann Dagott. Breit und groß, ungeschlacht und übertrieben langsam in seinen Bewegungen, in seinen Worten von einer gewissen singenden Gutmütigkeit und Weitschweifigkeit, mißfiel er ihr, die in alledem eher das Gegenteil darstellte. Weil er ihr aber freundlich und in Kleinigkeiten mit rührender Gemütlichkeit den Hof machte, ließ sie die Erwägung, ihrer doch schon dreizehnjährigen Tochter die Möglichkeit einer besseren, sichereren Erziehung, den Eintritt in einen weiteren, lichteren Kreis zu öffnen, den Ausschlag geben und beschloß ihn zu ehelichen. Sie machte sich den Gedanken der Übersiedelung in die bequemere Stadt vertraut und lieb und wäre schließlich nur ungern in der Einsamkeit geblieben. Trotzdem zwang ihre ehrliche Natur sie, Dagott vorher zu gestehen, warum hauptsächlich sie die Ehe einzugehen bereit sein würde. Als nun Dagott mit täppischer Liebenswürdigkeit, mit Hand- und Stirnküssen sich unermüdlich um Hermine drehte und bei dieser zu der Mutter Ärger von Anfang an auf ein kalt verwundertes, abweisendes Benehmen stieß, gewann ihn Frau Katharina aus Mitleid darüber und befreit durch ihr Geständnis wirklich lieb und schloß bald den Bund.

      An einem Wintertage wurde ihre ganze Habe aus dem Dörfchen gefahren, und nicht lange vor der Dämmerung erschien Dagott im stattlichen Schlitten, sie selbst samt Hermine in die neue Heimstatt zu holen. Während er im Pelz in ihrer leeren Stube stand, zweifelte sie doch wieder, ob er ihr zum Gemahl tauge und Hermine zum Stiefvater. Die Bequemlichkeit ihrer Wohnung war verschwunden, und lenkte bisher mancher Gegenstand mit Erinnerungen an vergangene schöne Tage oder angenehme Gewohnheiten ab, so versammelten sich jetzt alle Gedanken auf Dagott. Er lächelte immer wieder kopfnickend Hermine an.

      Seine Augen, klein, rund und wässerig hell, schielten ein wenig und schienen nicht in die Weite dringen zu können. Sie sahen vielmehr aus, als hielte ein blanker Knopf an der Uniform eines Hampelmannes, welcher zwei Schritte vor ihnen schwebte, sie immerwährend drollig gebannt. In Abständen flackerte in ihnen etwas Geheimnisvolles auf, das dann die niedrige Stirn in sanfte Falten zog, vor der weitgespannten, seltsam platten Wölbung des kahlen Schädels und ihrer dumpfen Reglosigkeit Halt machend. Das graue, sauber beschnittene Bartgekräusel an den Wangen, schräg bis über das Kinn gestreckt, doch dieses selbst freilassend, gab dem Gesicht etwas Dreieckiges, und all sein freudiger Ausdruck schien naiv durch einen Moosrahmen zu gucken.

      Hermine wollte gar nicht Vater zu diesem Manne sagen und begriff nicht, wie ihre Mutter, die solche zierliche Gestalt, solch schmales Köpfchen voll schönem Braunhaar, solch kleines Kinn besaß, an seinem Arm zum Schlitten schreiten konnte. Sie mußte erst dreimal angerufen werden, ehe sie auch auf dem Polster Platz nahm. Ein großer buntgestreifter Ball, den sie noch im Händchen hielt, fiel beim Anziehen der Pferde herunter und blieb einsam auf dem Hofe liegen. Dagott war schuld daran, daß er fiel; warum peitschte er! Ein Haßgefühl fuhr in ihr hoch wie zischender Wasserdampf.

      Dann pfiff der Wind von der Seite und schlug mit lahmen unsichtbaren Flügeln ins Gesicht, und dazu schallten die Messingglocken auf den Pferderücken, gleichmäßig, ununterbrochen, einlullend.

      Hermine gähnte und schloß ihre Augen. Sie fühlte sich zwar müde, weil in der vorigen Nacht der Hauskater nicht ruhig auf ihrem Kopfkissen liegen wollte, schlief aber nicht. Dazu war es zu kühl, und außerdem wollte sie hören, was die beiden großen Leute, zwischen denen sie saß, erzählen würden. Aber sie mußte lange warten, wurde verdrießlich und dichtete vor Langeweile Dagott so viele Narrheiten an, daß sie die Nase rümpfte und ihn mit der Zunge anzublecken Lust verspürte. Oberhalb der Handschuhe wurden ihre Gelenke von den weichen Haaren der Schlittendecke berührt, und bei jeder Schwankung des Gefährtes fuhr ihr Kopf entweder nach rechts gegen den Pelzkragen der Mutter oder nach links gegen den des neuen Vaters, den ihre Schläfe noch gerade erreichte. Auch wenn sie die Füße vorstreckte, fühlte es sich weich an. Weil der Wind manchmal schneidend dahergefahren kam, ärgerte sie jedesmal die seidige Berührung, die dazu nicht passen wollte: prallte sie gegen Dagott, grollte sie ihm, weil sie neben ihm sitzen und hinausjagen mußte, schwankte sie gegen die Mutter, zürnte sie dieser, daß sie mit Dagott fuhr. Dabei schied sie nicht ungern von ihrem Heimatdörfchen. Was sie dort besessen, vermißte sie vor Erwartung des zukünftigen Neuen noch nicht. Nur konnte diese Erwartung sich nicht freudig in ihr ausbreiten, und als Dagott zu erzählen begann, wie sich das Leben drinnen in der Stadt gestalten würde, horchte sie zwar auf, ließ jedoch die Augen mit einem Reste von Gleichgiltigkeit geschlossen und kniff sie bisweilen unter leiser Schmerzempfindung fester zu. Den warmen Ofen, der jetzt nach der Fahrt die Stube behaglich machen würde, konnte sie sich nicht anders als plump, aus stumpfbraunen Kacheln gesetzt, mehr breit als hoch und angefüllt mit einem Berge dicker, stinkender und qualmender Kohlenblöcke vorstellen, – weil dieser Mann davon erzählte. Als er schwieg, öffnete sie einen Augenblick die Wimpern. Doch Dagott redete weiter von dem jungen Lehrer Karp, der ihnen ein Abendbrot warmhalten würde, da die Aufwärterin schon