Lipstick Traces. Greil Marcus

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Название Lipstick Traces
Автор произведения Greil Marcus
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955756208



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oder »Ich geb’s auf«, oder »Na, scheiß drauf«, bevor sie sich für den Abend dem Farbfernseher widmeten, oder einem ausgiebigen Essen, oder einem Ausflug in die Kneipe oder einem Abend des Gesangvereins. Überall im Land machten Menschen andere Menschen für das verantwortlich, was schiefging … die Gewerkschaften, die jetzige Regierung, die Bergarbeiter, die Automobilarbeiter, die Seeleute, die Araber, die Iren, ihre Ehemänner, ihre Ehefrauen, ihren eigenen faulen nutzlosen Nachwuchs, die Gesamtschulpädagogik. Niemand wusste, wer wirklich schuld war, doch den meisten gelang es, sich ziemlich heftig über irgendwen zu beklagen; nur wenige versanken vor Fassungslosigkeit in redliches Schweigen. Die seit zwanzig Jahren über die minimale Erhöhung der Lebenshaltungskosten gemeckert hatten, besaßen natürlich nicht die Würde, zu wünschen, sie hätten noch genug Puste, um in den heißen Brei zu pusten, denn ein Meckerer ist und bleibt nun mal ein Meckerer, und denen, die am meisten gemeckert hatten, als es nichts zu meckern gab, ging es jetzt ganz großartig.

       MAINSTREAM ROCK ’N’ ROLL,

      inzwischen (1975) von der weißen Mittelklasse dominiert, spielte unverdrossen zu Rhythmen, die fast vollständig deckungsgleich waren. »Abenteuer« und »Risiko« waren Parolen, schließlich leere Phrasen der sechziger Jahre geworden, eine Zeit, die selbst zur Phrase geworden war, »die Sixties«. Jetzt schmiedete man aus den mit den Kämpfen und Experimenten jener Zeit verbundenen Toten, Zusammenbrüchen und Ausgebrannten die scheinheilige Parole der siebziger Jahre: »Überleben«.

      So seltsam das Wort auch klingt, wenn es um die Chancen relativ junger weißer Bürgerkinder geht – denn fast ausschließlich auf solche wurde das Wort angewandt –, es stellte sich doch heraus, dass man ihm unmöglich widerstehen konnte. Dank des Zaubers der gewöhnlichen Sprache tilgten »Überleben« und sein Zwilling »Überlebender« die Sixties als Fehler aus dem Geschichtsbuch und verwandelten jeden in den siebziger Jahren erfolgten Akt von privater oder beruflicher Stabilität (eine Arbeit behalten, verheiratet bleiben, nicht in eine Nervenklinik eingewiesen werden oder einfach nicht sterben) in Heldentum. Zunächst als Anspielung auf jene »Überlebenden« der »Sixties« missbraucht, die sich mittlerweile im »wirklichen Leben« befanden, enthielt das Wort eine unerbittliche Gleichung: Überleben war das wirkliche Leben.

      Nicht lange, und jeder, dessen materielle oder physische Existenz eindeutig nicht gefährdet war, konnte den Titel eines Überlebenden in Anspruch nehmen, und Überlebender genannt zu werden bedeutete höchstes Lob. Die Idee griff um sich. Andeutungsweise schlichen sich Aggressionen ein: Anzeigen für eine neue Kofferserie, »The Survivor« genannt, ließen keinen Zweifel daran, dass es um das Überleben des Stärksten ging – im Dschungel der neuen Ökonomie war alles andere unwichtig. Die Idee eroberte die Ontologie, und sie überrannte die Moral. »Garp ist ein Überlebender«, schrieb ein Fan von John Irvings Roman Garp und wie er die Welt sah, wohl wissend, dass Irvings Held mit dreiunddreißig erschossen wird. Das war der definitive Sieg der Idee über das Wort: der tote Überlebende.

      Diese Ansicht, die Bruno Bettelheim 1976 einen »völlig sinnentleerten Überlebensbegriff« nannte, laut der »Überleben alles ist, ganz egal wie, warum, wofür«, schlich sich in jeden Diskurs ein. Bettelheim schrieb über die neue philosophische Glorifizierung von »Überleben« im Gegensatz zu dem – sei es auch nur in der Phantasie stattfindenden – Widerstand in den Vernichtungslagern der Nazis; folge man Argumenten, wie sie in Lina Wertmüllers Film Sieben Schönheiten und Terrence Des Pres’ Lagerstudie The Survivor (Der Überlebende) vertreten würden, bemerkte er, sei »nur eins … wirklich wichtig, nämlich Leben in seiner primitivsten, lediglich biologischen Form … wir müssen ›jenseits der kulturellen Zwänge leben‹ und ›gemäß den primitiven Ansprüchen des Körpers‹.« Mit anderen Worten, man musste gemäß der Diktatur der Notwendigkeit leben, nicht jenseits der Kultur, sondern diesseits, und, wie Hannah Arendt einmal schrieb, die Diktate des Körpers waren der Freiheit abträglich: Wenn das Überleben Vorrang hatte, »musste die Freiheit der Dringlichkeit des eigentlichen Lebensprozesses geopfert werden«. 1952 erzählte Albert Camus in Der Mensch in der Revolte eine andere Geschichte …

      In seinem »Sibirischen Tagebuch« erzählt E. E. Dwinger von einem deutschen Leutnant, der seit Jahren als Gefangener in einem Lager lebt, wo Kälte und Hunger herrschen, und sich aus Holzstäbchen ein stummes Klavier gebaut hat. Dort, in dem Berg von Elend, inmitten eines Haufens zerlumpter Menschen, komponierte er eine seltsame Musik, die er allein zu hören vermochte.

       eine Geschichte, so Camus, von einem »sinnvollen Aufstand«. Doch Camus war nicht mehr aktuell, genauso wenig wie Kälte und Hunger oder der »Zustand ständigen Mangels und akuten Elends«, den Hannah Arendt unter »Notwendigkeit« verstand. Die Sprache wendete das Innere nach außen, so dass Kultur zum Zwang wurde, Notwendigkeit ein Luxus, Überleben eine Wohlstandssensibilität, weshalb das Glaubensbekenntnis der Überlebenskunst nicht von Notleidenden am eifrigsten aufgegriffen wurde, sondern von Rockstars. Die neue Ideologie ließ sich von Plattentiteln ablesen: Survivor, Rock and Roll Survivor, »You’re a Survivor«, I Survive, »Soul Survivor«, Street Survivors, Survival, Surviving, »I Will Survive«, und so weiter in einer endlosen Leier; und in beinahe jedem Fall handelte es sich um Produkte von Künstlern, die schon Jahre zuvor in ehrenhaftes Schweigen hätten versinken sollen, sich aber nun berechtigt sahen, ihre Produkte bis in alle Ewigkeit zu verhökern, mehr noch, dieses Verhalten als moralischen Triumph zu feiern, einen Triumph, der jeden Versuch abwertete, Abenteuer und Risiko zu suchen. Eine Garantie, an Langeweile zu sterben, gegen eine Garantie zu tauschen, nicht Hungers zu sterben, war ein gutes Geschäft – das einzige Spiel in der Stadt.

       DA MAN

      ihn inzwischen mit den Leuten identifizierte, die über das nötige Geld und die richtigen Firmen-Connections verfügten, um an die raffiniertesten und ausgefallensten Hilfsmittel zu gelangen, wurde der Rock ’n’ Roll zum alten Hut; eine zeitgenössische Parodie ließ einen Rockstar von seiner Plattenfirma fordern, dass sie die Aufnahme seines nächsten Albums im Weltraum finanzierte, was aber nicht wie eine Parodie wirkte. Rockmusik wurde zu einem x-beliebigen gesellschaftlichen Faktor, wie die Fahrt eines Pendlers oder der Bau einer Autobahn. Er wurde eine Angewohnheit, eine Struktur, unsichtbare Unterdrückung.

      Die Sixties, schon zu ihrer Zeit eine mythische Ära, beruhten auf dem Glauben, da alles wahr sei, sei alles möglich. Unter Rockstars reduzierte sich diese utopische Ideologie in den siebziger Jahren auf einen betuchten Solipsismus. Von dem barfüßigen Solipsismus des Überlebens in Vernichtungslagern aus betrachtet, war sogar eine Widerstandsphantasie – die von Natur aus fast eine Phantasie der Kollektivität, der Solidarität sein musste – utopisch; indem sie auf der Sensibilität des Individuums als Quelle aller Werte bestanden, machten Rockstars Solipsismus zur Utopie. Wie Filmstars hatten sie so viel Geld verdient, dass sie das, was auf der Welt passierte, weder berührte noch interessierte, und ihre Vorträge über ein sorgloses und fast problemfreies Leben sprachen ein breites Publikum an. Veränderung war nicht notwendig; »Veränderung« klang mittlerweile wie ein altmodisches Sechziger-Jahre-Wort. Das in der Gesellschaft generell herrschende Chaos verlangte nach einer beständigen und beruhigenden Musik; in der Pop-Welt stand die Zeit still. Jahrelang, scheinbar jahrzehntelang, konnte man das Radio anstellen und sicher sein, James Taylors »Fire and Rain« zu hören, Led Zeppelins »Stairway to Heaven«, »Behind Blue Eyes« von den Who, Rod Stewarts »Maggie May«. Das ging in Ordnung; es waren gute Songs.

       EINIGE LEUTE

      verloren ihr Interesse an Überraschungen; andere hatten es nie besessen. »Die Leute bezahlen, um zu sehen, wie andere an sich selbst glauben«, schrieb 1983 Kim Gordon von der New Yorker Punk-Band Sonic Youth. »Auf der Bühne, mitten im Rock ’n’ Roll, passiert ’ne Menge, und alles kann passieren, ob die Leute als Voyeure kommen oder um sich dem Augenblick hinzugeben.« Solche Worte wären Mitte der siebziger Jahre nicht geschrieben worden, als die Leute bezahlten, um zu sehen, wie andere glaubten, dass andere an sie glaubten. Wenn damals Konzerte zu Ende waren, standen die Fans auf, zündeten Streichhölzer an und hielten sie hoch: Sie beteten.

      Man