Wahre Geschichten eines Abends. Marina Linnik

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Название Wahre Geschichten eines Abends
Автор произведения Marina Linnik
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 2016
isbn 978-5-906857-05-7



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ohne Rast und Ruh, indem sie die Säle mit Wasser ausgiebig besprühten. Doch die Flamme gab nicht nach – im Gegenteil, rückte sie noch wütender an. Der Winterpalast war zum Zerstören verurteilt. Allerdings ließ der Imperator seinen Geist nicht sinken und gab weitere Befehle den Feuerwehrdiensten und den Soldaten, die zum Palast eben gekommen waren. Inzwischen war das Feuer an den hölzernen Haltungssäulen der Petersaalnische und begann, das Dachbodengebälk anzugreifen. Es brannten die hölzernen Lüster, von allen Seiten fielen abgebrannte Balken und Balustradenteile. Jemand schrie, dass das Feuer bis in die Palastkirche gedrungen war. Ohne eine einzige Sekunde zu zögern, ließ der Imperator dorthin eine Gruppe vom Preobrashenski-Regiment schicken. Späterhin feierte er mehrmals den Mut der einfachen Soldaten, denn sie hatten es geschafft, fast alle Devotionalien und die heiligen Gebeine zu retten. Doch diese Verwegenheit kostete manchen das Leben…

      – Soweit ich weiß, gab es damals nach offiziellen Angaben keine Opfer, Graf, – Iwan Dmitrijewitsch wurde vom Fürsten Besborodki unterbrochen.

      – Nach dem Brand untersuchte ich selber jede Ecke des Palastes und sah recht viele Leichen erstickter, abgebrannter und entstellter Menschen.

      – Aber… – der Fürst versuchte wiederholt ihm zu erwidern.

      – Bezweifeln Sie meine Worte? – fragte Graf Lunin und sah den Fürsten auffordernd an.

      – Herrschaften, – griff Natalja Andrejewna in den aufbrechenden Konflikt ein. – Iwan Dmitrijewitsch ist keiner jener Menschentype, mein lieber Fürst, die ihre Geschichten ausschmücken, um die Zuhörer zu faszinieren. Wozu bräuchte er so etwas? D’accord?[14] – Die Gräfin bescherte Grafen, der seine Brauen runzelte, ein versöhnendes Lächeln und bat ihn, weiter zu erzählen.

      – Ich habe schon davon erwähnt, dass das Feuer peu-a-peu neue Grenzen überwand. Der Brandgeruch und der schwarze Rauch füllten fast den ganzen Palast. Die Menschen erstickten. Der Husten würgte sie, der beißende Rauch reizte ihre Augen. Da ließ der Imperator die Fenster zerbrechen, damit der Brandgeruch verfliegen könnte. Aber, – da hielt der Graf eine Pause und setzte tief seufzend seine Erzählung fort, – das machte die Sache noch schlimmer. Der Rauch ging wirklich nach außen, und für eine Weile spürten alle eine Erleichterung, doch in demselben Augenblick flammte das Feuer mit fassungsloser Wut auf. Die frischen Luftströme brachten den Menschen Erleichterung und verliehen noch mehr Kraft dem Feuermolch, das über den ganzen Palast unglaublich schnell kroch. Es brannte ein Saal nach dem anderen…, abgebrannte Balken, Geländerdocken und dann die Wände stürzten mit Krach ab, wobei sie donnerten und um sich herum Funken ausspritzten. Dem Imperator wurde gemeldet, dass das Feuer nicht nur seinem Gemach, sondern auch der Hermitage immer näher zukam und drohte jeden Augenblick, sich darauf zu übertragen. Sobald der Imperator anordnete, das Dach abzumontieren, eilte er ins Gemach. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Die Flamme kam mittlerweile der Neva Enfilade zu, wobei sie auf ihrem Wege den gewachsten Parkettboden, die formidablen Schnittarbeiten und malerische Plafonds vernichtete. Das Feuer schonte niemand und nichts. Hin und wieder liefen wir gegen Menschen an, die sich aus Leibeskräften bemühten, die kostbaren Schätze zu retten… Neben der Schlafzimmertür sah der Imperator zwei Soldaten. Sie husteten sich die Seele aus dem Leib wegen des beißenden Rauchs, bemühten sich aber redlich, einen riesigen Spiegel in einer unglaublich schönen Fassung von der Wand abzureißen. «Weg von hier!» – brüllte der Imperator. – «Lasst den verdammten Spiegel! Was nutzt er nun?… Weg von hier! Wie dumm seid ihr! Ihr werdet alle damit brennen!» Als ich sah, dass die

      Soldaten ihn nicht hören oder den Sinn seiner Worte nicht kapieren, lief ich ihnen zu und wiederholte den Befehl des Imperators. Aber sie zogen den Spiegel weiter wie verrückt und sagten dazu: «Macht nischt, hochwürdiger Herr, macht nischt… Mit etwas Glück und Gottes Hilfe werden wir nicht ersticken… werden wir mal schaffen… Guck mal wie fest das Ding hängt… sei unsereinem nicht bös…» Inzwischen packte die Flamme das Zimmer und durchhellte das blasse Gesicht des Imperators. Als er begriff, dass er die Muschkoten nicht überreden kann, holte er zu einem Streich aus und warf das Theater-Fernglas, das er unbewusst in der Hand hielt, gewaltig in den unheilbringenden Spiegel. «weg von hier!» – schrie er mit Berserkerwut zwei Soldaten an, die vor Überraschung gelähmt da standen. Ohne sie wieder anzusehen, verschwand er im Schlafzimmer seiner Ehefrau; ich schickte die verwirrten Muschkoten weg und folgte ihm eilig. Als ich das Gemach der Imperatorin betrat, geriet dessen ferne Ecke schon in Brand. Aber nicht das fiel mir allererst auf. Für eine Weile wurde ich vor Überraschung fassungslos…

      – Wodurch wurden Sie denn so erstaunt, Graf? – stotterte das junge Wesen, das von der ganzen Geschichte gepackt war, mit aufgeregter Stimme, – Оh, wie gerne würde ich auf das Schlafgemach der Imperatorin einen Blick werfen. Sie hatte bestimmt einen vortrefflichen Geschmack! C'est vrai?[15]

      Iwan Dmitrijewitsch fiel nicht gleich ein, wie er diese Frage beantworten sollte. Die Leichtsinnigkeit der jungen Gräfin entmutigte ihn ein wenig. Die peinliche Stille wurde zu lang. Graf Akussin sah seine Ehefrau, in deren Wangen die Röte sofort stieg, vorwurfsvoll an. Die Gräfin senkte ihren Kopf vor Befangenheit und begann, sich nervös umzuwehen.

      – Leider kann ich ihre Neugierde nicht stillen, Gräfin, – fuhr Graf Lunin nach einer Minutenpause fort. Nicht weil ich unaufmerksam bin. Ganz im Gegenteil: Ich kann immer bis ins kleinste Detail eine Stelle schildern. Aber in dem Augenblick fiel mir nicht die Schönheit des Schlafgemaches, deren ich wegen des dicken Rauchs sowieso nicht gerecht werden könnte, sondern das verärgerte…besser gesagt, das zornige Gesicht des Imperators auf. Er stand in der Mitte des Zimmers und hielt den Schrein seiner Ehegattin in den Händen. Er wusste, wie lieb sie die Schmuckstücke hatte, und wollte wenigstens die retten. Aber… der Schrein war leer.

      – Sehen Sie wohl! – rief Natalja Andrejewna und sah die Gäste triumphierend an. – Was habe ich Ihnen gesagt? Wie immer habe ich recht. Der Rotüre kann man nicht vertrauen. Jamais![16]

      – Verzeihen Sie mir meine Frechheit, Gräfin, aber bei Ihrem Verlaub stimme ich Ihnen nicht zu, – erwiderte Graf Lunin mit sanfter Stimme.

      – Aber lieber Iwan Dmitrijewitsch, Sie haben selbst meine Worte eben bewiesen! – protestierte Natalja Andrejewna empört. Der Ausdruck äußersten Missbehagens erschien auf ihrem hübschen Gesicht.

      – Ich sagte nur, dass es sich erwies, dass der Schrein mit den Schmuckstücken Ihrer Majestät leer war.

      Die Gäste wurden laut.

      – Gnädige Herrschaften, lassen wir Iwan Dmitrijewitsch vielleicht selbst seine Erzählung schließen? – schlug Graf Akussin vor. Die Zuhörer nickten bejahend mit den Köpfen.

      – Bien… Der Imperator stand also in der Mitte des Zimmers und schwieg. Ich kam ihm zu, beugte mich leichthin und sagte ihm: «Ihre Imperatorische Majestät, das Feuer kann uns in jedem Augenblick den Weg zum Ausgang abschneiden. Ich bitte Sie… Wir müssen uns beeilen!» Aber er schien mir nicht zuzuhören. «Was für ein bitteres Gefühl ist es, das zu ahnen, Graf… Es ist mir wegen Russland so bange… Wenn jemand Fremder das gestohlen hätte… doch… Sogar die Treusten stehlen!»…

      In demselben Moment gerieten die Portieren des Schlafgemaches in Brand. Ohne eine einzige Sekunde zu zögern (ich muss gestehen, das war meinerseits ziemlich frech), nahm ich den Imperator, der immer noch nachdenklich da stand, an den Ellbogen und holte ihn aus dem Zimmer… Als einige Feuerwachen unserer Stadt kamen, stand der Palast größtenteils in Flammen. Das Feuer drang unaufhaltsam von Saal zu Saal, indem er die Räume schaurig rot ausleuchtete. Durch Brandgeruch und Rauch drängten wir zum Ausgang vor. Von allen Seiten war das Getöse abstürzender vergoldeter Lüster, die wegen des frechen Feuers schwarz wurden und wegen der Glut nun sich in Teile zerschlugen… Als es klar wurde, dass der Palast nicht zu retten ist, fasste der Imperator einen wichtigen Entschluss: «Holen Sie die Soldaten zurück und lassen Sie sie mindestens die Hermitage retten!». «Zu Befehl, Ihre Majestät,» – meldete ich und richtete unverzögert die Anordnung dem Leiter des höfischen Feuerwehrdienstes aus. In demselben Augenblick schloß uns Fürst Wolkonski an. Nun ähnelte sich dieser gestrobelte



<p>14</p>

D’accord? (fr.) – Sind Sie mit mir einverstanden?

<p>15</p>

C’est vrai? (fr.) – Nicht wahr?

<p>16</p>

Jamais (fr.) – Nie