Lipstick Traces. Greil Marcus

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Название Lipstick Traces
Автор произведения Greil Marcus
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783955756208



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      Sex-Pistols-Werbezettel von Jamie Reid, 1977

      »Jetzt ist die Zeit für Publikumsbeteiligung«, sagte Joe Strummer von den Clash Ende 1976 von der Bühne herab. »Ihr erzählt mir jetzt alle, warum ihr hier seid.« Während sie darauf warteten, dass die Sex Pistols im Winterland auf die Bühne kamen, fragten sich vielleicht eine Menge Leute, warum sie da waren … fragten sich, warum sie so wirre und wilde Erwartungen hegten. Von allen in diesem Augenblick codierten Geschichten war wenigstens eine musikalisch; mit allen geheimen Inhalten der Musik verglichen, war diese Story beinahe lautlos, doch ich werde sie als erste erzählen.

       »HAST DU

      die Sex Pistols gesehen?« flüsterte Joe Strummer eines Abends Ende 1976 Graham Parker zu, als gebe er ein so unwahrscheinliches Gerücht weiter, dass er sich nicht traute, lauter zu reden. Sie gehörten der Londoner Pub-Rock-Szene an (Parker eiferte Wilson Pickett und den Temptations nach, Strummers Vorbilder hießen Chuck Berry und Gene Vincent) – ein weiterer vergeblicher Versuch, die bombastische Musik der siebziger Jahre zu den Wurzeln zurückzuführen. »Nein«, antwortete Parker. »Die Sex Pistols?« »Völlig neues Ding, Mann«, sagte Strummer, »völlig neues Ding.«

      Umgehend verließ Strummer seine Rock-Revival-Band und gründete die Clash: »Gestern hielt ich mich für eine Niete«, begründete er später gegenüber Freunden seinen Entschluss. »Dann sah ich die Sex Pistols und wurde zum König.« Eine gute Geschichte, zu gut, um wahr zu sein, doch in der Musik wurde sie wahr, und ganz besonders in der Musik der Slits. Sie waren die erste reine Frauen-Punkband: vier Teenager, die nicht die leiseste Ahnung hatten, wie man irgendetwas machte, außer auf die Bühne klettern und schreien. Sie riefen »Fuck you«, und das hieß: »Warum nicht?« Es war, schrieb Jon Savage viel später, der Sound von Menschen, die ihre eigene Power entdeckten.

       EIGENTLICH

      hinterließen die Slits nichts außer einem vor Sprachlosigkeit brüllenden Gegenstand: eine LP ohne Titel in der unbedruckten Hülle einer Raubpressung. Ich stelle mir gern vor, dass die Platte »Once Upon a Time in a Living Room« heißt, bin mir aber nicht ganz sicher; auf dem Label stehen beliebig hingekritzelte Sätze statt Titel, die Namen der Songs muss man sich aus diversen Vorschlägen auswählen. Nehmen wir »A Boring Life« – sobald die Musik einsetzt, habe ich nie versucht, auch nur ein Wort zu verstehen.

      Eine Slit kichert; eine zweite fragt: »You ready?«, eine andere antwortet: »Ready?«, als würde ihr das nie gelingen, dann gibt die vierte das Kichern zurück wie Alice, als sie in den Kaninchenbau hinabtaucht: »Ah, ah, OH NOOOOO …« Es ist das letzte Geräusch, das man am höchsten Punkt einer Achterbahn hört, und in der folgenden Totenstille hat man Zeit, an Elvis in Sam Phillips’ Sun Studios zu denken, wie er 1955 »Milkcow Blues Boogie« mit einem kleinen einstudierten Vorspann einleitete (»Hold it, fellas! That don’t move me! Let’s get real, real gone for a change!«), nur ist der Slits-Vorspann zu belanglos, um einstudiert zu sein, geschweige denn irgendwohin zu führen, und dann zerbricht die Stille unter kompromisslosem Lärm. Dieses komprimierte Drama – Verlegenheit und Erwartung, Zaudern und Panik, Stille und Lärm – macht den gesamten Punk aus.

      Die Slits waren Ari Up, Sängerin, Palmolive, Drums, Viv Albertine, Gitarre, und Tessa, Bass. Der Rolling Stone Rock Almanac notiert unter dem Datum 11. März 1977: »Die Slits treten zum ersten Mal live auf, als Vorgruppe der Clash im Londoner Roxy … [Sie] haben an dem doppelten Fluch ihres Geschlechts und ihres Stils zu tragen, der das Konzept des aufgeklärten Dilettantismus auf die Spitze treibt … Die Slits reagieren auf den Vorwurf der Unfähigkeit damit, dass sie einzelne Zuhörer zum Musizieren auf die Bühne bitten, während die vier Frauen im Zuschauerraum tanzen.« Dabei fällt einem eine Zeile einer alten jamaikanischen Single ein … aus Prince Busters »Barrister Pardon«, dem letzten Teil seiner Judge-Dread-Trilogie, die von einem Rächer handelt, der aus Äthiopien kam, um die Slums in Kingston von ihren Rude-Boy-Hooligans zu befreien. Auf drei Singles verurteilt er jugendliche Mörder zu Hunderten von Jahren Gefängnis, bringt ihre Anwälte hinter Gitter, wenn sie die Frechheit besitzen, in Berufung zu gehen, lässt jeden im Gerichtssaal in Tränen ausbrechen, lässt alle frei, hopst von der Richterbank und tanzt mit der Menge den Cakewalk: »I am the judge, but I know how to dance.« In »A Boring Life« verhandelten die Slits alle anderen Versionen von Rock ’n’ Roll: »Milkcow Blues Boogie«, »Barrister Pardon«, die minderwertigen offiziellen Platten, die sie selbst herausbrachten, als ihr Moment vorüber war.

      Es war unvergleichlich. Schreien und Kreischen, aus wildem Gitarrengedresche findet die Gruppe einen Beat, schafft einen Rhythmus, beginnt, ihn zu formen; der Rhythmus macht sich selbständig, und die Band jagt ihn, überholt ihn und rast weiter. Quietschen, Kreischen, Knurren und Jaulen – direkte weibliche Geräusche, wie sie die Popmusik noch nie erlebt hatte – brausen durch die Luft, während die Slits Hand in Hand durch ein selbstgeschaffenes Gewitter marschieren. Es ist ein vergnügter, rachsüchtiger Auftritt, ein bis an die Zähne bewaffnetes Kinderlied. Sie gehen keinem musikalischen Wagnis aus dem Weg, und für diese Frauen war schon der einfachste Akkord ein Wagnis: Ihr Dilettantismus war nicht aufgeklärt.

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      Slits-Werbezettel, 1978

      »No more rock ’n’ roll for you / No more rock ’n’ roll for me«, lautet ein betrunkener Seufzer an anderer Stelle auf der Platte, eine Parallele zu dem »No future«-Refrain der Sex Pistols … es sang irgendein nicht genannter Mann, vielleicht der Typ, der das Tonbandgerät bediente, aber damit bestätigten die Slits, dass sie ihre Musik jedenfalls nicht Rock ’n’ Roll nannten. Es war Musik, die ihren Namen ablehnte, womit sie auch ihre Geschichte ablehnte; von diesem Augenblick an wusste keiner mehr, was Rock ’n’ Roll war, so dass unter der Bezeichnung fast alles möglich oder unmöglich wurde: Beliebiger Lärm war Rock ’n’ Roll, die Beatles aber nicht. Von den vergessenen Produktionen einiger weniger Kult-Propheten abgesehen – amerikanischer Ikonen wie Captain Beefheart, Garagenbands der mittsechziger Jahre wie Count Five oder die Shadows of Knight, die Velvet Underground und die Stooges Ende der Sechziger, die New York Dolls sowie Jonathan Richman and the Modern Lovers in den frühen siebziger Jahren, außerdem die Reggae-Stimme des gnostischen Exils –, lehnte Punk sofort die Musik vor ihm ab; Punk verweigerte jedem die Anerkennung, der mal einen Hit gelandet hatte oder spielte, als könne er mit einem Instrument umgehen. Indem Punk eine Tradition zerstörte, begründete er eine neue.

      Selbst in der Rückschau ist es immer noch möglich, diese Version der Rock ’n’ Roll-Story für die ganze Story zu halten – nicht weil die von Punk abgelehnte Musik wertlos war, sondern weil man sich bei dem wenigen, was von der Musik der Slits übrig geblieben ist, vorstellen kann, dass ihr Sound vollständiger und geheimnisvoller herüberkam, als die mit großer Sorgfalt hergestellten Produkte von allen, die vor oder nach ihnen kamen. Ob man »A Boring Life« 1977 hörte, als es aufgenommen wurde, oder zehn Jahre später, es schreibt die Geschichte der Rockmusik um.

       MAN SAGT,

      in den fünfziger Jahren hätten fünfzehntausend schwarze Vokalgruppen Platten aufgenommen. Ich weiß nicht, ob das stimmt; ich staunte nicht schlecht, als ich das erste Mal auf diese Zahl stieß. Punk machte sie glaubwürdig.

      Die Öffentlichkeit hat nur den kleinsten Teil dieser Gruppen wahrgenommen, aber sie alle waren darauf aus, von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden; sie waren auf Ruhm und Geld aus und auf das Gefühl, dass hier, wenn auch nur im Phantasie-Utopia einer Drei-Minuten-Schallplatte, Leute hervortraten, die nie zuvor Grund zu der Annahme hatten, irgendwer könne sich dafür interessieren, wie sie klangen oder was sie zu sagen hatten. Es war eine in der Geschichte der populären Kultur noch nicht dagewesene Stimmenflut, und mit anderen Formen frühen Rock ’n’ Rolls – dem raffinierten Rhythm and Blues von Ray Charles oder Clyde McPhatters Drifters, dem Rockabilly von Elvis, Carl Perkins und Jerry Lee Lewis, den irren Ausbrüchen eines Little Richard, den pfiffigen Teen-Hymnen Chuck Berrys, den Überraschungen