Wahre Geschichten eines Abends. Marina Linnik

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Название Wahre Geschichten eines Abends
Автор произведения Marina Linnik
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 2016
isbn 978-5-906857-05-7



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Wie wäre es dann mit dem Sektglas und dem Teller?

      – Ach mein Schätzchen, – sprach ihr Onkel aus und schmatzte dabei wie immer mit seinen Lippen, – das ist doch so eine Kleinigkeit. Sie hätten sich schließlich in der Hektik zerbrechen können. Niemand wird je etwas davon hören.

      – Da irren Sie sich, mein Herr, – antwortete Graf Lunin behaglich und sah die Gräfin schelmisch an. – Das Sektglas war ganz unbeschädigt, und ich bin es sicher, dass der Esstisch des Zaren bis heutzutage damit verziert ist.

      – Aber wie? Woher? – kamen von allen Seiten überraschte Ausrufe. – Wurde auch er denn gefunden?

      – Ganz genau, – bekräftete Iwan Dmitrijewitsch unerschütterlich. – Umso mehr, dass jenes Sektglas von keinem geringen Kerl geklaut worden war, wie es Sie und Fürst Wolkonski vermuteten. Es wurde von einem Soldaten der Garde gestohlen, der davon sein Schäfchen scheren sowie seine Kartenschulden begleichen wollte. Das kam nach einigen Tagen zum Vorschein, als jene rohen und analphabetischen Kerle, von denen sie sprechen, den Soldaten ins Polizeirevier angeschleppt brachten, den sie selber zuvor geschlagen hatten.

      – Wie wurde dann festgestellt, dass eben der Soldat das Sektglas bewahrt hatte?

      – Da der Gardist den Wein in der Kneipe nicht bezahlen konnte, versuchte er eben dort das Sektglas zu verschleudern. Aber niemand wagte, ein Glas mit dem Namenszug des Zaren zu kaufen. «Du hast wohl das Ding von der Brandstätte hingeschleppt, du armer Sünder. Wie hat sich deine schamlose Schnauze so was getraut?» Die Kerle machten sich mit ihm keine Umstände, verabreichten ihm eine schöne Tracht Prügel und schleppten ihn ins Polizeirevier.

      – Nie würde ich ahnen, dass den geringen Leuten so eine Eigenschaft wie Edelmut eigen ist, – sagte die Gräfin und zuckte dabei ihre tadellosen Schultern.

      – Edle Gesinnung ist wahrscheinlich nicht die Eigenschaft, die die Menschen anregte, Opfer auf sich zu nehmen, – mischte sich Graf Akussin ins Gespräch ein. – Ich vermute (und muss dabei gestehen, dass ich hier dem Fürsten zustimme), es geht hier eben um die Unbegreiflichkeit des russischen Charakters und der russischen Seele, um das russische Mitleid, das man zu denen Menschen zu empfinden weiß, die in Not geraten sind. Was immer man sagt, wir wandeln alle unter Gott…

      – Und was wäre mit dem Teller? Wurde er also gestohlen und nie wieder gefunden? – Das junge Wesen lebte auf. Alle wendeten sich zum Grafen und sahen ihn fraglich an.

      – Doch. Der Teller wurde gefunden, und zwar dort, wo niemand danach gesucht hatte…

      – Lieber Iwan Dmitrijewitsch, hören Sie bitte auf, uns mit Ihren endlosen Rätseln zu quälen, – flehte ihn Natalja Andrejewna an.

      – Noch einige Monate lag er allen vor der Nase, – schloß Graf Lunin seine Erzählung und ließ seinen schelmischen Blick über die Gäste gleiten. – auf dem Palastplatz, mit Schnee bedeckt…

      Das Gespenst des Hauses

      – Die Geschichte ist bewundernswert und ungewöhnlich, – zuckte Fürst Besborodski die Schultern. – Hätte ich sie nicht von ihrem unmittelbaren Teilnehmer gehört, würde ich an ihre Wahrhaftigkeit nie glauben.

      – Bedauerlicherweise wird man nur selten Zeuge des edlen Handelns, – machte Graf Orlow-Denissow eine Bemerkung. Er hatte sein Kartenspiel schon aufgegeben, sich mit Ermüdung rechtfertigend (die er sofort empfand, nachdem er eine ganz große Geldsumme verloren hatte), und schloß sich nun den Gästen an. – Die fremde Seele ist ein Finsternis, gnädiger Herr. Nur unser Schöpfer kann herausbekommen, was sich hinter einer reizenden Verhüllung verbirgt.

      – Sie haben absolut recht, Graf, – wurde er vom Fürsten Besborodski unterstützt. – Es ist kein seltener Fall, wenn ein Mensch, der ein anziehendes Äußeres besitzt, außergewöhnlich intelligent und überdurchschnittlich begabt ist, hält von allen sein echtes Antlitz geheim, etabliert sich als anständigen Menschen und begeht dabei ein Verbrechen oder eine andere unsittliche Tat.

      – C’est horrible[18], – sagte Natalja Andrejewna traurig. – Gibt es etwa auch unter den Menschen von unserem Kreis solche… personnes? Mon Dieu! Wie kannst du so eine Abscheulichkeit zulassen?

      – Das gibt es aber nicht! – Gräfin Akussina schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. – Edle, gut gebildete Menschen, die un bon revenue[19] haben, werden ein Verbrechen nie wagen. Pourquoi?[20] Sie haben denn sowieso alles!

      – Sie sind zu jung, gnädige Dame, – erwiderte der Fürst liebenswürdig, – und Sie sehen alles rosarot. Leider ist die Welt kompliziert und manchmal sind wir es nicht bewusst, wie mangelhaft sie ist… Haben Sie eben gesagt, dass es einem reichen Menschen nicht nutzt, ein Verbrechen zu begehen, weil er alles hat, was sein Herz begehrt?

      – Sicherlich, – rief die Gräfin aus, ohne an ihrer Selbstgerechtigkeit zu zweifeln. – Meinen Sie denn nicht so, Fürst?

      – Kann sein, – antwortete Nikifor Andrejewitsch ausweichend. – Aber die Tatsachen beweisen das Gegenteil.

      – Die Tatsachen? – fragte Graf Lunin nach. – Würden Sie so freundlich sein und uns diese Geschichte erzählen, gnädiger Herr?

      – O ja, – sprach ihm Natalja Andrejewna nach und faltete anflehend ihre zierlichen kleinen Hände zusammen.

      – Wir alle bitten Sie darum, Fürst, – stand seiner Frau Nikolaj Wassiljewitsch bei, der sich neben sie setzte und einen vernichtenden Blick auf Grafen Lunin warf.

      – Wenn das Ihnen Vergnügen bereitet, Herrschaften, – sagte der Fürst trocken. – Aber ich will Sie gleich warnen: Das ist eine Gruselgeschichte, die kein so glückliches Ende wie die Erzählung Grafen Lunins hat. Au moins[21] keines, von dem ich wüsste.

      Den Menschen, die im Salon saßen, lief es eiskalt den Rücken hinunter. Viele wollten schon das Vorhaben aufgeben, aber die Neugierde erlangte die Oberhand über die Angst und erwartende Blicke wurden auf den großen stattlichen Fürsten gerichtet.

      – Ihnen allen ist meine Leidenschaft zu alten Büchern bekannt. Ohne Zweifel wissen Sie auch von meinem langgehegten Traum, die Bibliothek von Iwan dem Schrecklichen zu finden, die sich immer noch in Moskau befindet, so die Legende. Um dieses Ziel zu erreichen, gebe ich solide Geldmittel aus, doch meine Suche ist vom Erfolg immer noch nicht gekrönt.

      – Gut, dass Sie mich daran erinnert haben, Nikifor Andrejewitsch, – unterbrach Graf Akussin den Fürsten. – Ganz neulich stieß ich dienstmäßig auf ein höchst bemerkenswertes Dokument. Ohne Zweifel wäre es für Sie vom Interesse. Das Dokument ist alt und hat meiner Meinung nach mit Ihrer Suche zu tun.

      Die Augen des Fürstens erglänzten fieberhaft. Eine starke Aufregung packte ihn. Nun ähnelte er kaum jenem phlegmatischen Menschen, der selten am gemeinsamen Gespräch teilnahm (und auch wenn er daran teilnahm, tat er das, um sein Skeptizismus über zu beschreibende Ereignisse zu äußern), den man im Natalja Andrejewnas Salon kannte. Man respektierte seine alten Meriten vor dem Vaterland, bespottete aber seine Überheblichkeit hinter dem Rücken.

      – Sie lassen das Herz des alten Soldaten klopfen, als sei das Vorabend einer entscheidenden Schlacht. Wie? Wo?

      – Ein wenig später, gnädiger Herr, denn wir sind schon auf Ihre Gruselgeschichte gespannt, – protestierten die Gäste, die genauso hasardvoll auf die Erzählung des Fürsten warteten.

      Nikifor Andrejewitsch blickte alle aufgeregt an, aber da er keine Unterstützung fand, musste er aufgeben.

      – Bien, – ließ der Fürst seinen Kopf hängen. – Wie kann ich unseren schönen Damen Nein sagen… Wie ich schon erwähnt habe, scheue ich weder Zeit noch Geld, um meinen Traum in Erfüllung zu bringen. Als ich aus meinem Dienst ausschied, wurde dieser Traum der Sinn meines Lebens. Deswegen besuche ich



<p>18</p>

C’est horrible (fr.) – Das ist unheimlich

<p>19</p>

un bon revenue (fr.) – gutes Einkommen

<p>20</p>

Pourquoi? (fr.) – Wieso?

<p>21</p>

Au moins (fr.) – allerdings